Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 06.12.2011 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 282/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 35 SGB 10, § 44 SGB 10 |
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 20. Oktober 2010 und der Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das gesamte Verfahren zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Urteil:Der Kläger begehrt die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 ab dem 16. November 2000, hilfsweise ab dem 31. Juli 2003.
Der 1943 geborene Kläger war bis 1996 als Rohrleger tätig und bezieht seit dem 01. August 2003 eine Altersrente mit Abschlägen in Höhe von 18 v. H.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 07. März 2000 stellte der Beklagte auf den Erstfeststellungsantrag des Klägers vom 14. Januar 2000 einen Gesamt-GdB von 20 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:
Cervicobrachial- und Lumbalsyndrom, Schwindel
(Einzel-GdB 20)
Funktionsbehinderung der Kniegelenke
(Einzel-GdB 10)
Herzmuskeldurchblutungsstörungen
(Einzel-GdB 10).
Auf den Änderungsantrag des Klägers vom 27. Dezember 2000 stellte der Beklagte mit weiterem bestandskräftigen Bescheid vom 04. Juli 2001 einen Gesamt-GdB von 30 fest, wobei er das Wirbelsäulenleiden mit einem Einzel-GdB von 30 und die hinzutretende Hörminderung links mit Ohrgeräuschen mit einem Einzel-GdB von 10 bewertete. Gleichzeitig stelle er fest, dass eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit gegeben sei.
Mit dem bestandskräftigen Bescheid vom 13. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2004 stellte der Beklagte auf den Änderungsantrag des Klägers vom 03. März 2003 den Gesamt-GdB unverändert mit 30 unter Berücksichtigung eines nunmehr mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewertenden Penisschmerzes fest.
Mit Antrag vom 14. November 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf eine Hepatitiserkrankung die Neufeststellung seines GdB. Nachdem der Beklagte u. a. ärztliche Auskünfte der Fachärztin für Innere Medizin Dr. H vom 02. Dezember 2005 und der Fachärztin für Innere Medizin Dr. S vom 30. Januar 2006 eingeholt hatte, stellte er der gutachtlichen Einschätzung des Facharztes für Chirurgie MR Dr. P vom 13. März 2006 folgend mit bestandskräftigem Bescheid vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2006 ab dem 14. September 2005 ein GdB von 50 fest. Hinzugetreten sei eine mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewertende chronische Hepatitis (chronische Leberentzündung), Leberfibrose.
Am 07. April 2006 beantragte der Kläger die „rückwirkende Anerkennung“ der Hepatitiserkrankung im Rahmen der GdB-Feststellung für die Zeit vor dem 01. Januar 2000. Nach Beiziehung eines Befundberichtes der Fachärztin für Innere Medizin Dr. H vom 29. Mai 2006 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 den Antrag ab. Aufgrund der vorliegenden ärztlichen Unterlagen scheide eine frühere Feststellung eines höheren GdB aus.
Der Kläger hat am 21. Dezember 2006 Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt/Oder erhoben.
Das Sozialgericht hat den Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie Prof. Dr. H mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In seinem nach körperlicher Untersuchung des Klägers vom 17. September 2007 am 20. November 2007 erstatteten Gutachten gelangte dieser zu der Einschätzung, dass der Gesamt-GdB weiterhin mit 50 aufgrund der bestehenden chronischen Hepatitis C mit Leberfibrose und Verdacht auf einen beginnenden zirrhotischen Umbau (Einzel-GdB von 40) zu bewerten sei. Wann die Hepatitis C-Virusinfektion bei dem Kläger eingetreten sei, bliebe unklar. Allgemein liege bei Diagnosestellung einer chronischen Hepatitis C mit Fibrose der Infektionszeitpunkt viele Jahre zurück. In diesem Fall überlagere sich auch die HCV-Infektion mit früherem Alkoholkonsum, so dass die frühere Erhöhung der Leberwerte auch hierdurch beeinflusst gewesen sei. In seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 28. Juni 2008 und 29. September 2009 hat der Sachverständige Prof. Dr. H ausgeführt, dass bis zum 16. November 2000 und davor keine Lebererkrankung dokumentiert sei, die eine Schwerbehinderung rechtfertigen würde. Die Labordatenlage aus dem Zeitraum von 2000 bis 2005 sei offenbar dünn. Die Datenlage reiche nicht aus, bereits ab 2003 aufgrund der Lebererkrankung einen GdB von 40 zu gewähren.
Auf Antrag des Klägers hat das Sozialgericht sodann den PD Dr. F gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens nach Aktenlage beauftragt. Dieser gelangte in seinem Gutachten vom 2. Dezember 2008 zu der Einschätzung, dass eine chronische Hepatitiserkrankung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon vor 2000 vorgelegen habe. Bei retrospektiver Beurteilung ergebe sich zum 16. November 2000 insoweit ein GdB von 30. Unter Berücksichtigung der Verlaufsdynamik sei die Hepatitis C-Erkrankung zum 31. Juli 2003 mit einem GdB von 40 zu bewerten.
Mit Urteil vom 20. Oktober 2010 hat das Sozialgericht Frankfurt/Oder die Klage abgewiesen. Zwar habe der Kläger ein besonderes Interesse an einer früheren Feststellung des GdB, weil ihm nach § 236 a des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) eine abschlagsfreie bzw. mit geringeren Abschlägen zu gewährende Altersrente für schwerbehinderte Menschen zustehen würde, wenn seine Schwerbehinderteneigenschaft bereits zum 16. November 2000 bzw., wie hilfsweise begehrt, zum 31. Juli 2003 festgestellt würde. Der objektive Nachweis, dass eine GdB-relevante Hepatitis-Erkrankung bereits zu einem früheren Zeitpunkt, als von dem Beklagten festgestellt, vorgelegen habe, die die Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 zu einem früheren Zeitpunkt rechtfertigen würde, sei jedoch nicht ersichtlich; dies gehe daher zu Lasten des Klägers. Die Kammer folge insoweit den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. H. Dem stehe das Gutachten des PD Dr. F nicht entgegen, da dessen Beurteilung einer mit 40 zu bewertenden Hepatitiserkrankung zum Zeitpunkt des 31. Juli 2003 aufgrund einer Verlaufsdynamik rein spekulativ und durch objektive Befunde aus der Zeit bis 2005 nicht belegbar sei. Überdies müsse eine rückwirkende Entscheidung auf offenkundige Fälle beschränkt bleiben, also auf solche, bei denen die rückwirkende Feststellung aufgrund der objektiven Befundlage ohne weiteres deutlich zutage trete.
Gegen das ihm am 02. November 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 09. November 2010 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Zur Begründung einer rückwirkenden Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft beruft er sich auf das Gutachten des PD Dr. F.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 20. Oktober 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 zu verpflichten, den Bescheid vom 23. März 2006 und die Bescheide vom 13. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2004, den Bescheid vom 04. Juli 2001, den Bescheid vom 07. März 2000 sowie gegebenenfalls alle weiteren entgegenstehenden bestandskräftigen Bescheide zu ändern und für den Kläger einen Grad der Behinderung von 50 ab dem 16. November 2000,
hilfsweise
ab dem 31. Juli 2003 festzustellen,
hilfsweise
den Beklagten zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und verweist darauf, dass die Nichterweislichkeit des Vorliegens der Schwerbehinderteneigenschaft zu einem früheren Zeitpunkt zu Lasten des Klägers gehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Die Berufung ist zulässig, jedoch nur nach Maßgabe des Tenors, d. h. im Sinne des weiter gestellten Hilfsantrages, begründet. Das Urteil des Sozialgerichts und der Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 sind aufzuheben. Der Beklagte ist zu verpflichten, den Überprüfungsantrag des Klägers vom 7. April 2006 auf rückwirkende Feststellung eines höheren GdB unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden, § 131 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGG (dazu unter I.). Die darüber hinaus gehende Berufung, mit der der Kläger die Verpflichtung des Beklagten begehrt, unter Abänderung entgegenstehender Bescheide einen GdB von 50 ab dem 16. November 2000, hilfsweise ab dem 31. Juli 2003 festzustellen, ist indes unbegründet, § 54 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 131 Abs. 2 Satz 1 SGG. Dem Begehren fehlt es an der erforderlichen Spruchreife. Insbesondere ist im Rahmen der von dem Beklagten zu treffenden Ermessensentscheidung bzgl. des gestellten Überprüfungsantrages keine Ermessensreduzierung auf Null eingetreten (dazu unter II.).
I. Das Urteil des Sozialgerichts und der Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 sind aufzuheben. Die aufgrund des Antrages vom 7. April 2006 zu treffenden Feststellungen beurteilen sich allein nach § 44 Abs. 2 Satz 2 des X. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Danach kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Eine solche Konstellation ist vorliegend gegeben. Der Kläger macht mit dem Antrag die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit geltend. Insoweit hat die für Feststellung zuständige Behörde oder Körperschaft im Falle des Vorliegens einer auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogenen bindenden Feststellung des GdB über den Antrag auf Rückverlagerung im Überprüfungswege nach pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden. In dem Fall, in dem die entsprechenden tatsächlichen Voraussetzungen offenkundig sind, könnte das pflichtgemäße Ermessen dabei die rückwirkende Aufhebung der bindenden Feststellungen gebieten (vgl. hierzu Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 29. Mai 1991 – 9a/9 RVs 11/89 -, zit. nach Juris). Diese nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für den vorliegenden Fall maßgeblichen Grundsätze haben auch weiterhin Gültigkeit. Sie beanspruchen nach dem Urteil des BSG vom 7. April 2011 - B 9 SB 3/10 R, zit. nach Juris - nur dann keine Gültigkeit, wenn es um den hiervon zu unterscheidenden Fall der Erstfeststellung eines höheren GdB bereits zu einem Zeitpunkt vor der Antragstellung geht. Nur in einem solchen Fall ist für die rückwirkende Feststellung ein besonderes Interesse zu fordern; ansonsten beurteilt sich die rückwirkende Feststellung nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast.
Dies zu Grunde gelegt, erweist sich der nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X zu beurteilende Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2006 als ermessensfehlerhaft, so dass er der Aufhebung unterliegt. Nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X muss die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde sich bei der Ausübung ihres Ermessens hat leiten lassen. Dadurch wird einerseits gewährleistet, dass erkennbar wird, ob sich die Behörde des ihr eingeräumten Ermessens bewusst gewesen ist, und andererseits, dass eine inhaltliche Überprüfung der Ermessensentscheidung erfolgen kann. Vorliegend lässt sich bereits weder dem Ausgangsbescheid noch der Begründung des Widerspruchsbescheides entnehmen, dass sich der Beklagte überhaupt bewusst gewesen ist, eine Ermessensentscheidung treffen zu müssen. In dem Ausgangsbescheid wird lediglich festgestellt, dass ein höherer GdB nicht zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen habe. Ermessenerwägungen werden auch in dem Widerspruchsbescheid nicht mitgeteilt. Vielmehr verdeutlichen die dort gemachten Ausführungen, wonach aufgrund der Diagnosen eine rückwirkende Feststellung eines höheren GdB nicht möglich sei, dass der Beklagte rechtsirrig von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ist. Dieser Ermessensausfall (hier als Mangel der Ermessensbetätigung nach § 39 des I. Buches des Sozialgesetzbuches) hat zur Folge, dass auch eine nachträgliche Ermessensausübung bis zur letzten Tatsacheninstanz nicht mehr gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X möglich ist (vgl. Schütze in: Wulffen, SGB X, Kommentar, 7. Auflage, 2010, § 41 Rn. 11). Die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens wird daher in einem neuen Bescheid nachzuholen sein.
II. Dem über die Verpflichtung zur Neubescheidung hinausgehenden Begehren des Klägers entsprechend seines Haupt- und ersten Hilfsantrages war nicht zu entsprechen. Eine Verpflichtung des Beklagten unter Abänderung entgegenstehender Bescheide einen GdB von 50 ab dem 16. November 2000, hilfsweise ab dem 31. Juli 2003 festzustellen, scheidet aus, weil es insoweit an der erforderlichen Spruchreife fehlt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eingetreten wäre, d. h. das Ermessen einzig und allein im Sinne einer Stattgabe des Begehrens auszusprechen gewesen wäre. Daran fehlt es hier. Insbesondere lässt sich mit Blick auf die unterschiedlichen gutachtlichen Bewertungen durch die Sachverständigen nicht feststellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines GdB von 50 zu einem früheren Zeitpunkt, d. h. ab dem 16. November 2000 bzw. zumindest ab dem 31. Juli 2003, offenkundig bereits vorgelegen haben.
Anlass, den Rechtsstreit zur Nachholung der Ermessensausübung zu vertagen, besteht nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nicht gegeben sind (§ 160 Abs. 2 SGG).