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Pflegestufe; Entziehung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat Entscheidungsdatum 08.09.2011
Aktenzeichen L 27 P 58/09 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 14 SGB 11, § 15 SGB 11, § 48 SGB 10

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. September 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung von Leistungen der Pflegeversicherung an seine 2010 verstorbene Ehefrau zum 1. November 2007.

Der Kläger ist testamentarischer Alleinerbe der 1936 geborenen und bei der Beklagten bis zu ihrem Tode Versicherten, die unter anderem an Adipositas per magna, Claudicatio spinalis, Diabetes mellitus, Depressionen sowie Blasenschwäche litt. Mit Bescheid vom 19. April 2002 gewährte die Beklagte der Versicherten ab 1. April 2002 Pflegegeld der Pflegestufe I. Dem lag ein von der Pflegefachkraft Sch mit Gutachten vom 10. April 2002 ermittelter täglicher Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege von 53 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 45 Minuten zugrunde.

Anlässlich einer von der Beklagten durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) veranlassten Folgebegutachtung stellte die Pflegefachkraft D in ihrem Gutachten vom 28. August 2007 bei Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen der Pflegestufe I einen täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 15 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten fest. Die Gutachterin verwies auf eine gesteigerte Mobilität durch private therapeutische Maßnahmen, wodurch die gesamte Körperpflege eigenständig erledigt werden könne.

Nach einer Anhörung vom 30. August 2007 zu einer beabsichtigten Entziehung der Pflegeleistungen hob die Beklagte mit Bescheid vom 28. September 2007 gestützt auf § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Bewilligung von Pflegegeld zum 1. November 2007 auf. Den dagegen am 15. Oktober 2007 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 2008.

Mit der am 31. Januar 2008 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Versicherte ihr Begehren auf Fortgewährung von Pflegegeld der Stufe I weiterverfolgt. Der Pflegebedarf habe sich seit der Erstbegutachtung im Jahr 2002 nicht verbessert, sondern eher verschlechtert und sei nicht zutreffend eingeschätzt worden.

Das Sozialgericht hat zur Sachaufklärung ein Sachverständigengutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. B eingeholt, die in ihrem Gutachten vom 8. Oktober 2008 bei Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen der Pflegestufe I im Bereich der Grundpflege einen täglichen Hilfebedarf von 7 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung einen Hilfebedarf von mindestens 45 Minuten täglich feststellte. Die Sachverständige Dr. B führte aus, dass die Versicherte glaubhaft angab, dass die Rückenschmerzen im Jahr 2002 noch deutlich ausgeprägter waren und sie seinerzeit tatsächlich umfangreiche Hilfen beim Waschen und Kleiden benötigte. Die regelmäßige Krankengymnastik habe vermutlich die Besserung der Beweglichkeit verursacht. Heute wäscht und kleidet sich die Versicherte weitgehend selbständig, so dass im Bereich der Grundpflege nur noch der festgestellte geringere Hilfebedarf besteht.

Mit Gerichtsbescheid vom 3. September 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Aufhebung des bewilligten Pflegegeldes aufgrund einer wesentlichen Änderung im Hilfebedarf gerechtfertigt sei. Die Versicherte sei nicht mehr pflegebedürftig, weil der Grundpflegebedarf unter Zugrundelegung der Feststellungen der Sachverständigen Dr. B, die die Feststellungen des MDK im Verwaltungsverfahren bestätigt habe, unter 45 Minuten täglich gesunken sei. Angesichts des von der Sachverständigen festgestellten Grundpflegebedarfs von nur noch 7 Minuten könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Versicherte nur deshalb die Voraussetzungen für die Zuordnung in die Pflegstufe I nicht mehr erfülle, da sie ihren Zustand bei der Begutachtung beschönigt habe.

Gegen den am 16. September 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Versicherte am 15. Oktober 2009 unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens Berufung zum Landessozialgericht eingelegt.

Der Senat hat zur weiteren Sachaufklärung diverse Befundberichte eingeholt. Die Beklagte veranlasste daraufhin am 18. Mai 2010 eine erneute Begutachtung durch den MDK. Die Pflegefachkraft K stellte in ihrem Gutachten vom 25. Mai 2010 einen Pflegebedarf der Pflegestufe I fest und legte dem einen ermittelten Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 50 Minuten täglich sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten täglich zugrunde. Dem folgend gewährte die Beklagte der Versicherten ab 1. April 2010 bis zu ihrem Tode am 14. Dezember 2010 Pflegegeld der Pflegestufe I.

Der Ehegatte der verstorbenen Versicherten setzte das Verfahren als Rechtsnachfolger fort.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. September 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 28. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2008 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben, jedoch unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die mit den angefochtenen Bescheiden der Beklagten vom 28. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 2008 erfolgte Entziehung von Pflegeleistungen der Pflegestufe I an die verstorbene Versicherte ist rechtmäßig und verletzt den Kläger, der als Erbe und zudem Sonderrechtsnachfolger gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) das Verfahren zulässigerweise aufnehmen konnte, nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Entziehung der Pflegeleistungen ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Hierbei sind die zum Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden Verhältnisse mit jenem Zustand zu vergleichen, wie er sich zum Zeitpunkt des Erlasses der begünstigenden Leistungsbewilligung darstellte.

Der Leistungen der Pflegestufe I gewährende Bescheid der Beklagten vom 19. April 2002 ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Bei einem Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des Pflegegeld der Stufe I bewilligenden Bescheides vom 19. April 2002 mit denen, die bei Entziehung vorgelegen haben, hält der Senat eine wesentliche Änderung für nachgewiesen.

Nach § 37 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) setzt der Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfe nach der Pflegstufe I unter anderem voraus, dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist und der Pflegestufe zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach § 14 Abs. 1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate in erheblichem oder höheren Maße der Pflege bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtung besteht. Als außergewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder die Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten und die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zubettgehen, das An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung, das Einkaufen, das Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Die Zuordnung zur Pflegestufe I setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, hat hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten zu betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.

Dies zugrunde gelegt steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Versicherte ab 1. November 2007 nicht mehr die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegeleistungen nach der Pflegestufe I erfüllte. Nach einer Gesamtschau aller aktenkundigen Ermittlungen ist es als erwiesen anzusehen, dass zum Zeitpunkt der Entziehung eine wesentliche Veränderung des tatsächlichen Pflegebedarfs insoweit eingetreten ist, als das ein die Pflegestufe I rechtfertigender Pflegebedarf von mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege nicht mehr vorlag. Die Verringerung des Pflegebedarfs beruhte – trotz gleich bleibender Erkrankungen und zunehmenden Alters – auf einer Besserung der Beweglichkeit im Bereich der Wirbelsäule durch den Erfolg einer seit Jahren erfolgenden regelmäßigen Krankengymnastik. Die Versicherte wurde dadurch in die Lage versetzt sich weitgehend selbständig zu kleiden und zu waschen. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. B die in ihrem Gutachten vom 8. Oktober 2008 für den Bereich der Grundpflege einen täglichen Hilfebedarf bei der Körperpflege von 3 Minuten (statt 34 Minuten im April 2002) und bei der Mobilität von 4 Minuten (statt 19 Minuten im April 2002) ermittelte und damit im Ergebnis die Feststellungen der, der streitgegenständlichen Entziehung zugrunde liegenden MDK-Begut-achtung durch die Pflegefachkraft D im August 2007 von täglich 14 Minuten Hilfe bei der Körperpflege und 1 Minute im Bereich Mobilität bestätigt hat. Der entsprechend den Feststellungen der Pflegefachkraft Sch ursprüngliche Hilfebedarf für den Bereich der Grundpflege von täglich 53 Minuten im April 2002 hat sich danach zum Zeitpunkt der Entziehung erheblich mit der Folge verringert, dass die für die Zuordnung der Pflegestufe I erforderlichen mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege nicht mehr vorlagen.

Zwar ist die Begutachtung durch die gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. B erst im Oktober 2008 und mithin etwa ein Jahr nach der Entziehung erfolgt, jedoch wird weder vom Kläger geltend gemacht noch ist nach Aktenlage davon auszugehen, dass sich der Pflegebedarf der Versicherten nach der Entziehung bis zur Begutachtung durch die Sachverständige Dr. B im Oktober 2008 gebessert hat. Ausweislich des aktenkundigen Attestes des Facharztes für Allgemeinmedizin Sch vom 11. November 2009 ist vielmehr seit 2008 eine erhebliche Verschlechterung des Allgemeinzustandes der Versicherten eingetreten. Unabhängig davon, dass der Facharzt Sch keine konkrete monatliche Einordnung vorgenommen hat, ergibt sich aus dem Attest, dass eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der Versicherten jedenfalls erst nach der Entziehung erfolgt ist. Überdies hat die Sachverständige Dr. B die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Pflegestufe I bei der Begutachtung im Oktober 2008 aber auch verneint.

Das Sozialgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dass angesichts des von der Sachverständigen Dr. B in Übereinstimmung mit der Pflegefachkraft D festgestellten relativ geringen Hilfebedarfs im Bereich der Grundpflege von täglich 7 bzw. 15 Minuten selbst bei Unterstellung eines von der Versicherten bei den Begutachtungen unzureichend deutlich gemachten Hilfebedarfs, jedenfalls nicht davon auszugehen ist, dass im Zeitpunkt der Entziehung noch der für die Pflegestufe I erforderliche Hilfebedarf mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege vorlag.

Da es bei der streitgegenständlichen Entziehung maßgeblich auf einen Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt der Bewilligung mit denen zum Zeitpunkt der Entziehung ankommt und beide Zeitpunkte inzwischen Jahre zurückliegen und die Versicherte überdies auch verstorben ist, sah sich der Senat zu weiteren Ermittlungen nicht veranlasst. Der Sachverhalt ist vielmehr zur Überzeugung des Senats durch das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten der Sachverständigen Dr. B hinreichend geklärt.

Das die Beklagte der Versicherten infolge eines verschlechterten Gesundheitszustandes seit 1. April 2010 bis zu ihrem Tode erneut Pflegegeld der Stufe I gewährt hat, ist für die vorliegend allein streitgegenständliche Entziehung unerheblich. In der hiesigen Anfechtungskonstellation sind - wie bereits ausgeführt - die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entziehung maßgeblich. Spätere Änderungen bleiben außer Betracht. Vor diesem Hintergrund bedurfte es keiner Prüfung, ob die Voraussetzungen für die erneute Zuerkennung der Pflegestufe I ggf. schon vor dem 1. April 2010 vorgelegen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst. Das Verfahren ist gemäß § 183 Satz 1 SGG auch für den Kläger als Sonderrechtsnachfolger gemäß § 56 SGB I gerichtskostenfrei.

Die Revision war mangels Vorliegen der Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen.