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Asylrecht, Interner Schutz in der Russichen Föderation, keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Wehrdienstentziehung (Anschluss an Sächs. OVG, Urt. v. 12.01.2024 - 2 A 1107/19.A - juris Rn 21), Russische Föderation (Tschetschenien), Zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Einziehung eines Grundwehrdienstleistenden zum Militärdienst und der anschließenden Teilnahme am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine, Zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Einziehung eines ungedienten ehemals Grundwehrdienstpflichtigen zum Militärdienst und der


Metadaten

Gericht VG Cottbus 1. Kammer Entscheidungsdatum 12.07.2024
Aktenzeichen VG 1 K 138/18.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2024:0712.1K138.18.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen §§ 3, 3a , 3e AsylG

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die am 0_____ und 0_____ in U__-M___ geborenen Kläger zu 1. und 2. sowie ihre am 0_____, 2_____ und 2_____ ebenfalls in U___-M__ geborenen Kinder, die Kläger zu 3. bis 5., sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten eigenen Angaben nach am 28. Juni 2016 auf dem Landweg über Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten hier zunächst zwei Tage später ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

Das Begehren lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend vereinfachend: Bundesamt) im Dublin-Verfahren mit bestandskräftigem Bescheid vom 01. September 2016 als unzulässig ab. Eine Überstellung der Kläger nach Polen erfolgte nicht. Die Überstellungsfrist lief am 23. Februar 2017 ab. Am 19. September 2017 stellten die Kläger erneut Asylanträge. Laut Vermerk des Bundesamts vom 17. Oktober 2017 (Blatt 84 des Verwaltungsvorgangs des Bundesamts [VV], Beiakte [BA] I) wurde ein Asylverfahren der Kläger in Polen wurde wegen Nichtbetreibens eingestellt und ein weiteres Asylverfahren in Frankreich ohne materielle Prüfung durchgeführt. Daher behandelte es die Anträge vom 19. September 2017 als Erstanträge.

Am 13. November 2017 erfolgte die persönliche Anhörung des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. beim Bundesamt in tschetschenischer Sprache.

Der Kläger zu 1., Inhaber eines Reisepasses und eines Inlandspasses der Russischen Föderation, gab im Wesentlichen an, sich vor seiner Ausreise an seiner offiziellen Anschrift in U___-M___ aufgehalten zu haben. Sein Heimatland habe er am 23. Juni 2016 verlassen. Mit dem Zug sei er aus Grosny über Moskau nach Brest gereist und dann mit dem Taxi von Polen nach Deutschland, wo er am 28. Juni 2016 eingereist sei. Die Reisepässe für die Familie hätten sie ca. Oktober 2015 beantragt und im Januar 2016 bekommen. Die Zugbegleiter hätten Pässe und Zugfahrkarten verglichen, ansonsten habe es keine Kontrollen gegeben. In der Heimat lebten noch seine Eltern und zwei Brüder sowie die Großfamilie. Die Schule habe er in der Heimat bis zur 11. Klasse besucht und dort später als Maurer gearbeitet. Seine finanzielle Situation sei durchschnittlich gewesen. Sie hätten auf dem Hof seiner Eltern gewohnt, in einem eigenen Haus. Dieses stehe nun leer. Wehrdienst habe er nicht geleistet und sich nicht politisch betätigt. Zu seinem Verfolgungsschicksal und den Gründen für seinen Asylantrag angehört gab er an, im Jahr 2005 in den Bergen gelebt zu haben. Im Februar desselben Jahres habe er Lebensmittel an bewaffnete Kämpfer abgegeben. Im April 2005, er habe nunmehr in Grosny gewohnt, seien bewaffnete Personen bei ihm erschienen, die ihn bewusstlos geschlagen und in einem Auto mitgenommen hätten. Anschließend habe man ihn in einen Keller verbracht und ihn erneut geschlagen sowie befragt. Er habe gesagt, Kämpfern aus Angst zu helfen. Dann seien Russen, die sich als FSB ausgewiesen hätten, gekommen und hätten ihn zum Militärstützpunkt K_____verbracht. Dort sei er in einem Keller mit Strom gefoltert und befragt worden. Drei Tage später habe er dann „irgendwelche Papiere“ unterschrieben und sei freigelassen worden. Dann sei die Polizei aus U___-M___ gekommen und habe ihn mitgenommen. Nach drei Wochen in der Zelle sei er vor Gericht gestellt worden und habe dann zwei Monate in Untersuchungshaft gesessen. Aufgrund seiner unterschriebenen Papiere sei ihm vorgeworfen worden, Kämpfer zu sein, was er geleugnet habe. Daraufhin habe man ihn in Grosny 14 Tage in ein Gefängnis gebracht. Schließlich hätten ihn FSB-Mitarbeiter wieder auf den Militärstützpunkt verbracht, wo er erneut gefoltert worden sei. Er sei davor gewarnt worden, seine Unterschrift und seine Aussage zurückzunehmen. In U___-M___ habe er dann vor Gericht gestellt werden sollen. Zur Abwendung einer langen Haftstrafe hätten Verwandte 6.000,00 US-Dollar bezahlt, woraufhin er zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden sei. Einmal monatlich habe er sich bei den Behörden melden müssen. Im Herbst 2005 seien sein Vater und sein Bruder von bewaffneten Leuten in Militäruniform geschlagen worden, er selbst habe sich derweil versteckt. Er habe daraufhin mit seinen Eltern bei der Polizei Anzeige erstattet, die aber nichts davon habe wissen wollen. Ein Rechtsanwalt, den seine Mutter beauftragt habe, habe bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstatten wollen, wovon dieser abgeraten habe, da das für den Kläger zu 1. Probleme verursache. Im Oktober 2005 sei er dann nach Wolgograd zu Verwandten gegangen. Im März 2006 habe er dort geheiratet. Die Behörden hätten sich währenddessen bei seinen Eltern gemeldet. Er habe gegen Bewährungsauflagen verstoßen und sie wüssten nicht, wo er sei. Im Januar 2007 sei er nach Grosny gegangen und im Sommer in seinen Heimatort. Im März 2008 sei er zur Polizei vorgeladen worden. Nachdem seine Verwandten erneut Geld gezahlt hätten, sei er im Januar 2009 erneut auf Bewährung entlassen worden. Er dürfe bis 2015 das Land nicht verlassen und wenn er Tschetschenien verlassen wolle, müsse er sich bei den Behörden melden. Nachdem auch die weitere Bewährungszeit abgelaufen sei, sei er laufend kontrolliert worden. Das solle sein Leben lang so weitergehen, habe man ihm gesagt. Er sei schlecht behandelt und auch festgenommen worden. Nach Beantragung der Pässe seien Leute des FSB zu ihm gekommen, hätten ihn gefragt, ob er das Land verlassen wolle, und ihm sein Handy weggenommen. Eine Woche später habe er es wieder abholen können. Im Mai 2016 habe er dann erneut zur Polizeidienststelle gehen und Dokumente unterschreiben sollen, in denen er sich einverstanden erklären sollte, weiterhin kontrolliert zu werden. Daraufhin habe er das Land verlassen. Auf Nachfrage gab er an, er habe nicht mehr in einen anderen Landesteil umziehen wollen, da er Russland habe verlassen wollen. Bei einer Rückkehr habe er Angst davor, ins Gefängnis gesteckt oder getötet zu werden. Nach seiner Ausreise seien die Behörden auch bei seinen Eltern gewesen und hätten sich nach ihm erkundigt. Sie hätten seine Telefonnummer haben wollen, sich aber nicht bei ihm gemeldet. Der Kläger zu 1. legte zudem eine Bestätigung des Ministerkabinetts bei der Tschetschenischen Republik Itschkeria, ein Dokument über den Widerruf seiner Bewährung und eine Bestätigung über verbüßte Haft und Aussetzung der weiteren Haft zur Bewährung vor, darüber hinaus eine Bescheinigung über die besondere Schutzbedürftigkeit des XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V. Auf die Unterlagen nebst Übersetzung (Blatt 127 bis 137 VV, BA I) wird Bezug genommen.

Die Klägerin zu 2., Inhaberin eines Reisepasses und eines Inlandspasses der Russischen Föderation, gab im Wesentlichen an, sich vor ihrer Ausreise an der offiziellen Anschrift ihres Ehemanns in U___-M___ aufgehalten zu haben. Ihre Eltern, zwei Brüder, eine Schwester und die Großfamilie lebten noch in der Heimat. Sie habe die elfte Schulklasse und ein Jurastudium in Kasachstan abgeschlossen. In diesem Bereich habe sie nie gearbeitet, sondern zuletzt als Köchin in einer Schule. Zu ihrem Verfolgungsschicksal und den Gründen für ihren Asylantrag angehört gab sie an, wegen der Probleme ihres Ehemanns ausgereist zu sein. Sie sei wegen ihres Ehemanns auch mitgenommen und befragt worden, das sei 2006 und 2008 gewesen. 2015 nach der Beantragung der Reisepässe sei sie außerdem befragt worden, was sie vorhätten und wohin sie wollten. Während sie in Wolgograd gelebt hätten, seien ihre Eltern ständig aufgesucht und befragt worden, weshalb sie in ihre Heimat zurückgekehrt seien. Im Heimatland gälten sie als Geflüchtete, wenn sie zurückkehrten, gingen die Probleme weiter und sie erwarte nichts Gutes.

Mit Bescheid vom 10. Januar 2018, nach unwidersprochen gebliebenen Angaben der Klägerprozessbevollmächtigten am 11. Januar 2018 zugestellt, versagte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.), die Asylanerkennung (Ziffer 2.) und den subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetztes (AufenthG) nicht vorlägen (Ziffer 4.), forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung in die Russische Föderation auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen (Ziffer 5.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6.). Hinsichtlich der Begründung wird auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid (Blatt 145 bis 163 VV, BA I) Bezug genommen.

Mit ihrer am 22. Januar 2018 bei dem Verwaltungsgericht Cottbus erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Der Vortrag des Klägers zu 1. sei schlüssig und widerspruchsfrei, zum Nachweis habe er verschiedene Dokumente vorlegen können. Gegen Personen, die einmal unter Terrorverdacht geraten seien, würde mit aller Härte der russischen Gesetze und Möglichkeiten vorgegangen. Tschetschenen muslimischen Glaubens stünden nahezu schon unter Generalverdacht. Soweit nach Auffassung des Bundesamts einmalige Unterstützungshandlungen tschetschenischer Rebellen nicht „zwangsläufig“ dazu führten, dass die betreffende Person landesweit ins Visier der Behörden gerate, könne daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass dies auch bei ihm der Fall gewesen sei. Er habe dies in der Anhörung glaubhaft widerlegt. Ebenso wenig überzeuge die Ansicht, dass seine Entführungen, Verhaftungen, Verurteilungen und Folter nicht als systematisches Vorgehen des russischen Staates gegen vermeintliche Terroristen einzustufen wären, sondern letztlich nur Ausdruck eines rüpelhaften und selbstherrlichen Verhaltens einzelner Sicherheitskräfte anzusehen sei. Auch sei er mit seiner Familie nach Beendigung seines Ausreiseverbots 2015, sofort nachdem er die Reisepässe erlangt und genügend Geld für eine Ausreise gespart habe, ausgereist. Bei einer Rückkehr würde er zwangsläufig wieder ins Fadenkreuz russischer Sicherheitskräfte rücken. Sein ehemaliger Nachbar und sein Bruder hätten bestätigt, dass sich die örtliche Polizei zuletzt im März 2023 bei seinen Eltern nach seinem Verbleib erkundigt hätten. Des Weiteren hat der Kläger zu 1. am 15. Mai 2023 ein Gutachten des Bürgerrechtszentrums „Memorial“ und des Komitees „Bürgerbeistand“ vom 30. September 2019 in eigener Sache nebst Übersetzung sowie am 22. Mai 2023 die Fotografie einer „Bescheinigung über den Einberufungsbefehl“ in russischer Sprache vorgelegt. Auf die Unterlagen (Blatt 116R bis 122R und Blatt 134 der Gerichtsakte [GA]) wird Bezug genommen. Das Original des Einberufungsbefehls ist im Termin zur mündlichen Verhandlung am 26. Mai 2023 vorgelegt worden (BA VII).

Das Gericht hat sich infolge des teilweise neuen Sachvortrags im Zusammenhang mit dem vorgelegten Einberufungsbefehl nicht in der Lage gesehen, am 26. Mai 2023 weiter mündlich zu verhandeln und die Sache vertagt.

Der den Kläger zu 1. betreffende Einberufungsbefehl im Original lag dem Bundesamt zur Prüfung vor. In seinem Vermerk vom 28. September 2023 (VV, BA VIII) hält es fest, der Einberufungsbefehl könne aufgrund von fehlendem Vergleichsmaterial nicht beurteilt werden. Es könne lediglich gesagt werden, dass sich auf dem Dokument ein echter Feuchtstempel befinde.

Die Kläger meinen, es sei mangels anderer Anhaltspunkte von der Echtheit des Dokuments auszugehen. Ergänzend tragen sie außerdem vor, dass der Kläger zu 3. zwischenzeitlich ebenfalls einen Einberufungsbefehl erhalten habe. Das Original ist am 22. Mai 2024 zu den Gerichtsakten gereicht (BA IX) worden.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Januar 2018, Geschäftszeichen 7_____, zu verpflichten, für die Kläger das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 des Asylgesetzes festzustellen, hilfsweise festzustellen, dass die Kläger subsidiären Schutz gemäß § 4 des Asylgesetzes genießen, höchst hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sich das Bundesamt auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt es vor, das wehpflichtige Alter ende bereits mit dem 27. bzw. ab 2024 mit dem 30. Lebensjahr. Schon angesichts des Alters des Klägers zu 1., zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre, sei es unglaubhaft, dass er eine solche Vorladung erhalten haben wolle. Auch habe er keine höheren Spezialkenntnisse erworben, die ein erhöhtes Interesse der Behörden an seiner Person rechtfertigen könnten. Er habe bisher weder Wehrdienst geleistet noch habe er sonst Kampferfahrung sammeln können. Auffällig sei zudem, dass um unteren Teil der Vorladung eine Abrisslinie zu finden sei. Diese werde in der Regel als Empfangsbestätigung vom Absender abgetrennt. Vergleiche man die Adresse auf der Vorladung mit der Adresse, die der Kläger zu 1. im Erstverfahren angegeben habe, sei festzustellen, dass es sich um unterschiedliche Adressen handle. Auch dieser Umstand sei nicht nachvollziehbar. Zum offiziellen Wehrdienst könne er folglich nicht einberufen worden sein. Zwar habe es eine offizielle Teilmobilmachung gegeben, diese sei jedoch 2022 abgeschlossen worden. Auch aus diesem Grund sei nicht glaubhaft, dass der Kläger noch im April 2023 eine Ladung erhalten haben will. Zudem sei es in der Regel so, dass bei Nichtbefolgen einer Vorladung weitere Strafen angedroht würden.

Mit Beschluss vom 08. März 2018 hat die Kammer gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) den Rechtsstreit der seinerzeitigen Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen. Der Einzelrichter hat die Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragt. Wegen des Inhalts wird auf die Niederschrift verwiesen.

Den Asylantrag der am 2_____ in H_____ geborenen Tochter der Kläger zu 1. und 2. lehnte Bundesamt mit Bescheid vom 13. September 2018 (Geschäftszeichen 7_____) ab. Sie verfolgt ihr Begehren in dem Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Cottbus – VG 1 K 1692/18.A – weiter.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, den Verwaltungsvorgang des Bundesamts, die beigezogenen Akten der zuständigen Ausländerbehörde sowie auf die in der Erkenntnismittelliste aufgeführten Erkenntnisse Bezug genommen. Sämtliche Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und in der Sache entscheiden, weil die Beteiligten in den ordnungsgemäß erfolgten Ladungen auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind.

I. Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Kläger haben in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG noch von subsidiärem Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG bzw. auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der Bescheid des Bundesamts vom 10. Januar 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Vorab ist festzustellen, dass das Bundesamt die (weiteren) Asylanträge der Kläger vom 19. September 2017 zutreffend als Erstanträge und nicht als Zweitanträge angesehen hat, da eine materielle Prüfung ihres Asylbegehrens in Polen und Frankreich bislang nicht stattgefunden hatte, d. h. es ist keine Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus ergangen.

1. Der auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Hauptantrag der Kläger bleibt ohne Erfolg. Nach § 3 Abs. 4, 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560) ist nach § 3 Abs. 1 AsylG ein Ausländer, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Zwischen den nach § 3a AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (sog. Verfolgungshandlungen) und den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmalen muss nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal, z. B. eine bestimmte politische Überzeugung, zuschreibt. Ist dies der Fall, kommt es weder darauf an, ob der Betroffene die ihm zugeschriebene Überzeugung tatsächlich aufweist (§ 3b Abs. 2 AsylG) noch ob er aufgrund dieser tatsächlich tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ob eine Verfolgungshandlung in diesem Sinne „wegen“ eines flüchtlingsrelevanten Merkmals erfolgt, ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den – ohnehin kaum feststellbaren – subjektiven Vorstellungen und Motiven, die den Verfolgenden oder die für ihn handelnden Personen leiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03. Juli 1996 – 2 BvR 1957/94 –, juris Rn. 18). Entscheidend ist mithin, wie sich die Verfolgungshandlung nach dem „objektiven Empfängerhorizont“ darstellt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung solcher Art liegt schließlich vor, wenn dem Antragsteller politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer quantitativen oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben allerdings die Gesamtumstände des Einzelfalls die „tatsächliche Gefahr“ („real risk“) einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände zudem auch immer die Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung mit einstellen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 05. November 1991 – 9 C 118/90 –, juris Rn. 17; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 07. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris Rn. 37).

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (sog. Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Für Vorverfolgte gilt innerhalb des auch insoweit anzuwendenden Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Beweiserleichterung. Denn nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie – QRL) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. In diesen Fällen streitet also die tatsächliche Vermutung dafür, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, juris Rn. 22 ff.).

Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss insoweit unterschieden werden zwischen den in den allgemeinen Verhältnissen des Herkunftslands liegenden Umständen und den in die Sphäre des Schutzsuchenden fallenden Ereignissen. Im Hinblick auf Erstere ist es bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine Verfolgungsprognose zu treffen. Bezüglich bereits erlittener Verfolgung im Herkunftsstaat obliegt es demgegenüber dem Schutzsuchenden im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten nach § 15 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 86 Abs. 1 2. Halbsatz VwGO, diese in schlüssiger Form vorzutragen (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 – 9 C 131/90 –, juris Rn. 9; Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 –, juris Rn. 3; Urteil vom 08. Februar 1989 – 9 C 29.87 –, juris Rn. 9; Urteil vom 23. Februar 1988 – 9 C 273/86 –, juris Rn. 11).

Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem der Schutzsuchende seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Schutzsuchenden kann schon allein sein eigener Tatsachenvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann. Wenn wegen Fehlens anderer Beweismittel nicht anders möglich, muss die richterliche Überzeugungsbildung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts in der Weise geschehen, dass sich das Gericht schlüssig wird, ob es dem Schutzsuchenden glaubt. Daran kann es sich wegen erheblicher Widersprüche im Vorbringen des Schutzsuchenden gehindert sehen, es sei denn, die Widersprüche und Unstimmigkeiten können überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 –, juris Rn. 3).

Diese Anforderungen zugrunde gelegt, ist das Gericht auf Grundlage des Akteninhalts, der informatorischen Befragung der Kläger zu 1. und 2. sowie der vorliegenden Erkenntnisquellen nicht davon überzeugt, dass die Kläger ihr Herkunftsland als Flüchtlinge im Sinne des § 3 AsylG verlassen haben. Das Gericht vermochte sich insbesondere keine Überzeugung zu der geltend gemachten beachtlichen Wahrscheinlichkeit für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung zu bilden. Für das Gericht ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger im Herkunftsland überhaupt Verfolgungshandlungen ausgesetzt waren.

Soweit sich der Kläger zu 1. vorträgt, staatlicher Verfolgung, u. a. durch den FSB, ausgesetzt gewesen zu sein, weil er im Februar 2005 Lebensmittel an bewaffnete Kämpfer abgegeben habe, mangelt es bereits an einem zeitlichen kausalen Zusammenhang zwischen dem vorgetragenen Geschehen und dem Zeitpunkt der Ausreise der Kläger im Juni 2016. Wäre das Geschehen für die Kläger tatsächlich Anlass gewesen, ihre Heimat zu verlassen, wären sie nicht erst im Juni 2016, mithin über 10 Jahre später, sondern schon wesentlich früher ausgereist.

Entsprechendes gilt für sein Vorbringen, er sei 2005 durch das Stadtgericht U__-M__ nach § 208 Abs. 2 des russischen Strafgesetzbuchs verurteilt worden. Denn auch diese vermeintliche Verurteilung hat ihn nicht veranlasst, nach Haftverbüßung bzw. dem Auslaufen der Bewährungsfrist 2009 unmittelbar auszureisen. Vielmehr will er sich trotz Bewährungsauflagen in Wolgograd bei Verwandten versteckt und dort im März 2006 geheiratet haben. Im Januar 2007 sei er sogar wieder nach Tschetschenien zurückgekehrt. Im Übrigen hat der Kläger zu 1. einen Nachweis über seine Verurteilung nicht erbracht, sondern ein Dokument vom 14. März 2008 vorgelegt, aus dem lediglich hervorgeht, dass eine Inhaftierung aus dem Jahre 2005 als Teil der abzusitzenden Freiheitsstrafe mitgerechnet werde. Die Echtheit dieses Dokuments ist ohnehin aufgrund seines widersprüchlichen Inhalts zweifelhaft. Dort wird einerseits festgestellt, die Urteilsverkündung sei am 12. Juni 2005 erfolgt. In Kraft getreten sein soll die Urteilsverkündung jedoch bereits am 22. Mai 2005. Diesen widersprüchlichen Angaben entspricht es, dass der Kläger zu 1. im Rahmen der informatorischen Befragung durch den Einzelrichter erklärte, erst zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und dann in U-Haft gesessen zu haben. Diesen Vortrag hat sodann auch nicht er selbst, sondern seine Prozessbevollmächtigte korrigiert. Hätte er diesen Prozess tatsächlich durchlebt, hätte er diesen widerspruchsfrei aus eigenen Stücken vorgetragen. Aus dem darüber hinaus vorgelegten Dokument zur Bestätigung einer Haftverbüßung vom 29. Januar 2009 geht hervor, dass die Verurteilung durch das Stadtgericht U___-M___ am 12. Juli 2005 erfolgt sein soll und die zur Bewährung ausgesetzte Strafe am 22. Dezember 2005 aufgehoben worden sei. Im Übrigen hat der Kläger zu 1. auf die Frage, ob der Sachbericht einer Berichtigung oder Ergänzung bedürfe, im Termin am 26. Mai 2023 erklärt, und dann hätten sie ihn ja auch noch „verurteilen wollen“. Diese Aussage steht jedoch im Widerspruch zu seiner Behauptung, er sei verurteilt worden. Durch die Bescheinigung wäre zudem im Wesentlichen nur belegt, dass der Kläger zu 1. am 29. Januar 2009 aus der Haft entlassen worden wäre. Im Widerspruch zu dieser Bescheinigung hat der Kläger zu 1. auf die Frage des Einzelrichters, wann er frei gelassen worden sei, jedoch geantwortet, am „19. Januar 2009“ und dabei beteuert, das so genau zu wissen, „weil es auf der Entlassungsbescheinigung so draufsteht“. Auch ist allein aus der Entlassungsbescheinigung keine Verfolgung abzuleiten. Abgesehen von alledem hat das Gericht bei der Würdigung des Vortrags des Klägers zu 1. auch zu berücksichtigen, dass es in Russland möglich ist, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie z. B. Vorladungen oder Haftbefehle. Es gibt auch Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt wurden. Die Anzahl der in Asylverfahren vorgelegten Vorladungen, Urteile und Beschlüsse, die sich als Fälschungen herausgestellt haben, hat in letzter Zeit erheblich zugenommen (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 28. September 2022 (Stand: 10. September 2022), Seite 26). Die Vorlage von Dokumenten kann schon deshalb die schlüssige Darlegung des Verfolgungsschicksals, an der es vorliegend aus den o. g. Gründen fehlt, nicht ersetzen.

Anderes folgt auch nicht aus dem vorgelegten Gutachten des Bürgerrechtszentrums „Memorial“ und des Komitees „Bürgerbeistand“ vom 30. September 2019. Dort wird lediglich die von dem Kläger zu 1. vorgetragene Verfolgungsgeschichte unkritisch wiedergegeben, ohne dass eine Überprüfung der Angaben als plausibel erkennbar wäre. Die dort getroffenen Schlussfolgerungen vermögen schon danach das Gericht nicht zu überzeugen und beruhen im Übrigen auf allgemeinen und pauschalen Behauptungen. Ihnen kommt jedenfalls gegenüber den Erkenntnissen des Gerichts kein gesteigerter Beweiswert zu. Darüber hinaus erschließt sich nicht, weshalb der Kläger zu 1. das Gutachten erst am 15. Mai 2023, nur wenige Tage vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 26. Mai 2023, vorgelegt hat. Zu diesem Zeitpunkt war das Gutachten schon über dreieinhalb Jahre alt. Von ihm wäre schon mit Blick auf seine aus § 15 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 86 Abs. 1 2. Halbsatz VwGO folgende Mitwirkungspflicht zu erwarten gewesen, diese Unterlage dem Gericht zeitnah und nicht erst anlässlich des Termins zur mündlichen Verhandlung vorzulegen. Das Gericht geht daher davon aus, dass es sich insoweit um gesteigertes Vorbringen handelt, das es nicht für glaubhaft erachtet.

Ebenso wenig vermag die im Verwaltungsverfahren vorgelegte Bestätigung des Ministerkabinetts bei der Tschetschenischen Republik Itschkeria zu überzeugen. Die dortige Angabe, er sei ein „Eiferer für den Aufbau des unabhängigen Tschetschenischen Staates“ steht ersichtlich im Widerspruch zu seiner Angabe im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt, sich nicht politisch betätigt zu haben. Anderes hat er auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht behauptet.

Im Übrigen vermochte der Kläger zu 1. selbst nach ausführlicher informatorischer Befragung durch das Gericht nichts Verwertbares (vgl. etwa seine Antwort: „Wenn irgendwo etwas geschehen ist, wurden Leute wie ich mitgenommen oder vorgeladen.“) zu berichten, was seine individuelle Verfolgung in den Jahren 2009 bis 2016 anging. Auch die vermeintliche „Verschärfung“ der „inoffiziellen Meldeauflagen“ ist im Unklaren geblieben. Auf die Frage des Gerichts, wann er das letzte Mal von der Polizei bzw. dem FSB aufgesucht worden sei, gab er an, dies sei im Frühjahr 2015 gewesen. Diese Angabe steht in Widerspruch zu seiner Angabe beim Bundesamt, er sei im November 2015 das letzte Mal aufgesucht worden. Diesen Widerspruch vermochte er auch nicht aufzulösen. Insbesondere trifft es nach der Anhörungsniederschrift des Bundesamts nicht zu, dass er gesagt habe, im November 2015 „mitgenommen“ worden zu sein. Selbst wenn dies so sein sollte, erklärt dies den Widerspruch zwischen der Zeitangabe im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt und der Zeitangabe im Rahmen der informatorischen Befragung durch das Gericht nicht. Auch hat der Kläger zu 1. gegenüber dem Bundesamt erklärt, es habe im Rahmen seiner Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben. Die verfasste Niederschrift wurde ihm abschnittsweise rückübersetzt und für richtig befunden. Beides hat er mit seiner Unterschrift bestätigt. Hätte seinerzeit ein Irrtum vorgelegen, wäre die Berichtigung des Vortrags spätestens mit der Klagebegründung zu erwarten gewesen.

Ohnehin ist es nach den Erkenntnissen des Gerichts auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der russische Staat an denjenigen, die im ersten oder zweiten Tschetschenienkrieg für die Unabhängigkeit Tschetscheniens („Itschkeria“) gekämpft haben, nach dem Jahr 2011 noch irgendein Interesse gehabt hätte. Das gilt erst recht für solche Personen, die Kämpfern lediglich geholfen, selbst aber nicht an Kampfhandlungen teilgenommen haben und zu denen nach eigenen Angaben auch der Kläger zu 1. zählen soll. Die letzten Anfragen russischer Behörden mit Bezug auf Kampfhandlungen des ersten und zweiten Tschetschenienkriegs, die gefunden werden konnten, stammen aus dem Jahr 2011. Hinweise auf neuere Anfragen oder Verfolgungshandlungen tschetschenischer Behörden konnten nicht gefunden werden, ebenso wenig Hinweise darauf, dass russische Behörden tschetschenische Kämpfer der beiden Kriege suchen würden. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die russischen Behörden bei der Strafverfolgung mittlerweile auf IS-Kämpfer oder -Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 30. September 2019, Seite 49; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Version 14, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Seite 71). Dass der Kläger zu 1. zuletzt genanntem Personenkreis zuzurechnen sein sollte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Gegen die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung spricht weiterhin, dass vor ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation für die Kläger am 13. bzw. 18. November 2015 Reisepässe antragsgemäß ausgestellt wurden. Das Passantragsverfahren beinhaltet das Prüfen von Dokumenten und Abfragen einer Reihe von nationalen Datenbanken, die rückmelden, ob der Antragsteller wegen irgendwelcher Verstöße gesucht wird, unbezahlte Schulden oder Steuerschulden hat oder anderweitig für die Ausstellung eines Reisepasses nicht geeignet ist. Dann muss der Antragsteller persönlich zum biometrischen Scannen erscheinen und später das Dokument abholen. Allein das Beantragen eines Reispasses führt zwangsläufig dazu, dass der Antragsteller in den Fokus der Behörden gerät (Galeotti, Mark: Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, London, Juni 2019, Seite 8). Nach Klägerangaben soll es bei der Beantragung der Reisepässe jedoch zu keinerlei Problemen gekommen sein, was sich angesichts der behaupteten Verfolgung nicht erschließt. Insoweit ist festzuhalten, dass der Kläger zu 1. die betreffende Frage des Einzelrichters zunächst mit einem schlichten „Nein“ beantwortete. Den Vorhalt des Einzelrichters, er habe in der Anhörung beim Bundesamt laut Niederschrift angegeben, ein Bekannter, der bei der Polizei arbeite, habe ihm bei der Beantragung der Pässe geholfen, beantwortete er mit einem ebenso schlichten „Ja“. Wenn es sich tatsächlich so zugetragen hätte, hätte der Kläger zu 1. hiervon aus freien Stücken berichtet. Die weitere Nachfrage des Einzelrichters, wie ihm der Polizist geholfen haben soll, beantwortete er ausweichend dahingehend, der Polizist „hatte bei der Passbehörde einen Freund, der dafür sorgen sollte, dass die Reisepässe ausgestellt werden.“ Konkreter wurde er dabei nicht. Im Übrigen erläuterte er nicht, weshalb er beim Bundesamt lediglich von dem Polizisten berichtet hatte, der ihm geholfen habe. Die Ausstellung der Reispässe versetzte die gesamte Familie in die Lage, die Russische Föderation nunmehr gemeinsam zu verlassen, zumal die Reisepässe 2015 nach Klägerangaben genau zu diesem Zweck beantragt worden sind. Das vereinfachte es insbesondere dem Kläger zu 1., sich einem etwaigen Zugriff staatlicher Organe zu entziehen, ohne dazu seine Familie verlassen zu müssen. Hätte der Kläger zu 1. tatsächlich im Fokus tschetschenischer oder föderaler Behörden gestanden, wäre es im November 2015 keinesfalls zur Ausstellung der Reisepässe gekommen.

Schließlich haben die Kläger ihre Ausreise selbst organisiert und sind aus ihrer Heimat bis nach Brest (Belarus) mit dem Zug gereist. Bei dem Kauf der Bahnfahrkarten für die gesamte Familie ist es den Angaben der Kläger nach zu keinen Problemen gekommen ist. Wären staatliche Stellen in der Heimatregion oder landesweit tatsächlich ernsthaft daran interessiert gewesen, zumindest dem Kläger zu 1. habhaft zu werden, hätten die Kläger keinesfalls Bahnfahrkarten für die Fahrt nach Brest erwerben oder die entsprechenden Züge besteigen können. Denn der Kauf von Bahnfahrkarten im Fernverkehr ist in Russland nur unter Vorlage des Inlandspasses möglich (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 30. September 2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 03. Dezember 2019, Seite 83; Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevanten Lage vom 16. Dezember 2019 (Stand: Oktober 2019), Seite 22; Auskunft der Deutschen Botschaft in Moskau vom 07. Februar 2007 über die Notwendigkeit der Vorlage eines Passes bei Kauf einer Fahrkarte für einen Fernzug). Dies bedeutet, dass der Fahrkarteninhaber ab dem Fahrkartenerwerb namentlich bekannt und bei jeder Fahrkartenkontrolle identifizierbar ist. Hätte auch nur einer der Kläger in seiner Heimatregion oder landesweit im Visier der Behörden gestanden, hätte er nicht gemeinsam mit der restlichen Familie ungehindert mit der Bahn aus der Russischen Föderation ausreisen können. Dass jemand eine mehrtägige Bahnfahrt von Grosny über Moskau bis Brest – unmittelbar an der Grenze zu Polen – durchführen kann, obwohl er gesucht wird, hält das Gericht bereits deshalb für unwahrscheinlich, weil den russischen Sicherheitsbehörden genug Zeit geblieben wäre, den Betreffenden auch nach dem Fahrkartenkauf noch aufzugreifen. Bei einer bestehenden landesweiten Fahndung ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Betreffende im Zug z. B. anlässlich der Fahrkartenkontrolle aufgegriffen wird. Personen, die derartiges zu befürchten haben, nutzen nach den Erkenntnissen des Gerichts aus zahlreichen anderen Verfahren Schleuser, um auf anderen Wegen und mit anderen Transportmitteln die Russische Föderation zu verlassen und in die Europäische Union einzureisen (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 15. November 2019 – 1 K 1579/18.A –, juris Rn. 34).

Darüber hinaus steht den Klägern eine inländische Fluchtalternative innerhalb ihres Herkunftslandes, der Russischen Föderation, zur Verfügung, was eine etwaige Verfolgung durch tschetschenische Sicherheitsorgane angeht. Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).

Politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen steht in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 4 AufenthG i. V. m. Art. 8 QRL zur Verfügung. Tschetschenen steht auch bei einer unterstellten Vorverfolgung eine interne Schutzmöglichkeit innerhalb der Russischen Föderation offen, sofern keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zur nationalen Fahndung ausgeschrieben sind (VG Cottbus, Urteil vom 24. Mai 2023 – 1 K 823/21.A –, juris Rn. 46).

Für das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative spricht bereits die große Zahl von Tschetschenen, die sich außerhalb des Nordkaukasus in anderen Gebieten der Russischen Föderation niedergelassen haben. Laut Aussagen von Kadyrow sollen etwa 300.000 Tschetschenen in Russland außerhalb des Nordkaukasus leben. Zwischen 2008 und 2015 haben rund 150.000 Tschetschenen die Teilrepublik Tschetschenien verlassen, teils in andere Regionen der Russischen Föderation, teils ins Ausland. Tschetschenische Gemeinschaften sind über ganz Russland verteilt. Die offiziell größten Gemeinschaften von Tschetschenen leben in Dagestan (über 93.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in Moskau (über 14.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen) und in der Region Rostow (über 11.000 Personen), wobei die tatsächliche Zahl erheblich höher geschätzt wird. So soll es allein in Wolgograd etwa 20.000 statt der im Rahmen der Volkszählung 2010 erfassten knapp 10.000 Tschetschenen geben. Neben der Registrierung in Moskau als Hauptwohnsitz besteht z. B. auch die Möglichkeit, offiziell seinen ständigen Wohnsitz in Tschetschenien zu behalten, was bei einer recht großen Anzahl der in Moskau lebenden Tschetschenen der Fall ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 95 und 96; EASO, Die Situation der Tschetschenen in Russland, August 2018, Seite 12 bis 14 und Seite 17). Demnach vermag allein die Tatsache einer Registrierung, d. h. die Bekanntgabe des Wohnsitzes gegenüber staatlichen Stellen, noch nichts darüber auszusagen, ob jemandem landesweite Verfolgung droht, denn ansonsten wären die mehreren zehntausend bis hunderttausend außerhalb des Nordkaukasus registrierten Tschetschenen dieser Gefahr quasi flächendeckend ausgesetzt.

Es fehlt an Anhaltspunkten für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung für diejenigen Tschetschenen, die außerhalb ihrer Teilrepublik in der Russischen Föderation leben, weil sie in Tschetschenien Übergriffen durch Sicherheitskräfte ausgesetzt waren. Eine derartige Verfolgungsgefahr lässt sich nur in besonderen Einzelfällen begründen, wenn es sich um einen prominenten Kadyrow-Gegner handelt oder wenn jemand sich auf einer föderalen Fahndungsliste befindet. So haben am 20. Januar 2022 Männer, die dem Sicherheitsapparat Kadyrows zuzurechnen sind, die Frau des Richters J____ aus dem 400 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Nischni Nowgorod nach Tschetschenien verschleppt, wo sie anschließend inhaftiert wurde. Kadyrow verdächtigt zwei Söhne J____, hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal namens „1ADAT“ zu stehen. Die übrigen Mitglieder der Kernfamilie des Richters sind alle ins Ausland geflohen. Kadyrow droht, sie auch dort zu finden und zu „vernichten“ (VG Potsdam, Urteil vom 16. Februar 2022 – VG 16 K 2844/17.A –, juris, Seite 10 UA).

Nach neueren Erkenntnissen der österreichischen Botschaft Moskau reicht die Macht von Kadyrow im Allgemeinen aber nicht über die Grenzen der Teilrepublik Tschetschenien hinaus. Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gilt dessen Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Viele Personen innerhalb der russischen Elite einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates misstrauen und verachten Kadyrow. Es gibt Berichte über die „Feindseligkeit von Teilen der Sicherheitsstruktur gegenüber Ramsan Kadyrow und ihre Uneinigkeit mit dem Kreml über Tschetschenien“. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen allerdings, dass kriminelle Akte gegen explizite Regimegegner im In- und Ausland nicht gänzlich ausgeschlossen werden können (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 96 und 97; EASO, Die Lage der Tschetschenen in Russland, Stand August 2018, Seite 52). Jedoch zeigen sich die russischen Behörden durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 31. August 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 28. Februar 2019, Seite 10).

Zwar sind bzw. waren tschetschenische bewaffnete Gruppierungen, darunter auch Angehörige von Sicherheitskräften, in Moskau präsent. In Moskau gab es im Jahr 2015 mehr als zehn tschetschenische Gruppen, die bei „Streitigkeiten mit Wirtschaftsunternehmen“ bewaffnete Unterstützung anbieten. Solche Gruppen „besteuern“ Unternehmen und üben andere illegale Aktivitäten aus. Dabei dürfte es sich um organisierte Kriminalität handeln; dafür, dass diese Gruppen aus politischen Motiven heraus handeln, gibt es jedenfalls keinen Anhaltspunkt. Außerdem sollte es in Moskau etwa 30 Leibwächter von Kadyrow geben, wobei die letzten Berichte über diese Gruppe jedoch aus den Jahren 2013/2014 stammen (EASO, Die Situation der Tschetschenen in Russland, August 2018, Seite 15 und 16 sowie Seite 52).

Nach anderen Quellen sind weniger als 100 Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind, zu Operationen in Moskau berechtigt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 98). Das Netz von etwa 50 über ganz Russland verteilten tschetschenischen Büros, die die tschetschenische Republik in vielen russischen Regionen offiziell vertreten, sammelt keine Informationen über tschetschenische Binnenmigranten und tätigt auch sonst keine weiteren direkten Aktionen. Die tschetschenischen Gemeinden in Russland sind zwar teilweise Kadyrow bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker behilflich, aber es gibt keine Beweise, dass sie Informationen weitergeben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 96). Generell hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anzahl von tatsächlich Verfolgten sowohl im Inland als auch im Ausland gemessen an der Größe der tschetschenischen Diaspora innerhalb und außerhalb Russlands für quantitativ gering. Diese seien nur in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt. Diese nur selten begründbare Gefährdungslage werde benutzt, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa ständen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt werde. Laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums würden die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen emigrieren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, generiert am 21. März 2021, Version 2, Seite 80 und 81).

Ebenso wenig bestehen verlässliche Berichte darüber, dass die russischen Sicherheitsbehörden außerhalb des Nordkaukasus tschetschenische Sicherheitskräfte bei der Suche nach etwaigen aus deren Sicht Verdächtigen in jedem Fall unterstützen würden. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny seien. Die föderalen Sicherheitsbehörden machten einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt seien, und von jenen, denen nur vorgeworfen werde, Verbrechen begangen zu haben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 97).

Ein Vertreter der Chechen Social and Cultural Association betrachtete es als unmöglich für die tschetschenischen Behörden, einen low-profile-Unterstützer der Rebellen in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens ausfindig zu machen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein könne (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 01.Juni 2016, letzte Kurzinformation eingefügt am 17. November 2016, Seite 76). Nach einer westlichen Botschaft und einem Bericht des Danish Immigration Service (DIS) dürfen tschetschenische Behörden die offiziellen Kanäle nicht für die Suche nach Personen in anderen Teilen Russlands nutzen. Die formalen Verfahren für solche Überstellungen seien recht langwierig und der Fall müsse durch Beweise untermauert werden. Entweder hätten die befragten Quellen nichts über gerichtliche Überstellungen mutmaßlicher Unterstützer oder Angehöriger der tschetschenischen Rebellen aus anderen Teilen der Russischen Föderation gewusst oder sie hätten sich nur auf ältere Fälle von 2008 bis 2011 bezogen. Demnach bedarf es für eine Suche und offizielle Überstellung mindestens eines entsprechenden föderalen Rechtsaktes, der auch in den Augen der russischen Behörden aussagefähig ist.

Soweit ein Analyst der Internationalen Krisengruppe in Moskau gegenüber dem DIS erklärte, die tschetschenische Polizei verhafte „manchmal“ Menschen in anderen Regionen Russlands und die Abteilung zur Bekämpfung von Extremismus des tschetschenischen Innenministeriums könne im ganzen Land agieren, wird als Beleg dafür lediglich den Fall des Murad Amriev genannt, der 2017 beinahe in Brjansk durch die russische Staatsanwaltschaft an tschetschenische Strafverfolgungsbeamte übergeben worden wäre, dem aber die Flucht ins Ausland gelang (EASO, Die Lage der Tschetschenen in Russland, Stand August 2018, Seite 55). Dieser Fall belegt aber gerade die oben dargelegten Erkenntnisse, dass nur solche Personen, gegen die ein entsprechender föderaler Rechtsakt erlassen wurde, nach Tschetschenien überstellt werden können, denn Amriev befand sich laut einer Information von „Human Rights Watch“ vom 9. Juni 2017 wegen des Vorwurfs der Urkundenfälschung auf einer föderalen Fahndungsliste. Insofern gibt der Fall nichts zu anderen Personen her, gegen die ein derartiger Rechtsakt nicht vorliegt, und kann nicht als Anhaltspunkt für eine generelle Verfolgungsgefahr durch tschetschenische Sicherheitskräfte auf dem gesamten russischen Territorium gelten.

Das Auswärtige Amt geht auch nicht von einer flächendeckenden Kontrolle eigener Staatsangehöriger bei der Wiedereinreise in die Russische Föderation aus, sondern gibt lediglich an, es lägen Hinweise darauf vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, vom 28. September 2022 (Stand: 10. September 2022), Seite 27).

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger in der Russischen Föderation zur Fahndung ausgeschrieben wären oder dass gegen sie ein sonstiger Rechtsakt erlassen worden wäre, auf dessen Grundlage sie aus anderen Teilrepubliken der Russischen Föderation nach Tschetschenien gebracht werden könnten (vgl. zu diesen Rechtsakten Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, vom 28. September 2022 (Stand: 10. September 2022), Seite 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 97).

Bei den Klägern handelt es sich aus Sicht der Behörden um in der gesamten Russischen Föderation prominente Persönlichkeiten oder um bekannte bzw. hochrangige Kämpfer. Selbst aus gewalttätigen Übergriffen tschetschenischer Sicherheitskräfte innerhalb der eigenen Teilrepublik kann nicht der Schluss gezogen werden, dass der Betreffende auch jetzt bei einer Rückkehr in eine andere als seine Heimatregion von staatlichen Akteuren zu diesem Zweck festgehalten und möglicherweise gefoltert wird. Es liegen dem Gericht keinerlei Erkenntnisse vor, dass dieses System der unrechtmäßigen und anlasslosen Ingewahrsamnahme auch außerhalb der Nordkaukasusregion derart praktiziert wird (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 26. Juli 2017 – 3 A 253/16 –, juris Rn. 25).

Die Kläger können auch sicher und legal in den sicheren Landesteil reisen, werden dort aufgenommen und es kann von ihnen vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich dort niederlassen. Bei der Prüfung, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach § 3e Abs. 1 AsylG erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 QRL zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG). Erforderlich ist, dass der Ausländer am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein wirtschaftliches Existenzminimum, sei es durch eigene Arbeit, sei es durch staatliche oder sonstige Hilfen, sichern kann und nicht der Obdachlosigkeit ausgesetzt ist. Dabei sind einem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Kaukasier mit Hauptschulabschluss und grundlegenden Russischkenntnissen außer kriminellen Tätigkeiten alle Arbeiten zumutbar, auch solche, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 – 1 VR 3/17 –, juris Rn. 119). Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht, ist dagegen nicht zumutbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 01. Februar 2007 – 1 C 24/06 –, juris Rn. 11).

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Für eine legale Aufenthaltnahme bedarf es einer Registrierung, wozu der Inlandspass und ein Wohnraumnachweis vorgelegt werden müssen. Tatsächlich schränken einige regionale Behörden die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten u. a. aus dem Kaukasus ein, wodurch die Möglichkeit, sich dort zu registrieren beschränkt ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 92 und 93).

Stichhaltige Anhaltspunkte für eine generelle Verweigerung der Registrierung innerhalb der gesamten Russischen Föderation liegen nicht vor. Zwar ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnismitteln, dass sich Nordkaukasier wegen ihrer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation Übergriffen und Diskriminierungen seitens der Behörden, aber auch durch gesellschaftliche Kräfte ausgesetzt sehen können. Gleichwohl kann aufgrund dieser Situation nur dann von fehlender Verfolgungssicherheit ausgegangen werden, wenn es sich bei den zu gewärtigenden Maßnahmen um Verfolgungshandlungen im Rechtssinne handelt und diese eine Dichte haben, die zur Annahme einer Gruppenverfolgung ausreicht. Das Vorliegen einer Verfolgungshandlung beurteilt sich nach § 3a AsylG. Wenngleich festzustellen ist, dass Nordkaukasier in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen, so ist damit die Schwelle für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht überschritten. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 01. Februar 2007 – 1 C 24.06 –, juris Rn. 7). Objektive Anhaltspunkte, die eine derartige Behandlung von Personen aus dem Nordkaukasus in der Russischen Föderation als nicht nur ganz entfernte und damit durchaus reale und nicht nur theoretische Möglichkeit erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08. September 1992 – 9 C 8/91 –, juris Rn. 14), sind indes nicht ersichtlich. Angesichts der oben genannten Vielzahl von in der Russischen Föderation sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Nordkaukasiern bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben zu gegen sie gerichteten Maßnahmen keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen Verfolgungsbetroffenheit.

Das generelle Erfordernis der Registrierung hat wie oben bereits erwähnt nicht die beachtlich wahrscheinliche Gefahr zur Folge, durch tschetschenische Sicherheitskräfte an anderen Orten der Russischen Föderation aufgefunden und nach Tschetschenien überstellt werden zu können. Dies erscheint auch angesichts der vorliegenden Erkenntnisse zum Registrierungsverfahren unwahrscheinlich, denn die Abmeldung muss nicht über die Behörden der ursprünglichen Adresse vorgenommen, sondern kann auch an der neuen Adresse durchgeführt werden. Mit der Abmeldung wird zur Bestätigung ein Stempel in den Inlandspass gesetzt. Wenn eine Person ihren neuen dauerhaften Wohnsitz anmeldet, während ihr alter Wohnsitz noch nicht abgemeldet ist, wird die Abmeldung gleich am Ort der Anmeldung der neuen Adresse vorgenommen. Generell stellt die Anmeldung für Personen aus dem Nordkaukasus kein Problem dar, selbst wenn sie diskriminiert werden oder einem korrupten Verhalten der Beamten ausgesetzt sind, denn letztendlich erhalten sie ihre Anmeldungen. EASO hat trotz weiterer Recherchen für den Bericht 2018 keine neueren Informationen zur Registrierungspraxis ermitteln können (EASO, Die Situation der Tschetschenen in Russland, August 2018, Seite 19 und 20). Demnach ist nicht ersichtlich, wie tschetschenische Sicherheitsbehörden überhaupt Kenntnis von einer neuen Registrierung außerhalb Tschetscheniens erlangen sollten.

Soweit S___ G__ vom Komitee für Bürgerbeteiligung im Gegensatz dazu behauptet, dass bei der Anmeldung an einer neuen Adresse die Informationen automatisch an das Meldeamt der alten Adresse gesendet würden und diese Informationen von etwaigen Verfolgern „leicht abgerufen“ werden könnten, handelt es sich hierbei um eine für das Gericht nicht überprüfbare Spekulation. Es erhebt sich bereits die Frage, wie Verfolger überhaupt Kenntnis von der neuen Anmeldung erlangen; eine Kenntnisnahme würde voraussetzen, dass jeder Verfolger regelmäßig sämtliche Meldeänderungen überprüfen würde, was bereits aus praktischen Erwägungen heraus, aber auch angesichts von Datenschutzvorschriften, unwahrscheinlich ist. Nach Einschätzung des DIS ist außerdem fraglich, ob diese Informationen tatsächlich von den Behörden aufgegriffen und verwendet werden. Dies hänge davon ab, wie wichtig die Person für die Behörden sei. Wenn diese Person nicht von Bedeutung sei, werde vielleicht gar nichts passieren (EASO, Die Lage der Tschetschenen in Russland, Stand August 2018, Seite 53 und 54).

Außerdem fehlt es wie oben schon ausgeführt an belastbaren Berichten in hinreichender Anzahl über das Tätigwerden tschetschenischer und/oder russischer Sicherheitskräfte in anderen Teilen der Russischen Föderation gegenüber im Inland migrierten Nordkaukasiern allein aufgrund einer neuen Registrierung. Angesichts der mehreren Zehntausend Nordkaukasier, die sich in der Russischen Föderation außerhalb der Nordkaukasusregion dauerhaft angesiedelt und dabei auch neu registriert haben, müsste es aber zahlreiche solche Berichte geben, wenn dieses Risiko so real wäre wie teilweise behauptet.

In einer Gesamtbetrachtung der konkreten wirtschaftlichen und sozialen Situation in der Russischen Föderation, der dort allgemein zugänglichen sozialen Sicherungssysteme und der individuellen Situation der Kläger liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es ihnen aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen unzumutbar wäre, ihren Aufenthalt innerhalb der Russischen Föderation – außerhalb von Tschetschenien – zu nehmen.

Es ist nach den Erkenntnissen des Gerichts nicht zu erwarten, dass die Kläger nach der Rückkehr nicht zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einschließlich des Wohnbedarfs in der Lage wären. Die Armutsgefährdung stellt in der Russischen Föderation ein flächendeckendes Problem dar, von dem bis zu 63 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Teilweise wird diese Gefährdung durch die vorhandenen sozialen Sicherungssysteme aufgefangen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 31. August 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 12. November 2018, Seite 84). Die Kläger sind im Fall der Rückkehr von drohender Armut nicht in größerem Umfang als die Bevölkerung insgesamt betroffen.

Die russische Verfassung definiert die Russische Föderation als Sozialstaat und garantiert Bürgern soziale Unterstützung sowie eine obligatorische Sozialversicherung. Es ist ein System der sozialen Sicherheit und sozialen Fürsorge in Russland vorhanden, welches Renten auszahlt und die vulnerabelsten Bürger unterstützt. Zum Kreis vulnerabler Gruppen zählen Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit Behinderungen sowie ältere Menschen. Der Staat bietet verschiedene Sozialleistungen an, wovon unter anderem folgende Personengruppen profitieren: Veteranen, Waisenkinder, ältere Personen, Alleinerziehende, Erwerbslose, Landbewohner, Menschen mit Behinderungen, Familien, Rentner, Bewohner des hohen Nordens sowie Familienangehörige Militärbediensteter und von infolge der Ausübung ihrer Dienstpflichten verstorbenen Bediensteten des Innenressorts. Das föderale Rentenversorgungsgesetz zählt folgende staatliche Rentenleistungen auf: Renten für langjährige Dienste; Alters-; Invaliditäts-; Hinterbliebenen- und Sozialrenten. Gemäß dem russischen Sozialfonds erhalten alle Rentner, welche keiner Arbeit nachgehen, und deren finanzielle Mittel unter dem Existenzminimum für Rentner liegen, einen Sozialzuschlag zur Rente. Dadurch erfolgt eine Anhebung bis zur Höhe des Existenzminimums. Zum 01. Januar 2023 wurden der Renten- und der Sozialversicherungsfonds zum neu geschaffenen „Fonds für Renten- und Sozialversicherung der Russischen Föderation“ (kurz „Sozialfonds“) verschmolzen. Zu den Aufgaben des neu geschaffenen Sozialfonds gehört die Auszahlung von Renten und staatlicher finanzieller Hilfen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 118 und 119).

Es gibt ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien. Die Dauer des Mutterschaftsurlaubs beträgt 140 Tage: 70 Tage vor und 70 Tage nach der Geburt. Bei Mehrlingsgeburten kann ein Mutterschaftsurlaub von 194 Tagen in Anspruch genommen werden. Die Höhe des Mutterschaftsgeldes beträgt im Jahr 2024 mindestens 88.565 Rubel [ca. 911 Euro] und maximal 783.707 Rubel [ca. 8.063 Euro]. Ist die Versicherungsdauer kürzer als sechs Monate, wird eine finanzielle Unterstützung maximal in der Höhe des Mindestlohns zuerkannt. Eine Einmalzahlung wird russischen Staatsbürgerinnen gewährt, wenn sie ihre Schwangerschaft spätestens in der 12. Schwangerschaftswoche bei einer medizinischen Einrichtung registrieren und das Pro-Kopf-Einkommen der Familie das regionale Existenzminimum nicht übersteigt. Außerdem gibt es eine Einmalzahlung bei der Geburt eines Kindes (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 119 und 120).

Das Mutterschaftskapital, gesetzlich auch als Familienkapital bezeichnet, wird vorrangig der Mutter gewährt. Wenn beispielsweise die Mutter verstorben ist, bezieht der Vater das Mutterschaftskapital. Für den Erhalt des Mutterschaftskapitals ist kein Antrag erforderlich. Das Mutterschaftskapital ist eine bargeldlose, zweckgebundene Leistung und darf für die Ausbildung der Kinder, zur Verbesserung der Wohnverhältnisse, für die Pensionsfürsorge sowie für die gesellschaftliche Integration beeinträchtigter Kinder verwendet werden. Die Höhe des Mutterschaftskapitals beträgt für das Jahr 2024 ca. 630.381 Rubel [ca. 6.485,00 Euro] für das erste Kind und 883.025 Rubel [ca. 8.570 Euro] für das zweite Kind. Familien mit niedrigem Einkommen können das Mutterschaftskapital in Form monatlicher Auszahlungen für die Kinder erhalten. Die monatlichen Auszahlungen enden mit dem dritten Geburtstag des Kindes (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 120).

Kinderbetreuungsgeld wird zuerkannt, bis das Kind 1,5 Jahre alt ist. Im Jahr 2024 beträgt die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes mindestens 9.227,24 Rubel [ca. 95 Euro] und maximal 49.123,12 Rubel [ca. 505 Euro]. Bestand kein Arbeitsverhältnis, beträgt die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes 9.227,24 Rubel [ca. 95 Euro]. Im Rahmen des Nationalen Projekts „Demografie“ wurden im Laufe von fünf Jahren mehr als 1.670 neue Kindergärten mit Kinderkrippen für Kinder von bis zu drei Jahren eröffnet und mehr als 260.000 Plätze geschaffen. Die Kosten für den staatlichen Kindergarten, welche von den Eltern zu tragen sind, werden von den örtlichen Behörden festgelegt und sind unter anderem vom Alter des Kindes abhängig. Die örtlichen Behörden entscheiden, wer in den Genuss einer Kostenrückerstattung kommt. In der Regel werden mindestens 20 % der Kosten für ein Kind rückerstattet, 50 % für das zweite Kind und 70 % für jedes weitere Kind. In einigen Regionen ist die Rückerstattung der Kosten für Privatkindergärten möglich, beispielsweise in Moskau. Für bedürftige russische Familien, welche sich dauerhaft auf dem Gebiet der Russischen Föderation aufhalten, gibt es eine monatliche finanzielle Unterstützung für Kinder im Alter von 8 bis 17 Jahren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 120).

Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Sollte es dem Arbeitsamt nicht gelingen, der arbeitssuchenden Person binnen zehn Tagen einen Arbeitsplatz zu beschaffen, wird der betreffenden Person der Arbeitslosenstatus und somit eine monatliche Arbeitslosenunterstützung zuerkannt. Während der ersten drei Monate erhält die arbeitslose Person 75 % des Durchschnittseinkommens des letzten Beschäftigungsverhältnisses, jedoch höchstens 12.792 Rubel [ca. 132 Euro]. Während der folgenden drei Monate beträgt die Höhe der Arbeitslosenunterstützung 60 % des Einkommens bzw. höchstens 5.000 Rubel [ca. 51 Euro]. Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt 1.500 Rubel [ca. 15 Euro]. Um den Anspruch auf monatliche Arbeitslosenunterstützung geltend machen zu können, haben sich die Arbeitslosengeldbezieher alle zwei Wochen im Arbeitsamt einzufinden. Außerdem dürfen sie beispielsweise nicht in eine andere Region umziehen und keine Rentenbezieher sein. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Sie stellen verschiedene Dienstleistungen zur Verfügung. Arbeitssuchende, die beim Rostrud registriert sind, dürfen an kostenlosen Fortbildungskursen teilnehmen, um so ihre Qualifikationen zu verbessern (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 121 und 122).

Die russische Verfassung garantiert das Recht auf Wohnraum. Laut der Verfassung wird bedürftigen Personen Wohnraum kostenlos oder zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt. Bürger ohne Unterkunft oder mit einer Substandard-Unterkunft und sehr geringem Einkommen dürfen kostenfreie Wohnungen beantragen. Es gibt Schutzunterkünfte für Opfer von Menschenhandel und häuslicher Gewalt, für alleinerziehende Mütter und andere vulnerable Gruppen. Für gewöhnlich werden diese Unterkünfte von örtlichen NGOs verwaltet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 122).

Seit 2018 wird das Rentenalter für Männer und Frauen allmählich angehoben. Im Jahr 2018 betrug das Renteneintrittsalter 55 Jahre für Frauen und 60 Jahre für Männer. 2028 soll das Rentenalter auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer angehoben sein. Für bestimmte Personengruppen ist keine Erhöhung des Rentenalters vorgesehen, beispielsweise für Schwerarbeiter und Personen in gefährlichen Berufsbereichen. Ebenfalls nicht betroffen von der Erhöhung des Rentenalters sind Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten. Im Jahr 2022 waren für den Anspruch auf eine Altersrente Beschäftigungsverhältnisse von mindestens 13 Jahren erforderlich. Für das Jahr 2024 beträgt die Höhe des Existenzminimums für Rentner in Russland 13.290 Rubel [ca. 137 Euro] (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 124).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist es den Klägern zumutbar und kann von ihnen daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass sie ihren Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nehmen, weil dort ihr soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gesichert ist.

Dass einer der Kläger arbeitsunfähig wäre, ist weder dargetan noch ersichtlich. Der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt 41 Jahre alte Kläger zu 1. will in der Heimat die 11. Schulklasse abgeschlossen und sodann als Maurer auf dem Bau gearbeitet haben. Die Klägerin zu 2., im entscheidungserheblichen Zeitpunkt 39 Jahre alt, hat ihren Angaben nach in der Heimat ebenfalls die 11. Schulklasse absolviert und anschließend in Kasachstan Jura studiert. Wenngleich sie in dem Bereich noch nicht gearbeitet hat, steht ihr dieser Beruf auch weiterhin offen. Zuletzt will sie in der Heimat als Köchin in einer Schule gearbeitet haben. Zusätzlich können die Kläger zu 1. und 2. mit derzeit vier minderjährigen Kindern staatliche Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen.

Zudem ist die allgemeine wirtschaftliche und soziale Situation in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens sogar besser als in der Heimatrepublik der Kläger, sodass ihre Erwerbschancen dort noch besser sein werden. Denn im Nordkaukasus ist die Verarmung der Bevölkerung im Vergleich zum Gesamtstaat überdurchschnittlich. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in der Russischen Föderation bieten trotz der vergangenen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen für russische Staatsangehörige aus der eher strukturschwachen Region des Nordkaukasus. Parallel dazu zeigt sich die russische Regierung bemüht, auch die wirtschaftliche Entwicklung des Nordkaukasus selbst voranzutreiben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 30. September 2019, Seite 88).

Spezifische Probleme für Rückkehrer in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht bestehen nicht. Durch Behörden werden Rückkehrer nicht diskriminiert. Die Kläger haben daher Zugang zu den bestehenden Sozialleistungen. Daneben können sie z. B. Mikrokredite für Kleinunternehmen und regionale Zuschüsse zur Förderung einer Unternehmensgründung in Anspruch nehmen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 31. August 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 12. November 2018, Seite 99 und 100).

Zusätzlich können die Kläger zur Überwindung anfänglicher Engpässe auf Mittel in Form von Rückkehrhilfen zurückgreifen, die über das Bundesamt bzw. die zuständige Ausländerbehörde beantragt werden können. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass es sich hierbei um Leistungen handelt, auf die kein Rechtsanspruch besteht, weshalb sie nur zusätzlich zu den übrigen Erwägungen hinsichtlich der Möglichkeit, das Existenzminimum im Rahmen der internen Fluchtalternative zu sichern, in Betracht zu ziehen sind.

Auch führen die wirtschaftlichen Folgen der aufgrund des Angriffskrieges in der Ukraine gegen die Russische Föderation verhängten Sanktionen in dem für die insoweit zu treffende Prognoseentscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht etwa dazu, dass den Klägern die Sicherung des existenziellen Lebensunterhalts nicht möglich sein wird. Hierfür fehlt es unter Berücksichtigung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in der Russischen Föderation trotz der aktuell verhängten Sanktionen (vgl. hierzu im Einzelnen: VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 22. März 2022 – 6 K 1110/17.A –, juris Rn. 40 ff.) sowie der Lage der Kläger an greifbaren Anhaltspunkten.

Es liegen auch keine Nachfluchtgründe gemäß § 28 Abs. 1a AsylG vor.

Nach der Erkenntnislage zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und 3. bei einer Rückkehr in die Russische Föderation mit einer Einziehung zum Militärdienst und anschließender Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine rechnen müssen.

Der Einzelrichter sieht sich bereits gehindert, die volle Überzeugung von der Echtheit der vorgelegten Vorladungen zum Militärkommissariat in U___-M___ zu erlangen.

Im Online-Rechtsinformationssystem der russischen Regierung findet sich ein Erlass über die Einberufung von Bürgern der Russischen Föderation zum Militärdienst. Dieser Erlass enthält ein Muster für einen Einberufungsbefehl (vgl. Bundesamt für Migration und Asyl der Republik Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Russische Föderation: Muster für einen Einberufungsbefehl, 07. September 2022). Der den Kläger zu 1. betreffende Einberufungsbefehl entspricht diesem Muster in wesentlichen Teilen nicht. So fehlt das abzutrennende Empfangsbekenntnis, das von dem Empfänger der Benachrichtigung zu unterzeichnen ist. Darüber hinaus ist die Seriennummer nicht wiedergegeben und es fehlt an einer Unterschrift des Militärkommissars. Auch fehlt die übliche Aufforderung, einen Pass oder ein anderes Personendokument mit sich zu führen. Laut dem Text sollte der Kläger zu 1. am 05. April 2023 um 09:00 Uhr vor der Einberufungskommission der Abteilung Vorbereitung und Einberufung der Bürger zum Wehrdienst erscheinen und verschiedene medizinische Unterlagen bei sich haben. Gegen die Echtheit des Dokuments spricht insoweit, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits 40 Jahre alt und daher nicht mehr wehrpflichtig war. Männliche russische Staatsangehörige wurden seinerzeit nur im Alter zwischen 18 und 27 Jahren zur Stellung für den einjährigen Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 33 und 34; ACCORD; Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation (u. a. zur Wehrpflicht) vom 16. Mai 2022, Seite 2; EUAA, Treatment of military deserters by state authorities since the February 2022 invasion of Ukraine, 05. April 2022, Seite 2).

Auch dem den Kläger zu 3. betreffenden Einberufungsbefehl fehlt das Empfangsbekenntnis. Laut dem Text sollte der am 0_____ geborene Kläger zu 3. zur militärischen Erstuntersuchung am 0_____ um 0_____ Uhr beim Militärkommissariat der Tschetschenischen Republik Stadt U___-M___ zu erscheinen. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger 1_____ und 2_____ alt. Gemäß dem föderalen Gesetz „Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst“ unterliegen männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und (nunmehr) 30 Jahren der Einberufung zum Grundwehdienst. Die Entscheidung, ob eine Person einberufen wird oder nicht, darf erst dann getroffen werden, wenn die Person mindestens 18 Jahre alt ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Version 14, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Seite 35). Dies zugrunde gelegt, ergibt es keinen Sinn, den Kläger zu 3. bereits unmittelbar mit Erreichen des 1_____ Lebensjahres körperlich zu mustern. Denn auf Grundlage dieser Musterung dürfte die Entscheidung über die Einberufung zum Grundwehrdienst frühestens ein Jahr später kaum mehr verlässlich zu treffen sein, da sich sein Gesundheitszustand und seine daraus resultierende Tauglichkeitskategorie binnen eines Jahres entscheidend verändern könnten. Die Musterung müsste dann wiederholt werden, was schon im Hinblick auf die nur begrenzt vorhandenen Ressourcen nicht Interesse des Staates sein kann.

Soweit man ungeachtet dessen gleichwohl unterstellen wollte, den Klägern zu 1. und 3. drohe bei einer Rückkehr nach Tschetschenien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zwangsrekrutierung in militärische Einheiten, die unter der Kontrolle des russischen Verteidigungsministeriums stehen und im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden, sind sie auch insoweit auf eine innerstaatliche Fluchtalternative außerhalb Tschetscheniens und innerhalb der Russischen Föderation zu verweisen.

Es ist schon nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und 3. bei einer Rückkehr in die Russische Föderation außerhalb Tschetscheniens überhaupt zum Militärdienst eingezogen würden.

Als Grundwehrdienstleistender müsste der Kläger zu 3. jedenfalls nicht mit einem Einsatz im Krieg gegen die Ukraine rechnen.

Nach der Gründung einer de facto unabhängigen tschetschenischen Republik 1991 hörten die Tschetschenen auf, in der russischen Armee zu dienen. Die beiden Tschetschenienkriege von 1994 bis 1996 und von 1999 bis 2000 führten zu tiefen ethnischen Spannungen zwischen Russen und Tschetschenen. In der Folge dienten Tschetschenen nur in Spezialeinheiten auf tschetschenischem Territorium. Erst 2014 wurde die Wehrpflicht für die russische Armee in Tschetschenien wiedereingeführt, wobei nur ein sehr kleiner Bruchteil der Wehrpflichtigen einberufen wird, durchschnittlich 500 Personen pro Einberufungsperiode. Die Tschetschenen werden über das ganze Land verteilt und verschiedenen Militäreinheiten zugeteilt. Es ist daher nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 3. von den russischen Militärbehörden außerhalb Tschetscheniens zum Grundwehrdienst einberufen würde. Die tschetschenischen Behörden führen mit Ausnahme von Dagestan außerhalb von Tschetschenien keine Rekrutierungen zum Militärdienst durch (OVG für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. Juni 2024 – 4 LB 215/20 OVG –, juris Rn. 63 unter Verweis auf: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Themenbericht der Staatendokumentation Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, Version 1, veröffentlicht am 02. April 2024, Seite 6; EASO, Die Situation der Tschetschenen in Russland, August 2018, Seite 40).

Die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung des Klägers zu 3. erscheint unabhängig von seiner ethnischen Herkunft auch deshalb herabgesetzt, weil nur eine Minderheit der Wehrpflichtigen überhaupt zum Grundwehrdienst einberufen wird. Zwar sind männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 30 Jahren gesetzlich zum Grundwehrdienst verpflichtet. Einberufungen finden in der Regel zweimal im Jahr statt. Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Grundwehrdienstpflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst einberufen werden. In der Regel beträgt die Einberufungsquote jedoch nur etwa ein Drittel der jungen Männer, die in dem betreffenden Jahr das wehrpflichtige Alter erreichen (OVG für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. Juni 2024 – 4 LB 215/20 OVG –, juris Rn. 64 unter Verweis auf: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Themenbericht der Staatendokumentation Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, Version 1, veröffentlicht am 02. April 2024, Seite 5 f.).

Grundwehrdienstleistende können zudem, sofern sie sich nicht freiwillig für friedenserhaltende Maßnahmen im Ausland melden, grundsätzlich ausschließlich auf dem Territorium der Russischen Föderation eingesetzt werden. Derzeit gibt es keine Hinweise auf eine Beteiligung russischer Grundwehrdienstleistender an Kampfhandlungen in der Ukraine. Allerdings werden Grundwehrdienstleistende auf der von Russland besetzten ukrainischen Halbinsel Krim sowie zur Grenzsicherung entlang der russisch-ukrainischen Grenze eingesetzt. Zudem werden sie unter Druck gesetzt, Verträge mit der Armee zu unterzeichnen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Themenbericht der Staatendokumentation Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, Version 1, veröffentlicht am 02. April 2024, Seite 15). Die russische Reserve setzt sich wie folgt zusammen: Neben der aktiven Reserve, die aus Personen besteht, die Wehrdienst geleistet und einen militärischen Rang erworben haben oder die ein militärisches Training für Reserveoffiziere absolviert und sich vertraglich verpflichtet haben, verfügen die russischen Streitkräfte über eine generelle Reserve, die im Falle einer Mobilmachung herangezogen werden kann. Diese generelle Reserve besteht aus Männern, die aus der russischen Armee entlassen und dann in die Reserve aufgenommen wurden, die Wehr- oder Wehrersatzdienst geleistet haben, die ein Studium an einer militärischen Bildungseinrichtung oder eine militärische Ausbildung an einer staatlichen Bildungseinrichtung absolviert haben, die vom Wehrdienst bis zum Erreichen der Altersgrenze befreit oder zurückgestellt worden sind, die wegen Erreichen der Altersgrenze nicht zum Wehrdienst verpflichtet wurden oder die keinen Wehrdienst geleistet haben, ohne dass es dafür einen rechtlichen Grund gibt (EUAA, The Russian Federation – Military service, Dezember 2022, Seite 22 bis 24). Zu dem vorgenannten Personenkreis zählt der Kläger zu 3. nicht. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall seiner Einberufung zum Grundwehrdienst ist daher ein Einsatz im Ukrainekrieg für ihn auf absehbare Zeit nahezu ausgeschlossen (so auch: OVG für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. Juni 2024 – 4 LB 215/20 OVG –, juris Rn 65; a. A. VG Berlin, Urteil vom 20. März 2023 – 33 K 143.19 A –, juris Rn. 85 ff.).

Im Übrigen vermochte sich der Einzelrichter keinen Eindruck von der Persönlichkeit des Klägers zu 3. verschaffen, nachdem er der mündlichen Verhandlung unentschuldigt ferngeblieben ist, sodass er auch keine Überzeugung davon erlangen konnte, dass der Kläger zu 3. einem durch russische Behörden – angesichts eines verschärften Personalbedarfs der russischen Streitkräfte – möglicherweise ausgeübten Druck zur Rekrutierung als Vertragssoldat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht standhalten könnte. Sämtlichen Klägern ist ausdrücklich ihr persönliches Erscheinen zum Termin am 12. Juli 2024 in der Ladung geraten worden, wenn in der mündlichen Verhandlung weitere Äußerungen zu den Fluchtgründen gemacht werden sollen. Der Kläger zu 3. ist den ihm nach § 15 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 86 Abs. 1 2. Halbsatz VwGO obliegenden Mitwirkungspflichten durch sein Nichterscheinen nicht in geeigneter Weise nachgekommen und andere Erkenntnismittel standen dem Gericht insoweit nicht zur Verfügung.

Eine Einberufung des zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt 41 Jahre alten Klägers zu 1. ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich. Er ist entsprechend den o. g. Ausführungen aufgrund seines Alters nicht mehr grundwehrpflichtig. Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist auch die am 21. September 2022 durch Präsident Putin ausgerufene Teilmobilmachung de facto abgeschlossen, auch wenn der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung nach wie vor in Kraft ist. Soweit danach formal betrachtet eine Einziehung des Klägers zu 1. als Reservist auf Seiten der russischen Streitkräfte im Rahmen des Angriffskrieges gegen die Ukraine möglich wäre, ist zu berücksichtigen, dass der Erlass nur auf diejenigen russischen Staatsangehörigen angewendet werden soll, die zuvor in den russischen Streitkräften gedient und einschlägige Spezialisierungen oder Kampferfahrung erworben haben (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 24. Mai 2023 – 1 K 823/21.A –, juris Rn. 82 bis 84 m. w. N.). Zu diesem Personenkreis zählt der Kläger zu 1. als ungedienter ehemaliger Wehrpflichtiger nicht.

Dem Gericht liegen darüber hinaus keine Erkenntnisse dazu vor, dass derzeit trotz Verkündung des Endes der Teilmobilmachung weiterhin außerhalb Tschetscheniens eine Massenmobilisierung stattfindet und Reservisten flächendeckend in einem Ausmaß verdeckt rekrutiert würden, welches im Falle des Klägers zu 1. eine Einberufung zum Kriegsdienst beim russischen Militär beachtlich wahrscheinlich macht (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 24. Mai 2023 – 1 K 823/21.A –, juris Rn. 85). Allenfalls Migranten und kürzlich eingebürgerte russische Staatsbürger sind aktuell Zwangseinberufungen im Rahmen der sogenannten verdeckten Mobilmachung ausgesetzt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Themenbericht der Staatendokumentation Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, Version 1, veröffentlicht am 02. April 2024, Seite 16).

Den Klägern zu 1. und 3. ist schließlich auch nicht wegen befürchteter Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen stellen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen. Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher – nichtpolitischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (sogenannter „Politmalus“). Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen auch daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden. Demgegenüber liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient (Sächsisches OVG, Urteil vom 12. Januar 2024 – 2 A 1107/19.A –, juris Rn. 21 m. w. N.).

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die von den Klägern zu 1. und 3. zu befürchtenden Sanktionen aufgrund asylerheblicher Merkmale härter wären als für andere zum Militärdienst eingezogene Personen, die der Einberufung nicht Folge leisten. Eine Desertion im Sinne des russischen Strafgesetzbuches kann nur dann begangen werden, wenn bereits aktiver Wehrdienst geleistet wird. Die Nichtbefolgung eines Einberufungsbefehls stellt daher nie eine Desertion dar (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 58). Zur Frage der Wehrdienstentziehung und Desertion und den hierfür nach russischem Recht bestimmten Sanktionen wird auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 59 f. verwiesen.

2. Auch der Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg. Bei den Klägern sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht erfüllt.

Gemäß § 4 AsylG ist ein Antragsteller subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Die Todesstrafe droht in der Russischen Föderation seit 2009 nicht mehr, da sie de facto abgeschafft ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 10. März 2022, Version 6, Seite 19). Für eine Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gibt es hier keine Anhaltspunkte. Bezüglich drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung sind die Kläger auf die o. g. Ausführungen im Rahmen des Flüchtlingsschutzes zu verweisen. Anderes folgt auch nicht aus dem seit dem 24. Februar 2022 von der Russischen Föderation geführten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dass den Klägern als Zivilpersonen im Rahmen dessen eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit drohen könnte, ist nicht ersichtlich, zumal dieser Konflikt zwar von der Russischen Föderation, aber nicht auf deren Staatsgebiet geführt wird.

3. Weiter ist kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 1952 II Seite 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Soweit hier einzig Art. 3 EMRK in Betracht kommt, scheidet angesichts der Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen wie oben auch ein Abschiebungsverbot aus, da der sachliche Schutzbereich identisch ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 –, juris Rn. 36).

Darüber hinaus kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung des Art. 3 EMRK ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn die Kläger im Falle ihrer Abschiebung tatsächlich Gefahr liefen, im Aufnahmeland auf so schlechte humanitäre Bedingungen (allgemeine Gefahren) zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse kann danach nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK erfüllen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Juli 2013, A 11 S 697/13 –, juris Rn. 82 m. w. N. insb. zur einschlägigen Rspr.).

Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor. Die humanitären Bedingungen in der Russischen Föderation im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geben keinen Anlass zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Klägerinnen eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegt. Es ist nach den Erkenntnissen des Gerichts vielmehr zu erwarten, dass sie nach ihrer Rückkehr zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einschließlich des Wohnbedarfs in der Lage wären. Insoweit kann auf die o. g. Ausführungen zur inländischen Fluchtalternative im Rahmen des Flüchtlingsschutzes verwiesen werden.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erforderlich ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d. h., dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 – 1 C 18/05 –, juris Rn. 15). Dies kann der Fall sein, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist, sich aber auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung – etwa aus finanziellen Gründen – tatsächlich nicht erlangen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 – 1 C 1/02 –, juris Leitsatz). Für die Bestimmung der Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Die Gefahr ist erheblich, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird (vgl. OVG Niedersachsen, Urteil vom 08. November 2011 – 8 LB 108/10 –, juris Rn. 27). Es ist nicht erforderlich, dass die Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG.

Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine politische Leitentscheidung nach §§ 60 Abs. 7 Satz 6, 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen politischen Leitentscheidung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz [GG]) in Betracht, d. h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte („Extremgefahr“). Nur für den Fall einer derartigen „Extremgefahr“ gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Februar 2012 – A 3 S 1876/09 –, juris Rn. 77 bis 78; BVerwG, Beschluss vom 08. August 2018 – 1 B 25/18 –, juris Rn. 13 mit weiteren Nachweisen).

Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG. Krankheitsbedingte Gefahren, die sich allein als Folge des Abschiebungsvorgangs bzw. wegen des Verlassens des Bundesgebietes, nicht aber wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben können, begründen hingegen kein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und sind deshalb nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse von der zuständigen Ausländerbehörde zu prüfen (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 26. Juli 2017 – 3 A 253/16 –, juris Rn. 33).

Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigt, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG). Die Regelung in § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG umfasst nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Sinn und Zweck auch die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28. September 2017 – 2 L 85/17 –, juris Leitsatz und Rn. 13).

Ein Anspruch allein auf die optimale Therapie im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsverboten besteht nicht. § 60 Abs. 7 AufenthG dient nämlich nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern. Insbesondere bietet diese Vorschrift keinen allgemeinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und Standard in der medizinischen Versorgung in Deutschland. Die Kläger müssen sich auf den Standard der Gesundheitsversorgung in ihrem Heimatland verweisen lassen, auch wenn dieser dem Niveau in Deutschland möglicherweise nicht bzw. nicht überall vollständig entspricht (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Dies ist auch mit europäischem Recht vereinbar. Der EGMR hat in mehreren Entscheidungen, z. B. Nr. 7702/04 (Salkic und andere gegen Schweden) vom 29. Juni 2004 und Nr. 1383/04 (Ovdienko gegen Finnland) vom 31. Mai 2005 bestätigt, dass es mit Art. 3 EMRK vereinbar ist, dass ein vergleichbarer medizinischer Standard wie im jeweiligen EU-Mitgliedstaat nicht verlangt werden kann.

Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert russischen Staatsbürgern das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Eine gesetzliche Grundlage stellt das föderale Gesetz „Über die Grundlagen des Gesundheitsschutzes der Bürger in der Russischen Föderation“ dar. Es existiert eine durch präsidentiellen Erlass festgelegte Strategie der Entwicklung des Gesundheitswesens in der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025. Das Basisprogramm der obligatorischen Krankenversicherung gewährleistet die kostenlose medizinische Versorgung für Bürger in allen Regionen Russlands. Das entsprechende Territorialprogramm umfasst Programme auf der Ebene der Subjekte der Russischen Föderation (§ 3 des föderalen Gesetzes „Über die obligatorische Krankenversicherung“) Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. In der Praxis müssen jedoch viele Leistungen von Patienten selbst bezahlt werden, obwohl die medizinische Versorgung für russische Staatsangehörige kostenfrei sein sollte. Zuzahlungen werden entweder von unversicherten Personen geleistet oder dienen dazu, die Leistungsdeckung der obligatorischen oder freiwilligen/privaten Krankenversicherung zu erhöhen. Beispiele für Zuzahlungen sind offizielle Zahlungen im öffentlichen oder Privatsektor oder informelle Zahlungen im öffentlichen Sektor, um beispielsweise eine spezielle Behandlung zu erhalten. Das Gesundheitssystem ist zentralisiert. Öffentliche Gesundheitsdienstleistungen gliedern sich in drei Ebenen: Die Primärversorgung umfasst allgemeine medizinische Leistungen, Notfallversorgung sowie einige spezielle Dienstleistungen. Die Sekundärversorgung beinhaltet eine größere Bandbreite spezieller medizinischer Leistungen, und die Tertiärversorgung bietet medizinische Leistungen auf Hightechniveau an. Die medizinische Versorgung ist außerhalb der Großstädte in vielen Regionen auf einfachem Niveau und in ländlichen Gebieten nicht überall ausreichend. Ein Drittel der Ortschaften in ländlichen Gebieten verfügt über keinen direkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Zurückgekehrte Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Diese wird von der nächstgelegenen Krankenversicherungszweigstelle am Wohnsitzort ausgestellt. Personen ohne Dokumente haben das Recht auf eine kostenlose medizinische Notfallversorgung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 12. Juni 2024, Version 14, Seite 126 bis 128). Etwaigen Kapazitätsengpässen bei Behandlungen kann dadurch begegnet werden, dass es für alle Bürger der Russischen Föderation grundsätzlich möglich ist, aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 110).

Für die Kläger liegen keine ärztlichen Unterlagen vor, die für die Annahme eines Abschiebungsverbots aus medizinischen Gründen sprechen könnten.

4. Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 AsylG, § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.

5. Gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde weder seitens der Kläger vorgetragen noch sind für das Gericht nach eigener Prüfung Gründe dafür ersichtlich, dass die Befristung auf 30 Monate ermessensfehlerhaft sein könnte.

II. Die Kostenentscheidung einschließlich der Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).