Gericht | FG Cottbus 8. Senat | Entscheidungsdatum | 11.07.2023 | |
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Aktenzeichen | 8 K 8048/22 | ECLI | ECLI:DE:FGBEBB:2023:0711.8K8048.22.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Der Nachforderungsbescheid über Kapitalertragsteuer für 2007 und 2008 vom 22. Dezember 2020 und die Einspruchsentscheidung vom 16. Februar 2022 werden aufgehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Beteiligten streiten um die Nachforderung von Kapitalertragsteuer für 2007 und 2008 durch den Beklagten im Wege eines Nachforderungsbescheids, nachdem der Beklagte einen zuvor erlassenen Haftungsbescheid aufgehoben hatte.
Der Kläger ist ein gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 5 Körperschaftsteuergesetz -KStG- von der Körperschaftsteuer befreiter Berufsverband. Er unterhält neben dem steuerbefreiten Bereich einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, aus dem er in den Streitjahren (2007 und 2008) einen Gewinn in Höhe von 38.620,12 € bzw. 8.880,65 € erzielte. Zum 31. Dezember 2006 war für den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ein verbleibender Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer in Höhe von 396.341 € gesondert festgestellt worden. Nach Verrechnung mit den Verlusten der jeweiligen Vorjahre wurde die Körperschaftsteuer für die Streitjahre auf jeweils 0 € festgesetzt. Der Bestand des steuerlichen Einlagekontos gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 KStG wurde zum 31.12. der Streitjahre auf jeweils 0 € gesondert festgestellt.
Der Kläger reichte nach Aufforderung durch den Beklagten am 23. April 2010 Kapitalertragsteueranmeldungen für die Streitjahre ein, in denen er Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b Einkommensteuergesetz -EStG- (in der für die Streitjahre geltenden Fassung) in Höhe von jeweils 0 € anmeldete. Am 08. März 2012 erließ der Beklagte einen Haftungsbescheid, mit dem er den Kläger gemäß § 191 Abs. 1 Abgabenordnung -AO- wegen nicht abgeführter Kapitalertragsteuer in Höhe von 3.862 € (2007) bzw. 888 € (2008) nebst Solidaritätszuschlag in Anspruch nahm. Die in den Streitjahren erzielten Gewinne seien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. b i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7c und § 43a Abs. 1 Nr. 6 EStG einer 10%-igen Kapitalertragsteuer zu unterwerfen, da die Gewinne nicht einer gesonderten, betrieblich notwendigen Gewinnrücklage zugeführt worden seien. Die Inanspruchnahme im Wege der Haftung richte sich gegen den Kläger als Abzugsverpflichteten, da er der Verpflichtung zur Einbehaltung, Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer nicht nachgekommen sei.
Der Kläger erhob nach erfolglosem Einspruch Klage, die der Senat mit Urteil vom 22. November 2017 (8 K 4148/13) abwies. Auf die vom Senat zugelassene Revision, legte der Kläger fristgerecht Revision ein.
Am 22. Dezember 2020 hob der Beklagte den Haftungsbescheid vom 08. März 2012 auf und erließ zugleich einen auf § 167 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG gestützten Nachforderungsbescheid gegenüber dem Kläger. Der Kläger legte am 18. Januar 2021 Einspruch gegen den Nachforderungsbescheid ein. Zur Begründung machte er unter anderem den Eintritt der Festsetzungsverjährung für die nachgeforderte Steuer geltend.
Der Kläger erklärte daraufhin zudem das Revisionsverfahren wegen des Haftungsbescheids in der Hauptsache für erledigt. Der Beklagte widersprach der Erledigungserklärung ausdrücklich. Im Revisionsverfahren machte der Kläger hierzu geltend, dass der Nachforderungsbescheid vom 22. Dezember 2020 nicht gemäß § 68 Satz 1 Finanzgerichtsordnung -FGO- Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden sei. Der Haftungsbescheid vom 08. März 2012 und der Nachforderungsbescheid vom 22. Dezember 2020 gehörten unterschiedlichen Kategorien an. Der Haftungsbescheid sei kein Steuerbescheid, da der Haftungsschuldner für eine fremde Steuerschuld in Anspruch genommen werde. Demgegenüber richte sich der Nachforderungsbescheid an ihn, den Kläger, erstmals in seiner Eigenschaft als Steuerschuldner. Der Beklagte war hingegen der Auffassung, dass der Nachforderungsbescheid gemäß § 68 Satz 1 FGO an die Stelle des aufgehobenen Haftungsbescheids getreten und das Revisionsverfahren insoweit fortzuführen sei.
Mit Urteil vom 25. März 2021 (VIII R 1/18, Bundessteuerblatt -BStBl.- II 2021, 655) stellte der Bundesfinanzhof -BFH- fest, dass sich der Rechtsstreit in der Hauptsache (Revisionsverfahren) erledigt hatte. Das Urteil des Senats vom 22. November 2017 (8 K 4148/13) erklärte der BFH für gegenstandslos. Nach den Gründen des BFH hatte sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, weil der dem angefochtenen Urteil zugrundeliegende Haftungsbescheid vom 08. März 2012 während des Revisionsverfahrens aufgehoben wurde und der an seiner Stelle erlassene Nachforderungsbescheid vom 22. Dezember 2020 nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden war.
Mit Einspruchsentscheidung vom 16. Februar 2022 wies der Beklagte den Einspruch des Klägers gegen den Nachforderungsbescheid über Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 vom 22. Dezember 2020 als unbegründet zurück.
Die Festsetzungsfrist für einen Steuerbescheid laufe solange nicht ab, bevor über einen Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden sei. Dabei sei der Ablauf der Festsetzungsfrist hinsichtlich des gesamten Steueranspruchs gehemmt. Vorliegend sei wegen Haftung ein Revisionsverfahren für 2007 und 2008 geführt worden. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde am 22. Dezember 2020 der hier angefochtene Nachforderungsbescheid erlassen und der Haftungsbescheid mit gleichem Datum nach § 130 AO aufgehoben. Über das Revisionsverfahren habe der BFH mit Urteil vom 25. März 2021 entschieden; damit erst nach Ergehen des Nachforderungsbescheids. Die Festsetzungsfrist für Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 sei demnach gemäß § 171 Abs. 3a AO erst am 25. März 2021 abgelaufen, so dass über den Kapitalertragsteueranspruch 2007 und 2008, der zunächst rechtsirrig mittels Haftungsbescheid geltend gemacht worden sei, im Zeitpunkt des Erlasses des Nachforderungsbescheids von Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 noch nicht unanfechtbar entschieden worden sei. Der Nachforderungsbescheid sei demnach vor Eintritt der Festsetzungsverjährung erlassen worden. Das gelte auch dann, wenn der Steueranspruch zuerst durch einen formell inkorrekten Haftungsbescheid erhoben und der formell korrekte Nachforderungsbescheid vor Aufhebung des Haftungsbescheids erlassen wurde. Der Beklagte verweist ausdrücklich auf die Entscheidung BFH VI R 47/93.
Inhaltlich führt er aus, dass soweit ein Gewinn nicht den Rücklagen zugeführt worden ist, er nach § 20 Abs. 1 Nr. 10b EStG als zum Schluss des Wirtschaftsjahres an die Trägerkörperschaft abgeführt gelte und Leistungen des nämlichen Wirtschaftsjahrs vorliegen. Werden Rücklagen zu Zwecken außerhalb des BgAs aufgelöst, liege ebenfalls eine Leistung iSd § 27 Abs. 1 Satz 3 KStG im Zeitpunkt der Rücklagenauflösung vor. Sie könnten aber nur dann als Einlagenrückgewähr behandelt werden, wenn die Leistung bis zum Tag der Bekanntgabe der erstmaligen gesonderten Feststellung des steuerlichen Einlagekontos entsprechend bescheinigt wurde. Sei für diese Leistung keine Steuerbescheinigung erteilt worden, gelte der Betrag der Einlagenrückgewähr als mit 0 € bescheinigt. Das gelte sowohl für Kapitalgesellschaften als auch für wirtschaftliche Geschäftsbetriebe steuerbefreiter Körperschaften. Ausweislich der vorliegenden Gewinnermittlungen seien diese Gewinne auch nicht den Rücklagen der wirtschaftlichen Geschäftsbetriebe zugeführt worden, denn dort wurden nur Rücklagen zur Förderung von Fortbildungsveranstaltungen und Sozialaufgaben, für das Zahnärztemuseum und zur Substanzerhaltung erklärt, die nicht zu den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben des Klägers gehören. Diese Gewinne könnten auch nicht den positiven Bestand des steuerlichen Einlagekontos mindern, da zum 31. Dezember 2006 kein positiver Bestand festgestellt worden sei. Die Leistungen könnten auch nicht als steuerfreie Einlagenrückgewähr iSv § 27 Abs. 1 S. 3 KStG behandelt werden, da der Kläger vor der erstmaligen Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum 31. Dezember 2007 bzw. 31. Dezember 2008 keine entsprechende Steuerbescheinigung nach amtlich vorgeschriebenen Muster ausgestellt und dem Finanzamt vorgelegt habe.
Der Kläger hat hiergegen fristgerecht Klage erhoben.
Der auf Grund Wegfalls der Haftungsbescheide ergangene Nachforderungsbescheid betreffend die Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 seien rechtswidrig, da die Festsetzungsfristen abgelaufen seien. Eine Ablaufhemmung nach § 171 AO komme nicht zum Tragen, insbesondere die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO sei nicht einschlägig, da hierfür ein wirksamer vorangegangener Bescheid vorliegen müsste. Mit den ergangenen und nun aufgehobenen Haftungsbescheiden sei der Kläger zum Einstehen für eine fremde Steuerschuld in Anspruch genommen worden. Der Kläger sei aber selbst Steuerschuldner für seinen steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb. Die Haftungsbescheide hätten dementsprechend – wie auch die Aufhebung bestätige – keine Rechtswirkung entfalten können. Auch gelte die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO nicht, da der ergangene Nachforderungsbescheid kein Haftungsbescheid sei. Es handele sich um eine andere Kategorie von Verwaltungsakten. Dies decke sich auch mit dem Ausgang des vorangegangenen Revisionsverfahrens (Az. VII R 1/18), in dem der BFH klargestellt habe, dass der Nachforderungsbescheid nicht anstelle des Haftungsbescheides trete und somit nicht zum Gegenstand des Revisionsverfahrens werden könne.
Das vom Beklagten angeführte Urteil aus dem Jahr 1994 (Az. VI R 47/93) sei zur Lohnsteuer ergangen. Hier sei das Ergehen eines Haftungsbescheids und eines Nachforderungsbescheids für ein und denselben Steuerpflichtigen als Arbeitgeber denkbar. Bei der Kapitalertragsteuer sei für einen Berufsverband hinsichtlich seines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs kein Haftungsbescheid vorgesehen. Unter diesem Gesichtspunkt sei diese Rechtsprechung auf den Streitfall nicht übertragbar.
In der Sache macht der Kläger geltend, dass er bei einer Inanspruchnahme gegenüber einer Kapitalgesellschaft ungerechtfertigt benachteiligt werde, weil bei ihm frühere Verluste (bis 2001) nicht als Einlagen angesehen würden. Damit führe das unterschiedliche Vorgehen – Außerachtlassung der körperschaftsteuerlichen Verluste der Vorjahre – zu einer Besteuerung fiktiver Ausschüttungen aus dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, auch wenn feststehe, dass per Saldo über die Jahre gar kein auskehrbarer Überschuss erzielt worden sei. Der eigentliche Sinn und Zweck der Einführung der Besteuerung der fiktiven Ausschüttung aus dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb mit § 20 Nr. 10 Buchstabe b EStG sei die steuerliche Gleichbehandlung mit anderen Körperschaften, die Ausschüttungen an ihre Anteilseigner vornehmen. Dies werde im vorliegenden Fall nicht erreicht. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift müsse die Vorschrift entsprechend reduziert angewandt werden. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Auswirkung eines steuerrechtlich festgestellten Verlustvortrags sei nicht zum wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ergangen. Wenn man nun die Übertragung der Rechtsprechung zum Betrieb gewerblicher Art auf den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb mit der steuerlichen Gleichbehandlung aller Kapitalgesellschaften, die unter § 20 Nr. 10 Buchstabe b EStG fallen, mit den übrigen Kapitalgesellschaften in § 1 Abs. 1 KStG begründe, werde diese Gleichbehandlung durch konkrete Anwendung der Vorschrift im Klagefall nicht erreicht. Klarstellend sei auszuführen, dass nicht auf das konkrete Entstehen eines handelsrechtlichen Verlustvortrags abgestellt werde. Auch werde nicht bestritten, dass es möglich sei, eine Ausschüttung vorzunehmen, obwohl ein steuerrechtlich festgestellter Verlustvortrag existiere. Im vorliegenden Fall handele es sich jedoch um eine Rückzahlung vorher zum Verlustausgleich geleisteter Einlagen. Diese Ungleichbehandlung könne nur dadurch vermieden werden, dass die aufgelaufenen Verluste von den fiktiven Ausschüttungsbeträgen abgezogen würden. Eine entsprechende Verwendung des Einlagekontos – wie es bei den normalen Kapitalgesellschaften bei dem in der Revisionsbegründung dargelegten Vergleichsfall möglich sei – könne nicht erfolgen, da bei Körperschaften, die erstmals zur Führung eines steuerlichen Einlagekontos verpflichtet worden seien, von einem Anfangsbestand des steuerlichen Einlagekontos von 0 € auszugehen war.
Der Kläger beantragt,
1. den Nachforderungsbescheid zur Kapitalertragsteuer 2007 und 2008 vom 22. Dezember 2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16. Februar 2022 ersatzlos aufzuheben,
2. dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,
3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären,
4. das Urteil wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären,
5. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich auf seine Einspruchsentscheidung vom 16. Februar 2022. Die Festsetzungsfrist für den Erlass des Nachforderungsbescheids über Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag für 2007 und 2008 vom 22. Dezember 2020 sei gem. § 171 Abs. 3a Satz 1 und 2 AO noch nicht abgelaufen, da über den Steueranspruch „Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag für 2007 und 2008“ zu diesem Zeitpunkt noch ein Revisionsverfahren anhängig gewesen sei. Über dieses Verfahren sei erst am 25. März 2021 und damit nach Ergehen des Nachforderungsbescheides entschieden worden. Die Beklagtenvertreterin hat in der mündlichen Verhandlung verdeutlicht, dass der Beklagte davon ausgehe, dass § 171 Abs. 3a AO wegen dessen Satz 2 den gesamten materiellen Steueranspruch erfasse.
Nach dem BFH-Urteil vom 23. Januar 2008 (I R 18/07) gelten Verluste, die ein als Regiebetrieb geführter Betrieb gewerblicher Art erzielt, im Verlustjahr als durch die Trägerkörperschaft ausgeglichen und führen zu einem Zugang in entsprechender Höhe im steuerlichen Einlagekonto, da bei einem Regiebetrieb, als rechtlich unselbständige Einheit der Trägerkörperschaft, die Einnahmen unmittelbar in den Haushalt der Trägerkörperschaft fließen und die Ausgaben unmittelbar aus dem Haushalt der Trägerkörperschaft bestritten werden. Dieser für diesen Betrieb festgestellte steuerrechtliche Verlustvortrag sei jedoch nicht mit den Einkünften der Trägerkörperschaft aus Kapitalvermögen zu verrechnen, denn Bezugsgröße für die Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen der Trägerkörperschaft ist der vom Betrieb gewerblicher Art erzielte Gewinn. Diese Entscheidung des BFH gelte auch für wirtschaftliche Geschäftsbetriebe. Einlagen im zeitlichen Anwendungsbereich des Anrechnungsverfahren würden nicht das steuerliche Einlagekonto beeinflussen. Mangels gegliederten Eigenkapitals und nicht mehr Feststellbarkeit, ob vorhandenes Eigenkapital aus Einlagen oder Gewinnrücklagen gespeist wurde, sei der Anfangsbestand des Einlagekontos mit 0 € zu bemessen gewesen. Die Feststellung für den Kläger vom 26. November 2004 sei auch bestandskräftig; eine Änderung scheide aus. Dass Kapitalgesellschaften anders behandelt werden, liege darin begründet, dass diese bereits unter Geltung des Anrechnungsverfahrens zwischen Gewinnausschüttungen und Einlagenrückgewähr unterscheiden mussten. In den Jahren 2002 bis 2006 habe der Kläger nur Gewinne erzielt, mithin seien keine Einlagen geleistet worden. Damit sei auch der Bestand des steuerlichen Einlagekontos zum 31. Dezember 2006 zutreffend mit 0 € festgestellt worden.
Die zulässige Klage ist begründet.
I. Der angefochtene Nachforderungsbescheid über Kapitalertragsteuer für 2007 und 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 FGO). Der Bescheid konnte am 22. Dezember 2020 wegen Festsetzungsverjährung nicht mehr ergehen. Der Steueranspruch des Beklagten war bereits erloschen.
1. Ist eine Steuer aufgrund gesetzlicher Verpflichtung anzumelden (§ 150 Abs. 1 Satz 3 AO), so ist gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 AO eine Festsetzung der Steuer nach § 155 AO nur erforderlich, wenn die Festsetzung zu einer abweichenden Steuer führt (1. Alt.) oder der Steuer- oder Haftungsschuldner die Steueranmeldung nicht abgibt (2. Alt.). § 167 Abs. 1 Satz 1 AO begründet in der Auslegung durch die Rechtsprechung grundsätzlich ein Wahlrecht für die Finanzbehörde, den Haftungsschuldner entweder durch Haftungsbescheid oder durch Steuerbescheid in Anspruch zu nehmen, wenn dieser seine Anmeldepflicht nicht erfüllt hat. Der Erlass eines Nachforderungsbescheids ändert allerdings nichts daran, dass durch diesen materiell-rechtlich ein Haftungsanspruch geltend gemacht wird (BFH, Urteil vom 19. Dezember 2012, I R 80/11, juris; BFH, Urteil vom 21. September 2017, VIII R 59/14, BStBl. II 2018, 163; jeweils m.w.N.). Die Steuerfestsetzung nach § 167 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 155 AO erfasst damit denjenigen, der die Steuer als Entrichtungssteuerschuldner nicht angemeldet hat, gerade in seiner Funktion als Haftungsschuldner. Das hat zur Folge, dass die tatbestandlichen Erfordernisse der materiell-rechtlichen Haftungsnorm zu beachten sind. Wegen der Akzessorietät des Haftungsanspruchs ist hierfür im Regelfall weiter erforderlich, dass auch die Steuerschuld, für die gehaftet werden soll, entstanden ist und noch besteht. Ist der Steueranspruch durch Verjährung erloschen (§ 47 AO), kann ein Haftungsanspruch nicht mehr geltend gemacht werden (BFH, Urteil vom 13. Dezember 2011, II R 52/09, Sammlung der amtlich nicht veröffentlichten Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2012, 695).
2. Der Beklagte hatte sich im Streitfall zunächst entscheiden, einen Haftungsbescheid zu erlassen, den er aber – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – unter dem 22. Dezember 2020 aufgehoben hatte.
3. Für den ebenfalls erstmals am 22. Dezember 2020 erlassenen Nachforderungsbescheid über die nämlichen Steuerbeträge war aber in diesem Zeitpunkt bereits Festsetzungsverjährung eingetreten, sodass entsprechend § 169 Abs. 1 Satz 1 AO die Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig war.
a) Die für die Steueranmeldung geltende vierjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO war bereits seit dem 31. Dezember 2014 verstrichen, denn die Festsetzungsfrist für die Jahre 2007 und 2008 begann spätestens (dazu unter c) aufgrund der Einreichung der Steueranmeldungen über Kapitalertragsteuer durch den Kläger im Jahr 2010 am 31. Dezember 2010 und endete gem. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des 31. Dezember 2014.
b) Entgegen der Ansicht des Beklagten war der Ablauf der Festsetzungsfrist nicht nach § 171 Abs. 3a Satz 1 und 2 AO gehemmt. Danach läuft die Festsetzungsfrist nicht ab, bevor über den gegen einen Steuerbescheid eingelegten Rechtsbehelf (Einspruch oder Klage) unanfechtbar entschieden ist, wobei nach Satz 2 1. Halbsatz der Norm der Ablauf der Festsetzungsfrist hinsichtlich des gesamten Steueranspruchs gehemmt ist.
Zunächst betraf der vorherige Rechtsstreit einen Haftungs- und keinen Steuerbescheid. Ungeachtet der Reichweite des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO greift § 171 Abs. 3a AO nicht. Zwar hatte der BFH zu § 171 Abs. 3 Satz 3 AO (a.F.) entschieden, dass das Finanzamt den Eintritt der Festsetzungsverjährung vor Geltendmachung eines Steueranspruchs dadurch vermeiden kann, dass es einen formell inkorrekten Haftungsbescheid nach Ablauf der regulären Festsetzungsfrist erst aufhebt, nachdem es zuvor einen formell korrekten Pauschalierungsbescheid erlassen hat (vgl. BFH, Urteil vom 06. Mai 1994, VI R 47/93, BStBl. II 1994, 715). Diese Entscheidung ist jedoch in Bezug auf Lohnsteuer für die vom selben Rechtsträger aufgrund desselben Lebenssachverhalts für Rechnung derselben Arbeitnehmer ergangen und daher nach Überzeugung des Senats zumindest nicht uneingeschränkt auf den vorliegenden Sachverhalt übertragbar; im vorliegenden Verfahren geht es vielmehr um einen Nachforderungsbescheid nach § 44 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 EStG, der sich an die Körperschaft als Gläubigerin der Kapitalerträge richtet, während der Haftungsbescheid auf die Inanspruchnahme des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs als Schuldner der Kapitalerträge abzielte (vgl. die Entscheidung zur Erledigung des vorher anhängigen Rechtsstreits, BFH, Beschluss vom 25. März 2021, VIII R 1/18, BStBl. II 2021, 655).
Zu letzterer Konstellation hat der BFH zwar entschieden, dass ein solcher im Nachgang erlassener Nachforderungsbescheid nicht nach § 68 Satz 1 FGO (i.V.m. § 121 FGO) an die Stelle des zuvor erlassenen und mit Erlass des Nachforderungsbescheides aufgehobenen Haftungsbescheids tritt (BFH, a.a.O., Rn. 16). Damit hat der BFH jedoch nach dem Verständnis des Senats noch keine Entscheidung darüber getroffen, ob der nicht verfahrensgegenständlich gewordener Nachforderungsbescheid die Festsetzungsfrist gewahrt hat.
Dies liegt nach Auffassung des Gerichts nicht vor, denn die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO betraf nicht den materiell-rechtlichen Anspruch, den der Beklagte nunmehr durch Nachforderungsbescheid geltend gemacht hat. Dies folgt aber nicht aus dem Umstand, dass der Nachforderungsbescheid nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens nach § 68 FGO geworden ist. Die Normen des § 121 FGO i.V.m. § 68 FGO und § 171 Abs. 3a Satz 1 AO dienen unterschiedlichen Zwecken. Während § 68 FGO verfahrensökonomischen Zwecken dient, soll § 171 Abs. 3a Satz 1 AO den Eintritt des Rechtsfriedens durch Ablauf der Festsetzungsfrist in Fällen der Festsetzungsverjährung hinausschieben, in denen auch aus Sicht der Beteiligten der Streit noch schwebt; bloßer Zeitablauf soll nicht für sich genommen begünstigen.
Hiernach hat § 68 FGO einen weiteren Anwendungsbereich, denn hierfür muss zwischen beiden Bescheiden ein sachlicher Zusammenhang bestehen, der neue Bescheid muss keine materiell-rechtlichen Änderungen bewirken, aber doch „dieselbe Steuersache“, betreffen. Dies ist regelmäßig schon dann der Fall, wenn es sich hinsichtlich beider Verwaltungsakte um dieselben Beteiligten und denselben Besteuerungsgegenstand handelt. Das bedeutet, dass eine Auswechslung des Verfahrensgegenstands immer auch dann stattfindet, wenn die beiden Verwaltungsakte einen nur teilweise identischen Regelungsbereich haben (vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 68 FGO Rn. 41 f.).
Nach dem Wortlaut von § 171 Abs. 3a Satz 1 FGO kommt es jedoch für den Eintritt der Ablaufhemmung nicht auf den durch einen Bescheid verfolgten materiell-rechtlich bestehenden Steueranspruch an, sondern bloß auf die Anfechtung eines „Steuerbescheides“ mit dem Einspruch oder der Klage. Satz 2 bezieht sich insoweit auf Satz 1 und erfasst mit der Anordnung der Hemmung „hinsichtlich des gesamten Steueranspruchs“ nach einer Ansicht den Fall des inhaltlich beschränkten Rechtsbehelfs (vgl. hierzu Paetsch in Gosch, § 171 AO, Rn. 4). Satz 2 weitet jedoch nach der inneren Normsystematik nicht die Anordnung von Satz 1 vom Steuerbescheid auf den potenziell wesentlich weiter gefassten gesamten materiell-rechtlichen Steueranspruch derselben Beteiligten aus. Soweit Satz 2 die Hemmung aufgrund eines Rechtsbehelfs hinsichtlich des gesamten Steueranspruchs hemmt, soll dies nach dem Normzweck nach anderer Ansicht nur gewährleisten, dass das Finanzamt innerhalb eines Einspruchsverfahrens den angegriffenen Ausgangsbescheid zum Nachteil des Steuerpflichtigen ändern (Gercke in Koenig, 4. Aufl. 2021, § 171 AO Rn. 55) und das Finanzgericht eine sog. Fehlersaldierung vornehmen kann. Für diesen alleinigen Zweck spricht auch die Entstehungsgeschichte der Norm des § 171 Abs. 3a AO in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes vom 22. Dezember 1999 (Bundesgesetzblatt -BGBl.- I 1999, 2601), wonach der Finanzbehörde allein die verjährungsrechtlichen Voraussetzungen an die Hand gegeben werden sollten, um eine Verböserung eines Steuerbescheids innerhalb eines Rechtsbehelfsverfahrens vorzunehmen (Bundesrat-Drucksache 475/99, S. 93). Dass mit Satz 2 eine gegenüber § 171 Abs. 3a Satz 1 AO weitergehende Anordnung durch die Hemmung des gesamten Steueranspruchs getroffen werden sollte, ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Nicht erfasst ist daher von der Regelung des Satzes 2 die Klärung von Teilfragen des materiell-rechtlich zugrundeliegenden Steueranspruchs in einem anderen – auch gegen denselben Rechtsträger – gerichteten Verfahren; vielmehr kommt es auf eine von Satz 1 der Norm vorgegebene formale Betrachtungsweise in Bezug auf einen Steuerbescheid an. Andernfalls hätte der Gesetzgeber nicht den Begriff des „Steuerbescheids“ i.S. von § 155 Abs. 1 Satz 2 AO, sondern den der „Steuer“ gewählt.
Wenn damit nach Auffassung des Gerichts § 171 Abs. 3a Satz 1 AO zumindest eine teilweise formelle Identität erfordert und § 68 FGO grundsätzlich weit auszulegen ist, der BFH im Streitfall aber bereits nicht den Anwendungsbereich des § 68 FGO für eröffnet hält, besteht auch kein Raum zur Annahme einer Ablaufhemmung. Dies gilt insbesondere vor den Ausführungen des BFH, wonach sich trotz Identität der rechtlichen Adressatin (Körperschaft) eine Unterscheidung ergeben soll. Dem steht auch nicht das anerkannte Formwahlrecht des § 167 Abs. 1 Satz 1 AO entgegen, weil sich der Beklagte gerade nicht auf eine Rechtsgrundlage für einen Haftungsbescheid nach § 44 EStG stützen konnte. Für einen Gleichlauf der Vorschriften würde nur sprechen, dass mit dem Steuerbescheid (§ 171 AO) gem. § 155 Abs. 1 Satz 2 AO der bekannt gegebene Verwaltungsakt gemeint ist und § 68 Satz 1 FGO auf Verwaltungsakte abstellt. Umgekehrt ist das Gericht der Auffassung, dass es Sache des Finanzamts ist, den materiell-rechtlichen Steueranspruch durch den zutreffenden Steuerbescheid festzusetzen und der Verwirklichung (§ 218 AO) zuzuführen. Entscheidet sich das Finanzamt für eine Form, die gesetzlich ausgeschlossen ist (hier: keine entsprechende Anwendung von § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG i.V.m. § 44 Abs. 6 Satz 4 EStG im Fall der fingierten Steuerschuldnerschaft des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs), fällt das in die Risikosphäre des Finanzamts. Insoweit ist auch die Zielrichtung der Vorschriften zu berücksichtigen, denn den Steuerpflichtigen schützt § 68 FGO in einer weiten Auslegung, § 171 Abs. 3a AO hingegen in einer engen Auslegung.
c) Es kommt auch keine weitergehende Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 15 AO in Betracht. Hiernach endet die Festsetzungsfrist gegenüber dem Steuerschuldner nicht vor Ablauf der gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen geltenden Festsetzungsfrist, soweit ein Dritter Steuern für Rechnung des Steuerschuldners einzubehalten und abzuführen oder für Rechnung des Steuerschuldners zu entrichten hat. Die Regelung ist durch Art. 11 Nr. 18 des Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 26. Juni 2013 (BGBl. I 2013, 1809) eingefügt worden. Ausweislich dem ebenfalls eingefügten Art. 97 § 10 Abs. 11 EGAO galt § 171 Abs. 15 AO für alle am 30. Juni 2013 noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen. Dies war hinsichtlich der Festsetzungsfrist der – ursprünglich zu 0 € – angemeldeten Kapitalertragsteuer zumindest teilweise der Fall.
Die Konstellation des Streitfalls führt aber nicht zu einer weitergehenden Ablaufhemmung über den 31. Dezember 2014 hinaus. § 44 Abs. 6 Satz 1 EStG fingiert für den Streitfall die von der Körperschaftsteuer befreite Körperschaft als Gläubiger und den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als Schuldner der Kapitalerträge. Entrichtungsschuldner ist damit der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb und Steuerschuldner der Kläger als Träger des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs. Der Beklagte hat mit dem Bescheid vom 22. Dezember 2020 (Blatt 31 der Gerichtsakte) aber den Kläger ausdrücklich als Entrichtungsschuldner in Anspruch genommen („Dieser Nachforderungsbescheid ergeht an Sie als Vertreter/Empfangsbevollmächtigten des Entrichtungsschuldners“). Diese Formulierung ist auch nicht der Auslegung zugänglich, dass damit der Kläger als Steuerschuldner in Anspruch genommen werden sollte. Wird aber der Entrichtungsschuldner in Anspruch genommen, greift die Ablaufhemmung – die nur hinsichtlich des Steuerschuldners gilt – für den Streitfall nicht ein.
4. Nachdem der Beklagte die Festsetzungsfrist nicht gewahrt hat, kommt es nicht darauf an, ob der Bescheid auch aus anderen Gründen rechtswidrig ist.
II. Das Gericht hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen.
III. Die Kosten des Verfahrens waren dem Beklagten gem. § 135 FGO aufzuerlegen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis folgen aus §§ 151, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 1, 711 Zivilprozessordnung.