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Keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Abschiebungsandrohung als asylrechtliche Rückehrentscheidung i.S.d. Art. 3 Nr. 4 Rückführungsrichtlinie, Berücksichtigung familiärer Bindungen bei asylrechtlicher Rückkehrentscheidung, Aufenthaltsgestattung des Familienangehörigen nach § 55 AsylG


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat Entscheidungsdatum 23.01.2025
Aktenzeichen OVG 12 N 23/24 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2025:0123.OVG12N23.24.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen Art 5 Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) , § 34 Abs 1 AsylG , § 55 Abs 1 AsylG , § 77 Abs 1 Satz 1 AsylG , § 78 Abs 3 Nr 1 AsylG , § 59 Abs 3 AufenthG

Leitsatz

Die Frage, ob bei der Entscheidung über eine Abschiebungsandrohung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, familiäre Bindungen auch dann entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Familienmitglieds im Bundesgebiet (bisher) lediglich gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu bejahen; dem hat der Gesetzgeber durch den Erlass des Rückführungsverbesserungsgesetzes Rechnung getragen.

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. Februar 2024 wird abgelehnt.

Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt die Beklagte.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung kann nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zugelassen werden.

Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erfordert, dass eine bisher weder höchstrichterlich noch obergerichtlich geklärte konkrete und zugleich entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen und erläutert wird, warum sie im Interesse der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung der fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.

Die von der Beklagten für klärungsbedürftig gehaltene Rechtsfrage,

ob ein bei der Rückkehrentscheidung bzw. dem Erlass einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigendes inlandsbezogenes Abschiebungsverbot auch eine während des Asylverfahrens bestehende Aufenthaltsgestattung eines Mitglieds der Kernfamilie sein kann bzw. ob die Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 AsylG einen rechtmäßigen Aufenthalt begründet, der vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (Urteil vom 15. Februar 2023 – C-484/22) im Rahmen des Art. 5 Buchstaben a und b der Rückführungsrichtlinie Berücksichtigung finden muss,

verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung.

Dies liegt jedoch nicht bereits darin begründet, dass die nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils sowie nach der Begründung des Zulassungsantrags am 27. Februar 2024 in Kraft getretenen Änderungen der für die Abschiebungsandrohung im asylrechtlichen Verfahren maßgeblichen Normen in einem etwaigen Berufungsverfahren Anwendung fänden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) und es sich daher um eine Rechtsfrage zu ausgelaufenem Recht handelte (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG sowie § 59 Abs. 1, Abs. 3 AufenthG in der Fassung des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21. Februar 2024, BGBl I Nr. 54). Die in sachdienlicher Auslegung dahingehend zu verstehende Rechtsfrage der Beklagten, ob der Abschiebungsandrohung gegenüber einem Ausländer, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, familiäre Bindungen auch dann entgegenstehen können, wenn der Aufenthalt seines Familienmitglieds nur gemäß § 55 AufenthG zur Durchführung eines Asylverfahrens gestattet ist, bleibt durch diese Rechtsänderung unberührt (vgl. zur Auslegung des identischen Berufungszulassungsantrags der Beklagten auch OVG SN, Beschluss vom 14. Oktober 2024 – 4 A 303/23.A –, juris Rn. 6; OVG NI, Beschluss vom 27. Juni 2024 – 4 LA 21/24 –, juris Rn. 11 f.). Klärungsbedürftigkeit besteht fort, wenn sich die streitigen Fragen im Rahmen der neuen Bestimmungen in gleicher Weise stellen (Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 146). Dies ist vorliegend der Fall, da insbesondere der durch das Rückführungsverbesserungsgesetz eingeführte § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG – wonach eine Abschiebungsandrohung u.a. nicht erlassen werden darf, sofern familiäre Bindungen des Ausländers dem entgegenstehen – gerade die von der Beklagten in ihrer Rechtsfrage angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs umsetzen soll (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/9463 vom 24. November 2023, S. 44 f., 58).

Die grundsätzliche Bedeutung ist jedoch abzulehnen, da sich die Rechtfrage mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unschwer bejahen lässt (vgl. die obergerichtlichen Entscheidungen, die den Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG auf Basis der identischen Rechtsfrage der Beklagten ebenfalls ablehnen: OVG SN, Beschluss vom 14. Oktober 2024 – 4 A 303/23.A –, juris Rn. 8 ff.; OVG NI, Beschluss vom 27. Juni 2024 – 4 LA 21/24 –, juris Rn. 6 ff.; Beschluss vom 1. Februar 2024 – 10 LA 44/24 –, juris Rn. 14; OVG BE-BB, Beschluss vom 11. April 2024 – OVG 12 N 25/24 –, BA S. 2f.; Beschluss vom 15. März 2024 – OVG 12 N 24/24 –, BA S. 2 f.; vgl. allgemein zur Ablehnung der Zulassung bei fehlender Klärungsbedürftigkeit BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2022 – 1 B 83.21 –, juris Rn. 21; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 143). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt auch dann, wenn die Frage zwar nicht ausdrücklich entschieden ist, bereits ergangene Entscheidungen aber ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der Frage geben (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 38). So liegt es hier.

Der Europäische Gerichtshof konstatiert in dem auch beklagtenseits angeführten Urteil vom 15. Februar 2023, dass die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 3 Nr. 4 Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger vom 16. Dezember 2008 (Rückführungsrichtlinie) darstellt (vgl. auch BVerwG, Vorlagebeschluss vom 8. Juni 2022 – 1 C 24/21 –, juris Rn. 18) und es Art. 5 Rückführungsrichtlinie „einem Mitgliedstaat [verwehrt], eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern“ (EuGH, Urteil vom 15. Februar 2023 – Rs. C-484/22 –, juris Rn. 25). Der EuGH erteilt damit der früheren Verwaltungspraxis, solche familiären Bindungen erst in einem dem Erlass der Rückkehrentscheidung nachfolgenden ausländerbehördlichen Verfahren über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) zu berücksichtigen, eine Absage. Bereits zuvor hat der Gerichtshof entschieden, dass es im Rahmen der Berücksichtigung familiärer Bindungen nach Art. 5 lit. a und b Rückführungsrichtlinie nicht darauf ankommt, gegenüber wem (Kindern bzw. Eltern) eine Rückkehrentscheidung ergeht (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2021 – Rs. C-112/20 –, juris, Rn. 33).

Auch wenn der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, das zur Vorlage an den EuGH führte, das Schutzbegehren eines Minderjährigen betraf, dessen Vater und Schwester zuvor jeweils eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erhalten hatten, beschränkt der EuGH seine Schlussfolgerungen nicht auf diese Konstellation. Er führt vielmehr aus, dass Art. 5 Rückführungsrichtlinie allgemein der Wahrung mehrerer Grundrechte diene und seinem Schutzzweck entsprechend nicht eng ausgelegt werden dürfe (EuGH, Urteil vom 15. Februar 2023 – Rs. C-484/22 –, juris Rn. 23; so auch EuGH, Urteil vom 11. März 2021 – Rs. C-112/20 –, juris, Rn. 35; vgl. zur weiten Auslegung von Art. 5 Rückführungsrichtlinie auch EuGH, Urteil vom 17. Oktober 2024 – C-156/23 –, Rn. 35). Demnach gebieten Art. 5 lit. a und b Rückführungsrichtlinie die gebührende Berücksichtigung der familiären Bindungen im gesamten Verfahren, unabhängig davon, ob der Aufenthalt des betreffenden Familienmitglieds „nur“ gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist (vgl. OVG SN, Beschluss vom 14. Oktober 2024 – 4 A 303/23.A –, juris Rn. 11; OVG NI, Beschluss vom 27. Juni 2024 – 4 LA 21/24 –, juris Rn. 15; OVG BE-BB, Beschluss vom 11. April 2024 – OVG 12 N 25/24 –, BA S. 2 f.; vgl. auch VG Hannover, Urteil vom 28. Februar 2024 – 1 A 416/19 –, juris Rn. 43; Beschluss vom 9. Oktober 2023 – 1 B 1628/23 –, juris Rn. 28; VG Gießen, Beschuss vom 18. April 2024 – 1 L 1041/24.GI.A –, juris Rn. 15f.; VG Minden, Beschluss vom 4. Mai 2023 – 2 L 847/22.A –, juris Rn. 180; VG München, Urteil vom 3. April 2023 – M 27 K 22.30441 –, juris Rn. 30; Waldvogel, NJOZ 2024, 545 (549)). Auch bei der Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG handelt es sich um ein zwar auf die Dauer des Statusfeststellungsverfahrens beschränktes und damit vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht, so dass bereits dem Wortlaut nach sowie entsprechend allgemeiner Auffassung ein rechtmäßiger Aufenthalt des Familienangehörigen vorliegt (vgl. OVG NI, Beschluss vom 27. Juni 2024 – 4 LA 21/24 –, juris Rn. 16 m.w.N.; s. auch OVG SN, Beschluss vom 14. Oktober 2024 – 4 A 303/23.A –, juris Rn. 11; VG München, Urteil vom 3. April 2023 – M 27 K 22.30441 –, juris Rn. 30). Zudem lässt sich vor dem Abschluss des Asylverfahrens noch nicht feststellen, ob dieses in ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht mündet. Abgesehen davon kann vielfach bereits angesichts der erheblichen Dauer des Asylverfahrens nicht von einer lediglich kurzfristig wirkenden Aufenthaltsgestattung gesprochen werden.

Nach Erlass des Rückführungsverbesserungsgesetzes kommt inzwischen auch in den gesetzlichen Grundlagen deutlich zum Ausdruck, dass die nur verfahrensgebundene Aufenthaltsgestattung eines Familienmitglieds gemäß § 55 AsylG der Berücksichtigung familiärer Belange bei der Abschiebungsandrohung nicht entgegensteht: So sieht § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG) in Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH und der Rückführungsrichtlinie im Gegensatz zur früheren Fassung mittlerweile vor, dass auch bei lediglich vorübergehenden Gründen für eine Aussetzung der Abschiebung nur noch in Ausnahmefällen (insbesondere der Straffälligkeit des Ausländers, vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. b Rückführungsrichtlinie) eine Abschiebungsandrohung erfolgen darf (vgl. BT-Drs. 20/9463 vom 24. November 2023, S. 22, 45). Auch diese gesetzgeberische Wertung widerspricht einer Differenzierung allein danach, ob der Rückkehrentscheidung entgegenstehende familiäre Bindungen i.S.v. Art. 5 lit. a oder b Rückführungsrichtlinie zu einem Familienmitglied mit dauerhaftem oder vorübergehendem (rechtmäßigen) Aufenthaltsrecht bestehen (vgl. VG Hannover, Urteil vom 28. Februar 2024 – 1 A 416/19 –, juris Rn. 43).

Die vereinzelten Ansichten, die weiterhin ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zur Berücksichtigung familiärer Belange voraussetzen, treten diesen Erwägungen inhaltlich nicht entgegen (vgl. Hailbronner, in: derselbe, AuslR (August 2024), § 34 AsylG Rn. 65; i.E. ebenfalls, aber ohne Bezugnahme auf § 55 AsylG und vor Erlass des Rückführungsverbesserungsgesetzes: OVG MV, Urteil vom 20. November 2023 – 4 LB 82/19 OVG –, juris Rn. 56) und hindern die Annahme der fehlenden Klärungsbedürftigkeit nicht (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 143). Der Hinweis der Beklagten auf das Beschleunigungsgebot in Art. 31 Abs. 2 Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vom 26. Juni 2013 verfängt nicht, da dieses prozedurale Gebot keinen Einfluss auf den inhaltlichen Prüfungsumfang bei Erlass einer Abschiebungsandrohung zeitigt (vgl. auch OVG NI, Beschluss vom 27. Juni 2024 – 4 LA 21/24 –, juris Rn.16).

Das inlandsbezogene Abschiebungsverbot ergibt sich nach Allem hier daraus, dass der Abschiebung der Kläger aktuell ein rechtliches Hindernis aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG, Art. 7 GRCh sowie Art. 8 Abs. 1 EMRK i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG entgegensteht, weil dem 1983 geborenen Sohn der Aufenthalt verfahrensabhängig gestattet ist und er – was die Beklagte nicht in Abrede stellt – infolge seiner schweren körperlichen und geistigen Behinderungen (frühkindlicher Hirnschaden), infolge derer sein Entwicklungsstand dem eines zweijährigen Kindes entspricht, maßgeblich auf die Unterstützung durch die Kläger angewiesen ist und auch vorübergehend nicht von diesen getrennt werden darf (vgl. Gutachten des Facharztes für Psychiatrie Dr. __, Anlage K 2, Gerichtsakte Bl. 100 ff.; zur Berücksichtigung familiärer Bindungen auch im Verhältnis erwachsener Familienangehöriger insbesondere in Beistands- und Abhängigkeitsverhältnissen EGMR, Urteil vom 24. März 2015 – 37074/13 –, juris Rn. 24, 33; BayVGH, Urteil vom 4. März 2024 – 24 B 22.30376 –, juris Rn. 65; OVG SH, Urteil vom 22. Juni 2023 – 4 LB 6/22 –, juris Rn. 97; VG Berlin, Urteil vom 12. Juli 2023 – 31 L 259/23 A –, UA S. 3; Waldvogel, NJOZ 2024, 545 (547) m.w.N.; vgl. dazu, dass Art. 5 lit. b Rückführungsrichtlinie allgemein familiäre Belange schützt OVG MV, Urteil vom 20. November 2023 – 4 LB 82/19 OVG –, juris Rn. 56).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG, § 152 Abs. 1 VwGO).