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Ausweisung, türkischer Arbeitnehmer, Assoziationsabkommen EWG-Türkei, erhöhter Ausweisungsschutz, Unterbrechung der Beschäftigung aufgrund von Strafhaft, generalpräventive Ausweisungsinteressen, Vernichtung assoziationsrechtlicher Ansprüche;


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg Der 11. Senat Entscheidungsdatum 30.01.2025
Aktenzeichen 11 B 2/22 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2025:0130.11B2.22.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen 6 Abs. 1; 7 ARB 1/80, 53; 54 Abs. 1 Nr. 1; 54 Abs. 1 Nr. 1b; 55 Abs. 1 Nr. 1; 55 Abs. 1 Nr. 2; 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG

Leitsatz

Eine Strafhaft in der Zeit vor Erreichen der Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 vernichtet aufenthaltsrechtliche Ansprüche nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Die Beschäftigungsunterbrechung während der Inhaftierung ist kein Fall der unverschuldeten Arbeitslosigkeit gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80. Die Strafhaft ist auch kein legitimer Grund für oder sonst ein ungeschriebener Fall der unschädlichen Unterbrechung der Beschäftigung des türkischen Arbeitnehmers, der bisher nur Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1, 1. oder 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat.

Tenor

Die Klage wird unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Berlin vom 1. März 2019 abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, der türkischer Staatsangehöriger ist, wendet sich gegen seine Ausweisung und hatte mit seiner Klage in erster Instanz Erfolg. Die Berufung des Beklagten richtet sich gegen das stattgebende erstinstanzliche Urteil.

Der 1980 in der Türkei geborene Kläger wuchs die ersten zehn Jahre seines Lebens in der Türkei auf und reiste im Jahr 1991 zusammen mit seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern zu seinem Vater nach Berlin ins Bundesgebiet ein. Sein Vater hielt sich bereits seit 1980 in der Bundesrepublik auf, zunächst als Asylsuchender, und stand seit dem 10. Oktober 1988 in einem ungekündigten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Seit dem 1. Mai 1993 bezog der Vater des Klägers ununterbrochen bis zum Erreichen der Altersgrenze im Jahr 2019 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der Kläger besuchte im Bundesgebiet die Schule und erlangte im Jahr 1997 den erweiterten Hauptschulabschluss. Eine begonnene Berufsausbildung als Maler und Lackierer setzte er nicht fort und erlernte auch keinen anderen Beruf. Er ging kurzzeitigen Beschäftigungsverhältnissen, z.T. in Qualifizierungsmaßnahmen, nach und bezog seit 2001 zumeist ergänzend Sozialleistungen oder als Arbeitsloser Leistungen nach dem SGB II. 1996 erteilte ihm das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (im Folgenden: Ausländerbehörde) zunächst eine befristete Aufenthaltserlaubnis und im Jahr 2000 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ohne Auflagen. Seit 2007 verfügt der Kläger über eine Niederlassungserlaubnis. Sein Antrag auf Einbürgerung vom März 2001 blieb unbeschieden.

Der Kläger wurde bereits als Jugendlicher straffällig und verurteilt wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes, wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung, wegen vorsätzlicher Körperverletzung und wegen Hausfriedensbruchs und Beleidigung. Im Jahr 2001 verurteilte ihn das Amtsgericht Tiergarten wegen gefährlicher Körperverletzung erstmals zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten, wobei die Strafaussetzung zur Bewährung später widerrufen wurde.

Als Erwachsener trat der Kläger vor allem mit Körperverletzungsdelikten und Delikten betreffend den Betrieb von Kraftfahrzeugen in Erscheinung. Bis zur Anlasstat im Jahr 2015 erfolgten insgesamt elf rechtskräftige Verurteilungen, davon fünf zu Haftstrafen, wegen fahrlässiger und vorsätzlicher Körperverletzung, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, wegen fahrlässigen Zulassens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz. 2004 verurteilte das Landgericht Berlin den Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, welche er zusammen mit der Jugendstrafe von 2001 von 2004 bis 2006 in Haft verbüßte. Eine weitere, 2006 verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verbüßte der Kläger im Jahr 2008.

Im Sommer 2007 schloss der Kläger in der Türkei die Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen. Der gemeinsame Sohn F_____ wurde 2008 ebenfalls in der Türkei geboren. Im Mai 2011 begleitete der Kläger Ehefrau und Sohn bei der illegalen Einreise mit einem gefälschten Visum nach Deutschland. Im Mai 2012 wurde seine Tochter J_____ als deutsche Staatsangehörige in Berlin geboren. Im Januar 2018 wurde dann der jüngste Sohn F_____ geboren, der ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

Von Dezember 2011 bis zu seiner vorläufigen Festnahme im März 2015 (Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 12. März 2015) war der Kläger mit einer Unterbrechung von einem Monat im August 2013 in einem türkischen Schnellimbiss geringfügig beschäftigt (Midijob). Er und seine Familie bezogen ergänzend Leistungen nach dem SGB II.

Der Kläger befand sich seit März 2015 in Untersuchungshaft, bis ihn das Landgericht Berlin mit Urteil vom 24. November 2015, rechtskräftig seit dem 6. Juli 2016, wegen bandenmäßigem unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilte und den Verfall von Wertersatz in Höhe von 158.982 Euro anordnete. Das Landgericht sah es als erwiesen an, dass der Kläger als Kopf und Organisator einer Bande in Berlin-Spandau, die sich spätestens Anfang Oktober 2014 zusammenschloss und überwiegend aus Verwandten und Bekannten des Klägers bestand, durch Verkäufe zunächst aus dem Lokal „R_____“, dann aus dem Lokal „X_____“ heraus, teils an Selbstabholer, teils aber auch durch im Schichtdienst organisierte Auslieferung an telefonische Besteller insgesamt in weniger als sechs Monaten rund 2 kg Kokain an einen umfangreichen Abnehmerkreis von mindestens 50 Personen in Berlin-Spandau verkaufte. Der Kläger begann nach den Feststellungen der Strafkammer des Landgerichts Berlin bereits im Mai 2014 mit dem Kokainhandel und baute diesen dann weiter aus. Er habe unter dem Namen seines Bruders ein Lokal angemietet (EA S. 22 f.) und in dessen Umbau investiert. Vor der Neueröffnung zu Beginn des Jahres 2015 habe er in dem Lokal ausschließlich Kokainverkaufsgeschäfte abgewickelt und organisiert, danach habe im Lokal auch ein Lokal- und Spielautomatenbetrieb stattgefunden (EA S. 16). Die Bande, deren Kopf der Kläger war, habe eine klare Rollenverteilung und Hierarchie gehabt (EA S. 21 f.), in welcher der Kläger den Bandenmitgliedern Anweisungen erteilte und die Kokainverkäufe kontrollierte und überwachte. Er habe die Strukturen und Abläufe des Kokainhandels bestimmt (EA S. 22) und sich für die Kontakte zum Lieferanten verantwortlich gezeigt. Dabei habe er konspiratives Verhalten an den Tag gelegt, indem etwa die genutzten Mobilfunknummern auf fiktive Anschlussinhaber zugelassen waren und am Telefon nur verklausuliert, etwa unter Verwendung von Synonymen, kommuniziert wurde. Der Kläger habe die sog. „Läufer“ rekrutiert, sich für deren Anstellung und Bezahlung verantwortlich gezeigt und ein Zwei-Schichten-System der „Läufer“ eingeführt, außerdem die Auslieferfahrzeuge organisiert und die Preise für den Verkauf an die Endabnehmer festgelegt (EA S. 22). Ferner habe er die Einnahmen aus den Kokainverkäufen entgegengenommen und zum Teil zur Begleichung der laufenden Kosten des Lokals und der Eigenfinanzierung der Gruppierung eingesetzt, aber auch Geldbeträge in fünfstelliger Höhe in Grundbesitz bzw. Immobiliengeschäfte in der Türkei investiert, seine Lebensgefährtin R_____ unterhalten oder sonstige Luxusaufwendungen finanziert. Der Kläger hatte sich zu den Tatvorwürfen weitgehend geständig eingelassen. Die Kammer sah in der Spielsucht des Klägers (pathologisches Spielen ohne Krankheitswert) und dessen Kokainkonsum (schädlicher Gebrauch gemäß ICD-10: F14.1) keinen nennenswerten Einfluss auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit (EA S. 44) und erachtete die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt als nicht erforderlich (EA S. 58). Bei der Strafzumessung berücksichtigte die Kammer, dass die Tat weitestgehend unter polizeilicher Überwachung erfolgte und der Kläger Aufklärungshilfe geleistet hatte (EA S. 50). Sie stellte außerdem fest, dass der Kläger durch den von ihm betriebenen Kokainhandel einen Umsatz von mindestens 166.550 Euro erzielt hatte (EA S. 59) und ordnete abzüglich eines bereits sichergestellten Betrages den Verfall eines Betrages in Höhe von 158.982 Euro an (EA S. 61).

Der Kläger verbüßte die Strafhaft seit Sommer 2016 zunächst im geschlossenen und seit November 2016 im offenen Vollzug. In der Haft begann er eine Weiterbildung zur Fachkraft für Facility Service und besuchte diese regelmäßig und zuverlässig. Im Sommer 2018 begann er eine Tätigkeit im Reinigungsgewerbe und wechselte anschließend zu einer Helfertätigkeit in einer Autowerkstatt. Nach vorheriger Anhörung wies das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Ausländerbehörde) den Kläger mit Bescheid vom 4. Mai 2018 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziff. 1), drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an (Ziff. 2), befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgrund der Ausweisung auf acht Jahre beginnend mit der Ausreise (Ziff. 3) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall einer Abschiebung auf zwei Jahre ab dem Zeitpunkt der tatsächlichen Abschiebung (Ziff. 4). Zur Begründung führte die Behörde u.a. aus, dass sich der Kläger nicht auf den verstärkten Ausweisungsschutz gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG berufen könne, weil ihm keine Rechte aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei vom 19. September 1980 (ARB 1/80) zustünden. Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 könne er nicht geltend machen, da er seit dem 1. Januar 2015 bis zum Antritt der Strafhaft am 6. Juli 2016 keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mehr nachgegangen sei. Die Ausweisung sei insbesondere aus spezialpräventiven Gründen notwendig, da bei dem Kläger von einer konkreten Wiederholungsgefahr bzgl. des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge auszugehen sei; eine völlige Umkehr seines jahrzehntelang eingeübten Legalverhaltens sei nicht in Sicht. Die Ausweisung werde auch zur Abschreckung anderer Ausländer für notwendig erachtet (Generalprävention), denn es gebe ein dringendes sicherheitspolitisches Bedürfnis im Rahmen einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis andere Ausländer von der Begehung derartiger Straftaten abzuhalten. Die besonders schweren Bleibeinteressen des Klägers aufgrund seiner langjährigen Niederlassungserlaubnis und der Ausübung des Personensorgerechts für einen minderjährigen Deutschen würden dadurch relativiert, dass sein Aufenthalt in Deutschland zwar durchgehend rechtmäßig gewesen sei, eine Integration jedoch nicht stattgefunden habe.

Mit Beschluss vom 29. November 2018 setzte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung des Klägers die Restfreiheitsstrafe des Klägers ab dem 10. Dezember 2018 zur Bewährung während einer Zeit von vier Jahren aus. Die Strafvollstreckungskammer ging in der Begründung ihrer Entscheidung davon aus, dass übereinstimmend mit der Stellungnahme der Haftanstalt und des Antrags der Staatsanwaltschaft aufgrund des positiven Vollzugsverlaufs davon ausgegangen werden könne, dass der Freiheitsentzug nachhaltig auf den Kläger gewirkt und dieser eine genügende Stabilisierung erfahren habe, um fortan nicht mehr straffällig zu werden. Der beauftragte forensisch-psychiatrische Gutachter hatte in seinem Gutachten vom 2. Oktober 2018, auf welches wegen der Einzelheiten verwiesen wird, ebenfalls eine Entlassung zur Bewährung befürwortet, da von einem Wandel der Einstellung des Klägers auszugehen sei, der dazu führen sollte, dass er zukünftig kriminellen Anreizen wiederstehen könne. Der Kläger wurde am 10. Dezember 2018 nach Verbüßung von zwei Dritteln aus der Strafhaft entlassen. Er war anschließend zunächst als Gehilfe in einer Autowerkstatt beschäftigt und arbeitete seit August 2019 mit 19,5 Wochenstunden bei gleichzeitigem Bezug von Leistungen nach dem SGB II wieder in dem türkischen Schnellimbiss, bei dem er schon vor der Haft beschäftigt gewesen war.

Der gegen den Ausweisungsbescheid vom 4. Mai 2018 gerichteten Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 1. März 2019 stattgegeben. Zur Begründung hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die Ausweisung des Klägers an den erhöhten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen sei, weil der Kläger zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung nach Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 assoziationsberechtigt gewesen sei. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Kläger seine Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch seine Inhaftierung verloren habe. Die Ausweisungsentscheidung könne demnach allein auf spezialpräventive Aspekte gestützt werden. Unter Bezugnahme auf die Strafaussetzung der Strafvollstreckungskammer hat das Verwaltungsgericht sodann festgestellt, dass keine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass der Kläger erneut die öffentliche Sicherheit durch vergleichbare, insbesondere Betäubungsmittelstraftaten beeinträchtigen werde und damit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle.

Mit der durch den Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Berufung begehrt der Beklagte die Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung und trägt zur Begründung u.a. vor, dass der Kläger nicht die Privilegierung des § 53 Abs. 3 AufenthG für sich in Anspruch nehmen könne, weil er seine Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 durch seine Inhaftierung verloren habe. Die weiteren Verurteilungen des Klägers durch Strafbefehle von 2020 und 2021 wegen Beleidigung und wegen einer Nötigung im Straßenverkehr und die Anordnung eines zweimonatigen Fahrverbots sowie die Verlängerung der Bewährungszeit für den Kläger um ein Jahr unterstrichen, dass von dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts in spezialpräventiver Hinsicht weiterhin eine Gefahr ausgehe. Sie zeigten, dass er der Rechtsordnung zumindest gleichgültig gegenüberstehe und gewalttätiges Verhalten als legitim ansehe. Die neuesten Verurteilungen würden das Ausweisungsinteresse auch in generalpräventiver Hinsicht verstärken.

In der mündlichen Verhandlung hat die Vertreterin des Beklagten die Befristungsentscheidung in Ziff. 3 des Bescheides vom 4. Mai 2018 im Hinblick auf die familiäre Lebensgemeinschaft mit zwei deutschen schulpflichtigen Kindern geändert und die Frist von 8 Jahren auf 6 Monate herabgesetzt, beginnend mit dem Tag der Ausreise des Klägers.

Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Berlin vom 1. März 2019 die Klage abzuweisen.

Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger meint, dass spezialpräventive Gründe seine Ausweisung nicht rechtfertigen könnten, denn er bestreite das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr. Behörde und Gericht dürften sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 1943/16) nur über die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer hinwegsetzen, wenn die eigene Prognose auf einer breiteren Tatsachengrundlage erfolge. Wenn die Ausweisung auch ohne Wiederholungsgefahr allein aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt werden könne, werde jene schematische Prüfung ermöglicht, die das Ausweisungsrecht auch nach der Meinung des Bundesverwaltungsgerichts nicht beherrschen solle. Generalpräventive Gründe allein könnten seine Ausweisung aber auch deshalb nicht rechtfertigen, weil er mit seiner Ehefrau, die im Juni 2016 den Integrationstest bestanden habe, seinen beiden deutschen und seinem türkischen Kind zusammenlebe. Zu der Frage, ob er durch die haftbedingte Unterbrechung seiner Beschäftigung seine Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 verloren habe, hat der Kläger keine Stellung genommen.

Dem Senat haben neben den Gerichtsakten in diesem Verfahren die Ausländerakten des Klägers, seiner Eltern, seiner Ehefrau und seines ältesten Sohnes sowie das Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft Berlin und die Gefangenenpersonalakte des Klägers vorgelegen. Auf die Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 8. Januar 2025 und die Rentenversicherungsverläufe des Klägers und seines Vaters vom 11. Dezember 2024 bzw. 3. Januar 2025 wird Bezug genommen. Die Akten und Unterlagen sind in das Verfahren eingeführt und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist begründet.

Die Klage gegen den Bescheid des Landesamtes für Einwanderung vom 4. Mai 2018, hinsichtlich der Ziffern 3 und 4 des Tenors in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2018 und hinsichtlich Ziffer 3 mit dem in der mündlichen Verhandlung am 30. Januar 2025 verfügten Tenor, ist zwar zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid in der vorgenannten Fassung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisungsverfügung (vgl. dazu 1.), der Abschiebungsandrohung (vgl. dazu 2.), des aufgrund der Ausweisung angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. dazu 3) und des für den Fall der Abschiebung angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. dazu 4.) ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Berufungsgerichts (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 1 C 28/16 – juris Rn. 16).

1.   Rechtsgrundlage für die in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides angeordnete Ausweisung des Klägers ist § 53 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162, zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 25. Oktober 2024, BGBl. I Nr. 332 – AufenthG). Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt.

Den besonderen Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG kann der Kläger nicht für sich in Anspruch nehmen (dazu unter a)). Davon ausgehend sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung gegeben (dazu unter b)).

a)  Die Ausweisungsverfügung muss nicht den erhöhten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG entsprechen. Danach darf ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Der Kläger gehört nicht zu der nach § 53 Abs. 3 AufenthG privilegierten Personengruppe, da ihm ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht (mehr) zusteht. Er hat kein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 (ARB 1/80) erworben (aa)) und seine nach Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 erworbene Rechtsposition bereits vor Erlass der Ausweisungsentscheidung durch die Unterbrechung seiner Erwerbstätigkeit während seines Aufenthalts in der Untersuchungshaft und im Strafvollzug wieder verloren und dort vor der Ausweisung nicht neu erworben (bb)). Aufgrund der Ausweisung konnte der Kläger auch nach Wiederaufnahme seiner Erwerbstätigkeit im offenen Vollzug im Juli 2018 und nach seiner Entlassung kein Recht aus Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 mehr erlangen (cc)).

aa)  Der Kläger hat kein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 erworben.

Gemäß Art. 7 Satz 2 ARB 1/80, der gegenüber Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 günstigeren Bestimmung (EuGH, Urteil vom 19. November 1998 – C-210/97 – juris Rn. 35 ff.), können sich Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellengebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen schon deshalb nicht, weil er keine Berufsausbildung abgeschlossen hat.

Der Kläger hat auch keine Rechte nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben. Danach haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (1. Spiegelstrich); freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (2. Spiegelstrich).

Ein Rechtserwerb des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ist deshalb ausgeschlossen, weil weder seine Eltern bis zu seinem insoweit maßgeblichen 21. Geburtstag (EuGH, Urteil vom 30. September 2004 – C-275/02 (Ayaz) – juris Rn. 48) noch seine Ehefrau – hinreichend lange – türkische Arbeitnehmer waren. Allein sein Vater war überhaupt als Arbeitnehmer erwerbstätig, ging jedoch nach dem Zuzug des Klägers in seinen Haushalt im Dezember 1990 nicht mehr lange genug einer Beschäftigung nach. Im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 kommt es nicht darauf an, ob der das Recht vermittelnde türkische Arbeitnehmer insgesamt drei Jahre im Bundesgebiet erwerbstätig war sondern darauf, ob dieser auch während einer mindestens dreijährigen Dauer des Zusammenlebens mit seinem Kind türkischer Arbeitnehmer auf dem regulären bundesdeutschen Arbeitsmarkt war (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Februar 2019 – 11 S 3.19 – juris Rn. 9 m.w.N.). Dies trifft auf den Vater des Klägers nicht zu, weil dieser bereits seit Mai 1993 eine Frührente wegen dauerhafter und vollständiger Erwerbsunfähigkeit bezog und damit vor Erreichen der Drei-Jahres-Frist für das Zusammenleben mit dem Kläger endgültig aus dem regulären Arbeitsmarkt ausgeschieden war (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Juni 1995 – C-434/93 (Bozkurt I) – juris Rn. 39 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Juli 2017 – 11 B 4.16 – juris Rn. 29 m.w.N.).

bb)  Der Kläger hatte bis zu seiner Inhaftierung im März 2015 eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben, diese aber bereits vor seiner Ausweisung wieder verloren und seitdem nicht mehr neu erworben.

(1) Der Kläger hatte ursprünglich durch seine Beschäftigung in einem Schnellimbiss eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Dieses Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger wird unmittelbar durch den Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 begründet und setzt keine nationale Entscheidung voraus. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG hat nur deklaratorischen Charakter und ist nicht Voraussetzung für die Berufung des Klägers auf seine Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 (EuGH, Urteil vom 19. November 2002 – C-188/00 (Kurz) – juris Rn. 54; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Juli 2017 – 11 B 4.16 – juris Rn. 16). Nach Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, vorbehaltlich der Bestimmungen in Art. 7 ARB 1/80 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung, in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt. Der Kläger war zwischen September 2013 und dem Tag seiner Festnahme im März 2015 als türkischer Arbeitnehmer im regulären Arbeitsmarkt bei demselben Arbeitgeber, einem türkischen Schnellimbiss in der U_____ Straße, beschäftigt. Dass er in dieser Zeit nur geringfügig beschäftigt war und ergänzend für sich und seine Familie Sozialleistungen bezog, war dabei für die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers unerheblich, denn es genügt, dass er eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübte, die nach ihrem Umfang nicht nur völlig untergeordnet und unwesentlich war (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2002 – C-188/00 (Kurz) – juris Rn. 32 f. m.w.N.). Die ordnungsgemäße Beschäftigung des Klägers im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB folgt aus seiner Niederlassungserlaubnis (vgl. zu diesem Erfordernis EuGH, Urteil vom 19. November 2002 – C-188/00 (Kurz) – juris Rn. 48).

Der Kläger hat hingegen keinen Anspruch aus Art. 6 Abs. 1, 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Zwar war er bereits von Dezember 2011 bis Juli 2013 bei demselben türkischen Schnellimbiss beschäftigt und hatte in dieser Zeit bereits einen Anspruch nach Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Aufgrund der einmonatigen Unterbrechung der Beschäftigung im August 2013, deren Grund der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht weiter angeben konnte, erlosch dieser Anspruch jedoch wieder. Das Aufenthaltsrecht türkischer Arbeitnehmer aus dem Beschluss des Assoziationsrates Nr. 1/80 folgt einer zeitlich gestaffelten, schrittweisen Verfestigung bzw. Verselbstständigung. Die Zugangsrechte in Art. 6 Abs. 1, 1. bis 3. Spiegelstrich ARB 1/80 bauen systematisch aufeinander auf und sichern die stufenweise Eingliederung des türkischen Arbeitnehmers in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats (Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 15). Ein türkischer Arbeitnehmer, der noch kein Recht nach Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat, muss im Aufnahmemitgliedstaat einer ununterbrochenen ordnungsgemäßen Beschäftigung nachgehen, sofern er sich nicht auf einen legitimen Grund der in Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 genannten Art berufen kann, der seine vorübergehende Abwesenheit vom Arbeitsmarkt rechtfertigt (EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006 – C-230/03 (Sedef) – juris Rn. 69). Der Kläger konnte hier keinen Grund für die Unterbrechung seiner Beschäftigung im August 2013 angeben, so dass die Unschädlichkeit der Unterbrechung gemäß Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 (hierzu sogleich) nicht festzustellen ist und diese daher eine weitere Verfestigung seines bereits nach Art. 6 Abs. 1, 1.  Spiegelstrich ARB 1/80 erworbenen Aufenthaltsrechts ausschließt.

(2) Der Kläger verlor seine Rechtstellung nach Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 durch die Unterbrechung seiner Erwerbstätigkeit ab März 2015.

Der Kläger war zwar ausweislich des Rentenversicherungsverlaufs vom 3. Januar 2025 nach seiner Haftentlassung von August 2019 bis mindestens Ende 2023 wieder in dem türkischen Schnellimbiss in der U_____ Straße beschäftigt, konnte jedoch den vor Haftbeginn und Ausweisung erworbenen assoziationsrechtlichen Anspruch bereits wegen der haftbedingten Unterbrechung seiner ordnungsgemäßen Beschäftigung im regulären Arbeitsmarkt nicht erhalten. Ob die weitere Unterbrechung der genannten Tätigkeit zwischen der Haftentlassung im Dezember 2018 und der Wiederaufnahme der Tätigkeit im August 2019 unschädlich im Sinne des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 war, bedarf daher keiner Entscheidung.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass türkische Arbeitnehmer mit einer Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 diese nicht bereits durch eine – ggfs. länger andauernde – Strafhaft verlieren, ist auf türkische Arbeitnehmer vor Erreichen der dritten Verfestigungsstufe nicht übertragbar.

(a) Der Kläger konnte aufgrund der haftbedingten Unterbrechung seiner ordnungsgemäßen Beschäftigung bei dem türkischen Schnellimbiss die Anforderungen für die Aufrechterhaltung seiner Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 nach dem 11. März 2015 nicht mehr erfüllen. Er war weder – wie erforderlich – durchgängig weiter bei dem Schnellimbiss beschäftigt, noch war die Unterbrechung der ab August 2019 fortgeführten Beschäftigung nach Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 für seine assoziationsrechtlichen Ansprüche unschädlich. Seine Inhaftierung ist weder als kurzfristige Unterbrechung gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 ARB 1/80, noch als unschädliche längerfristige Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 einzuordnen.

Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 ARB 1/80 werden der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Diese kurzfristigen Unterbrechungen sind generell als Bestandteil eines jeden Arbeitsverhältnisses anzusehen und stets unschädlich (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006 – C-230/03 (Sedef) – juris Rn. 50; Marx, in: ders., Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 8. Aufl. 2023, § 3 Rn. 219 m.w.N.). Eine Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses durch Haft, zumal wenn das Arbeitsverhältnis aus Gründen der Haft einen längeren Zeitraum lang nicht wieder aufgenommen werden kann, steht den legitimen Gründen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 ARB 1/80 nach der Interessenlage nicht gleich. Eine entsprechende Anwendung der Norm kommt daher nicht in Betracht.

Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 werden die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Die Vorschrift erfasst solche Fälle, in denen der Arbeitnehmer keine Tätigkeit mehr ausübt, ohne dass man ihm dies vorwerfen kann und ohne dass man vorhersagen könnte, wann er wieder arbeiten wird. Die Regelung bestimmt, dass der Arbeitnehmer in diesen Fällen nicht aus dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats ausscheidet (Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 76) und die aufgrund der vorherigen ordnungsgemäßen Beschäftigungszeiten erworbenen Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht verliert (EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006 – C-230/03 (Sedef) – juris Rn. 51). Die Inhaftierung des Klägers wird von dieser Bestimmung nicht erfasst, denn sie ist weder eine lange Krankheit, noch ist die – wenn auch erzwungene – Unterbrechung der Beschäftigung während der Haftzeit eine unverschuldete Arbeitslosigkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80. Sie stellt auch sonst keinen legitimen Grund für die Unterbrechung der Beschäftigung dar. Im Einzelnen:

Die Beschäftigungsunterbrechung während der Inhaftierung ist kein Fall der unverschuldeten Arbeitslosigkeit. Unverschuldet ist die Arbeitslosigkeit, wenn sie nicht auf einem schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers beruht (EuGH, Urteil vom 23. Januar 1997 – C-171/95 (Tetik) – juris Rn. 38) bzw. ihm nicht angelastet werden kann (EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006 – C-4/05 (Güzeli) – juris Rn. 41) oder durch einen legitimen Grund der in Artikel 6 Absatz 2 genannten Artgerechtfertigt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006 – C-230/03 (Sedef) – juris Rn. 56 und 68). So ist etwa eine betriebsbedingte Kündigung oder eine Insolvenz des Arbeitgebers „unverschuldet“ (Gerstner-Heck, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migration- und Integrationsrecht, 19. Ed. 2024, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 22; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 8. Aufl. 2023, § 3 Arbeitsmigration Rn. 220). Der Arbeitnehmer muss die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 ferner von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß feststellen lassen, d.h. er muss sich grundsätzlich als Arbeitssuchender melden und der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats während des dort vorgeschriebenen Zeitraums zur Verfügung stehen. Damit lässt sich gewährleisten, dass der türkische Staatsangehörige innerhalb des angemessenen Zeitraums, der ihm zur Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses einzuräumen ist, sein Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht missbraucht, sondern tatsächlich eine neue Beschäftigung sucht (EuGH, Urteil vom 23. Januar 1997 – C-171/95 (Tetik) – juris Rn. 41 f.). Welcher Zeitraum für die neue Arbeitssuche noch als angemessen zu gelten hat, ist durch den Europäischen Gerichtshof bisher nicht entschieden worden. Hat der türkische Arbeitnehmer hingegen keine Aussicht mehr, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu bekommen, scheidet er als Langzeitarbeitsloser aus dem regulären Arbeitsmarkt aus und verliert seine assoziationsrechtliche Rechtsposition (Gerstner-Heck, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migration- und Integrationsrecht, 19. Ed. 2024, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 24).

Die Unterbrechung der Beschäftigung des Klägers beim türkischen Schnellimbiss während seiner Inhaftierung ist gemessen daran weder unverschuldet noch durch einen legitimen Grund gerechtfertigt. Das mit rechtskräftigen Strafurteil des Landgerichts Berlin vom 24. November 2015 sanktionierte Verhalten des Klägers, die Organisation und Leitung eines bandenmäßigen unerlaubten Handels mit Kokain in nicht geringer Menge, ist schuldhafte Ursache seiner Inhaftierung und des mit der Haft unmittelbar verbundenen – wenn auch vorübergehenden – Ausstiegs aus dem regulären Arbeitsmarkt. In diesem Zeitraum stand er dem regulären Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung: Arbeitsleistungen im Strafvollzug stellen keine ordnungsgemäße Beschäftigung eines Arbeitnehmers auf dem regulären Arbeitsmarkt im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 dar. Mit der Zuweisung von Arbeit in der Haft ermöglicht der Mitgliedstaat dem Ausländer nicht – wie in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 vorausgesetzt – einen Zugang zu seinem Arbeitsmarkt dergestalt, dass dieser nach Ablauf gewisser Zeiträume unter bestimmten Bedingungen berechtigterweise erwarten kann, weiterhin im Inland als Arbeitnehmer tätig sein zu dürfen (BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 1996 – 1 B 136/95 – juris 3. Ls. und Rn. 13).

(b) Nach Auffassung des Senats stellt die Strafhaft des Klägers auch keinen ungeschriebenen Fall der unschädlichen Unterbrechung der Beschäftigung des türkischen Arbeitnehmers dar, der bisher nur Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1, 1. oder 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat (so auch ohne weitere Begründung schon BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 1996 – 1 B 136/95 – juris Rn. 12; vgl. auch OVG Bremen, Urteil vom 21. April 2021 – 2 LC 215/20 – juris Rn. 19; OVG Saarland, Beschluss vom 4. August 2015 – 2 B 73/15 – juris Rn. 6). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Der Europäische Gerichtshof hat zwar in der Rechtssache D___ (EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 – C-383/03 – Rn. 21) entschieden, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung gemäß Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, dieses Recht nicht deswegen verliert, weil er während seiner – auch mehrjährigen – Inhaftierung keine Beschäftigung ausübt, wenn seine Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nur vorübergehend ist. Die Rechte, die dem Betroffenen durch diese Bestimmung im Bereich der Beschäftigung und entsprechend im Bereich des Aufenthalts eingeräumt werden, könnten nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder aufgrund des Umstands beschränkt werden, dass der betreffende türkische Staatsangehörige den Zeitraum überschritten habe, der angemessen sei, um nach seiner Freilassung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden (Tenor). Zur Begründung hat der Europäische Gerichtshof ausgeführt, die praktische Wirksamkeit des Rechts aus Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB setze zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig sei (Rn. 14). Soweit aus dieser Entscheidung teilweise abgeleitet wird, dass die Inhaftierung ohne Beschäftigung auch für die Rechte in der ersten und zweiten Verfestigungsstufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 unschädlich sei (vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 98 f.; Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 49; Huber/Schnitzer, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 45), vermag dies nicht zu überzeugen.

Denn der Europäische Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 auf das – bereits erworbene – Recht aus Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 nicht anwendbar (Rn. 16) und damit auch die Frage unerheblich sei, ob eine Strafhaft als „unverschuldete“ Arbeitslosigkeit im Sinne dieser Norm anzusehen sei oder nicht (Rn. 17). Das uneingeschränkte Recht auf Beschäftigung aus Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 umfasse zwangsläufig auch das Recht, eine Erwerbstätigkeit aufzugeben, um eine andere zu suchen, die der Arbeitnehmer frei wählen könne. Der Anspruch aus Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 verlange daher – anders als die Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1, 1. und 2. Spiegelstrich ARB 1/80 – nicht die grundsätzlich ununterbrochene Beschäftigung (Rn. 18). Für einen Zeitraum, der angemessen sei, um eine andere Beschäftigung zu finden, gehöre der türkische Arbeitnehmer weiterhin dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates an und habe daher in diesem Staat Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiter sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, sofern er tatsächlich eine neue Arbeit suche und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stehe, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden (Rn. 19). Dies gelte unabhängig von dem Grund der Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur sei (Rn. 20). Resultiere die fehlende Ausübung einer Beschäftigung aus einer Inhaftierung des Arbeitnehmers, so sind deren Modalitäten grundsätzlich unbeachtlich, wenn die Abwesenheit des betreffenden türkischen Staatsangehörigen vom Arbeitsmarkt zeitlich begrenzt sei (Rn. 21). Insbesondere sei der Umstand unbeachtlich, dass die Inhaftierung den Betroffenen – auch langfristig – an der Ausübung einer Beschäftigung hindere, wenn sie nicht seine weitere Teilnahme am Erwerbsleben ausschließe (Rn. 22). Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof bereits in der Rechtssache N___ entschieden, dass ein türkischer Arbeitnehmer, der bereits die Zugangs- und Aufenthaltsrechte nach Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hatte, durch eine mehr als ein Jahr andauernde Untersuchungshaft mit einer anschließenden Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe nicht aufgehört habe, dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats anzugehören, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach seiner Haftentlassung wieder eine Beschäftigung finde. Er habe Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiterhin sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gemäß Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 ausüben zu können (EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 – C-340/97 (N___) – juris Tenor).

Der Europäische Gerichtshof stellt in seiner Begründung ausdrücklich auf den vollen Rechtserwerb nach Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 ab und hebt dessen Besonderheiten hervor, insbesondere dass das davon umfasste Recht auf Unterbrechung der Beschäftigung unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 ist. Seine Ausführungen lassen sich nicht auf die Ansprüche aus den vorgehenden Verfestigungsstufen des Assoziationsrechts übertragen, denn nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist, wie bereits oben dargelegt, grundlegend zwischen einerseits der Phase der Entstehung der in abgestufter Weise erweiterten Rechte, die unter den drei Spiegelstrichen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 aufgeführt sind, und andererseits dem Fall zu unterscheiden, dass der türkische Arbeitnehmer diese abgestuften Anforderungen bereits erfüllt und daher mit Ablauf von vier Jahren nach Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80 das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat (EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006 – C-230/03 (Sedef) – juris Rn. 45). Nur für die Phase der Entstehung dieses Rechts sieht Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 vor, dass sich verschiedene Fälle der Unterbrechung der Arbeit auf die für den Rechtserwerb und -erhalt erforderlichen Zeiten auswirken (EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 – C-383/03 (Dogan) – juris Rn. 15). Nach dem vollen Rechtserwerb ist der Arbeitnehmer hingegen als hinreichend in den Aufnahmemitgliedstaat eingegliedert anzusehen, sodass er seine Beschäftigung unabhängig von Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 auch freiwillig für die Suche einer neuen Beschäftigung aufgeben darf (EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 – C-383/03 (Dogan) – juris Rn. 18). Im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 vernichtet damit die Unterbrechung der Beschäftigung während der Inhaftierung zuvor erworbene assoziationsrechtliche Ansprüche, da es insoweit – anders als in den vom Europäischen Gerichtshof entschiedenen Fällen– auf ein „Verschulden“ der Arbeitslosigkeit ankommt.

Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Inhaftierung von türkischen Staatsangehörigen mit Ansprüchen aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 stellt die Richtigkeit der Annahme, dass eine haftbedingte Unterbrechung der Beschäftigung die Ansprüche türkischer Arbeitnehmer aus Art. 6 Abs. 1, 1. und 2. Spiegelstrich ARB 1/80 vernichtet, nicht infrage. Auch insoweit fehlt es an einer Vergleichbarkeit der Rechtsstellung dieser Personen zu der Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer in der Phase der Anwartschaft auf ein Recht aus Art. 6 Abs. 1, 3. Spiegelstrich ARB 1/80. In der Rechtssache A___ (EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 – C-373/03 – juris Tenor) hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass ein türkischer Staatsangehöriger mit einem Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Satz 1, 2. Spiegelstrich, dieses Recht weder deswegen verliert, weil er aufgrund einer – auch mehrjährigen – Inhaftierung und anschließenden Langzeitdrogentherapie länger vom Arbeitsmarkt abwesend ist, noch deswegen, weil er zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung volljährig war und seinen Wohnsitz nicht mehr bei dem türkischen Arbeitnehmer hatte, von dem er sein Aufenthaltsrecht ursprünglich abgeleitet hat, sondern ein von diesem unabhängiges Leben führte. Der Europäische Gerichtshof begründete seine Entscheidung mit der abweichenden Rechtsstellung der Familienangehörigen gegenüber den türkischen Arbeitnehmern: diese sei entscheidungserhebliches Unterscheidungsmerkmal im Hinblick auf haftbedingte Unterbrechungen der Beschäftigung. Zunächst hob er hervor, dass die Ansprüche der Familienangehörigen aus Art. 7 ARB 1/80 gegenüber den Ansprüchen aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 lex specialis seien (Rn. 19) und – so ihre Voraussetzungen einmal erfüllt seien – nicht mehr vom Fortbestehen dieser Voraussetzungen abhingen (Rn. 24 f.). Das Recht aus Art. 7 Satz 1, 2. Spiegelstrich ARB 1/80 gewähre freien Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmestaat. Seine praktische Wirksamkeit setze zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, welches vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig sei (Rn. 25). Folglich könne die Aufhebung der Lebensgemeinschaft mit dem türkischen Arbeitnehmer das bereits erworbene Recht nicht infrage stellen (Rn. 26). Dieses unterliege nur den Beschränkungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und wenn der Betroffene das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen habe (Rn. 27). Hingegen lasse Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 keine Beschränkung der Rechte wegen der längeren Abwesenheit dieses Staatsangehörigen vom Arbeitsmarkt zu (Rn. 28), weil im Unterschied zu Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 die Entstehung der Beschäftigungsrechte der Familienangehörigen nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht davon abhänge, dass diese Familienangehörigen dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Staates angehörten und während einer bestimmten Dauer eine Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis ausübten, sondern lediglich davon, dass die Betroffenen während einer Anfangszeit von drei Jahren ihren Wohnsitz tatsächlich bei dem Arbeitnehmer hätten, von dem sie ihre Rechte ableiten. Zudem gewähre Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers zwar Zugang zu einer Beschäftigung, erlege ihnen jedoch keine Verpflichtung auf, eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, wie sie in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehen sei (Rn. 29). Daraus folge zum einen, dass Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 auf die Ansprüche aus Art. 7 ARB 1/80 keine Anwendung finde (Rn. 30) und zum anderen, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers, der die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 erfülle und eine Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat ausüben möchte, nicht verpflichtet sei, die strengeren Voraussetzungen zu erfüllen, die insoweit in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 aufgestellt seien (Rn. 31).

Der Europäische Gerichtshof hat damit in der A___-Entscheidung (ebenso EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – C-325/05 (Derin) – juris Rn. 55) eine deutliche Unterscheidung zwischen der Situation türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmemitgliedstaat eine bestimmte Zeit ordnungsgemäß beschäftigt waren (Art. 6 ARB 1/80), und der Situation der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhaltenden Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer (Art. 7 ARB 1/80) getroffen und die Unschädlichkeit der Beschäftigungslosigkeit während einer Haft oder Drogentherapie ausdrücklich aus der besonderen Stellung der Familienangehörigen, die nicht von der Ausübung einer eigenen Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis abhängt, abgeleitet. Erst-Recht-Schlüsse können daher aus der Privilegierung der Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer nicht gezogen werden (a.A. Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 49 aE).

(3) Der Kläger erwarb das Recht aus Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 in der Haft vor seiner Ausweisung mit Bescheid vom 4. Mai 2018 nicht erneut, denn seine Beschäftigung bei einem Gebäudereinigungsunternehmen nahm er erst im Juli 2018 auf.

cc)  Unabhängig von der Frage, auf welchen Zeitpunkt für die Frage des Vorliegens besonderen Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG abzustellen ist, verhinderte jedenfalls die Wirksamkeit der Ausweisung vom 4. Mai 2018 (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) seit ihrem Erlass einen weiteren Erwerb von Ansprüchen nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, da der Kläger seitdem kein unbestrittenes Aufenthaltsrecht mehr hat. Beschäftigungszeiten können so lange nicht als ordnungsgemäß im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 angesehen werden, wie nicht endgültig feststeht, dass dem Betroffenen während des fraglichen Zeitraums das Aufenthaltsrecht von Rechts wegen aus materiellen Gründen zustand (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2018 – 1 C 17/17 – juris Rn. 16; EuGH, Urteil vom 19. November 2002 – C-188/00 (Kurz) – juris Rn. 48). Dies ist vorliegend nicht der Fall, da sich die Ausweisungsverfügung auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts als rechtmäßig erweist.

b)  Die in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids vom 4. Mai 2018 verfügte Ausweisung ist rechtmäßig, denn die Voraussetzungen einer Ausweisung des Klägers nach § 53 Abs. 1 AufenthG liegen vor. Sein Aufenthalt gefährdet im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG die öffentliche Sicherheit und Ordnung (aa) und seine Bleibeinteressen stehen im Rahmen der Abwägung des Einzelfalls hinter dem Ausweisungsinteresse zurück (bb).

aa)  Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt eines Ausländers – wie sie die Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG erfordert – ist dann gegeben, wenn prognostiziert werden kann, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der aufgeführten Schutzgüter eintreten wird (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 23). Dabei erfährt der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG durch § 54 AufenthG eine weitere Konkretisierung, der spezielle öffentliche Interessen an einer Ausweisung im Sinne von § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG näher umschreibt und diesen Interessen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 Halbs. 2 und Abs. 3 AufenthG geforderte Abwägung zuweist. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG ist deshalb entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch bei Verwirklichung eines Tatbestandes nach § 54 AufenthG stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 26).

Ein besonders schwerwiegendes öffentliches Interesse an der Ausweisung des Klägers ist gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG gegeben. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren bzw. nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (BtMG) rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Durch seine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten wegen bandenmäßigem unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge durch das Landgericht Berlin vom 24. November 2015 sind diese Voraussetzungen erfüllt.

Die von dem Kläger ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung besteht auch im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sowohl im Hinblick auf sein persönliches Verhalten (spezialpräventive Ausweisungsgründe) als auch im Hinblick auf das Erfordernis einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten (spezialpräventive Ausweisungsgründe) fort:

(1)  Bei einer auf spezialpräventive Gründe gestützten Ausweisungsentscheidung haben die Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Für die Beurteilung, ob nach dem Verhalten des Ausländers damit zu rechnen ist, dass er erneut in vergleichbarer Weise die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 18). Auch bei der Bedrohung höchstrangiger Rechtsgüter darf die Wahrscheinlichkeitsprognose jedoch nicht nur gänzlich fernliegende Annahmen berücksichtigen und die Auseinandersetzung mit naheliegenden Umständen vermissen lassen (BVerfG, Beschluss vom 25. August 2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 26 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).

Gemessen hieran ist der Beklagte zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger erneut Straftaten im Bereich der Betäubungsmitteldelikte begehen wird. Auch im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung ist nach Überzeugung des Senats von einer ernsten und konkreten Wiederholungsgefahr auszugehen. Diese ergibt sich aus folgenden Gründen:

Die Anlasstat für die Ausweisung bildet die Verurteilung des Klägers vom 24. November 2015 wegen bandenmäßigem unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Solche Taten sind allgemein dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen, so dass keine zu hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung zu stellen sind. Der illegale Drogenhandel zählt zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV als Bereiche besonders schwerer Kriminalität genannt werden. Die von ihm ausgehenden Gefahren sind schwerwiegend und die Prävention daher besonders wichtig, denn der gewerbsmäßige Betäubungsmittelhandel bedroht nicht nur die Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Konsumenten, sondern befördert auch die Drogendelinquenz, welche das allgemeine Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinträchtigt. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein "großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit". Er verweist auf die "verheerenden Folgen" gerade des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln für die Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 – Rs. C-145/09 (Tsakouridis) – juris Rn. 46 f.). Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit der Bürger nehmen auch in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 – 1 C 20/11 – juris Rn. 19). Die besondere Schwere von Betäubungsmitteldelikten ist des Weiteren daraus erkennbar, dass der Gesetzgeber im Falle einer Verurteilung nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG bereits die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr für die Annahme eines besonders schweren Ausweisungsinteresses genügen lässt. Schließlich kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch eine einmalige Betäubungsmittelstraftat, namentlich die Beteiligung am illegalen Heroinhandel, angesichts der mit einem solchen Verhalten regelmäßig verbundenen erheblichen kriminellen Energie Anhaltspunkt für neue Verfehlungen sein (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Dezember 2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19).

Gemessen daran ist die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr hier zunächst nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger im Hinblick auf den Betäubungsmittelhandel Ersttäter war und bisher nicht einschlägig rückfällig geworden ist. Die abstrakte Schwere der Straftat des Klägers wird durch die konkrete Tatausführung bestätigt und spiegelt sich auch in der Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten wieder. Die Strafkammer 33 des Landgerichts Berlin stellte in ihrem Urteil vom 24. November 2015 (Az. 274 Js 2201/15) zu den Umständen der Tat und des Tatbeitrags des Klägers fest:

„Organisiert war das Absatzgeschäft der Gruppierung im Rahmen eines „Schichtsystem“. Jeweils mindestens ein „Läufer“ war dabei für eine der Schichten von 14:00 bis 22:00 Uhr oder von 22:00 bis 6:00 Uhr eingeteilt und musste in dieser Zeit das besagte „Tickerhandy“ bedienen, über das die „Kunden“ ihre Kokainbestellungen aufgaben, und die Bestellungen „abarbeiten“. Die „Läufer“ wurden dabei pro Kopf mit 800 Euro monatlich entlohnt, sofern diese parallel zu zweit unterwegs waren, 1600 Euro erhielt ein in „Vollzeit“ allein ausfahrender „Läufer“. Teilweise gab es individuelle Abreden, bei denen – wie bei den Angeklagten H_____ und L_____ – auch ein Teil der Entlohnung im Rahmen eines „Schuldenabbaus“ beim Angeklagten T_____ erfolgen sollte. […]

Die Gruppierung verfügte über einen umfangreichen Abnehmerkreis von mindestens 50 Personen in Berlin-S___, der überwiegend aus regelmäßig bestellenden Endabnehmern bestand. Hinzu kamen „Gelegenheitskunden“, die über jene „Stammkunden“ oder auch durch einen unbekannt gebliebenen, Provision durch den Angeklagten T_____ beziehenden Taxifahrer vermittelt wurden. Die Eppendorfcups wurden in der Regel für 50 Euro pro Konsumeinheit an „Stammkunden“ verkauft, von „Gelegenheitskunden“ wurden in der Regel 70 Euro verlangt. Abnehmer aus dem Freundeskreis der Gruppierung […] erhielten die Konsumeinheit gelegentlich auch schon für 40 Euro.“ [EA S. 19]

„Der Angeklagte T_____ führte den Kokainhandel, indem er dessen Strukturen und Abläufe bestimmte. Er zeigte sich verantwortlich für die Kontakte zum Lieferanten und organisierte den regelmäßigen Nachschub an Kokain. Dabei legte er ein konspiratives Verhalten an den Tag, indem etwa die genutzten Mobilfunknummern auf fiktive Anschlussinhaber zugelassen waren und am Telefon nur verklausuliert, etwa unter der Verwendung von Synonymen, kommuniziert wurde.

Zudem rekrutierte er die „Läufer“ und zeigte sich für deren „Festeinstellung“ und Bezahlung verantwortlich, wobei er an deren dauerhafter Einbindung interessiert war, wie etwa in dem Angebot an den Angeklagten X_____deutlich wurde, dessen Fahrerlaubnis zu bezahlen, um ihn dauerhaft als Ausfahrer gewinnen zu können.

Hinsichtlich der Rahmenbedingungen der Kokainverkäufe organisierte er das „Zwei-Schichten-System“, indem die „Läufer“ arbeiteten, und hielt diese dabei mit Nachdruck zu einem pünktlichen Arbeitsbeginn an. Auch kontrollierte er deren Ausfallzeiten, wobei er den „Läufern“ eine gewisse Eigenständigkeit etwa beim Tausch von „Schichten“ ließ oder ihnen eigenständigen Zugriff auf die Vorräte an Eppendorfcups im Dart-Spielautomaten gewährte.

Der Angeklagte T_____ organisierte zudem die Beschaffung von Auslieferfahrzeugen. So griff er zunächst auf die auf seine Schwestern zugelassenen Fahrzeuge sowie ein Mietfahrzeug zurück, beschaffte dann aber mithilfe des Angeklagten F_____ im Januar 2015 ein neues „Arbeitsauto“. Das Fahrzeug […] wurde auf den Angeklagten F_____ zugelassen und abwechselnd durch die „ausfahrenden Läufer“ genutzt.

Darüber hinaus legte der Angeklagte T_____ die Preise für den Verkauf an die Endabnehmer fest, gewährte aber den Angeklagten F_____ und H_____, die sein besonderes Vertrauen genossen, Handlungsspielraum bei den Verhandlungen mit den Endabnehmern. Der Angeklagte T_____ erteilte auch Anweisungen, etwa an den Angeklagten H_____ zu Zeiten und Umfang des Portionierens, und an die Läufer hinsichtlich deren An- und Abwesenheiten vom Laden.

Der Angeklagte T_____ zeigte sich ferner verantwortlich für die Anmeldung und spätere Räumung der Bunkerwohnung in der H_____ und für die Anmietung der den Kokainhandel verdeckenden Lokale, zunächst des „R_____“, später des „X_____“ bzw. „V_____“, wobei er für die Eintragungen des Gewerbes jeweils auf den Angeklagten H_____ sorgte und sich gegenüber dem Gewerbeamt am Telefon auch als H_____ ausgab.

Der Angeklagte T_____ nahm auch die Einnahmen aus dem Kokainverkäufen entgegen, indem er nahezu täglich mit den „Läufern“ abrechnete und deren Ausgaben und deren Entnahmen von Eppendorfcups dahingehend kontrollierte, ob diese mit den entsprechenden verbuchten Verkaufserlösen stimmig waren. Die Gewinne flossen ihm zu und wurden von ihm in der bereits genannten Weise teils für laufende Kosten verwendet, teils in die Lokale bzw. in die Gruppierung reinvestiert und teils für eigene Zwecke – seien es Geldanlagen, seien es private Vergnügungen oder sonstige Lebensunterhalt- oder Luxusaufwendungen – genutzt.

Die herausgehobene Stellung des Angeklagten T_____ festigte sich mit zunehmender Dauer der Kokainhandeltätigkeiten und ging mit der Verfestigung der Strukturen, insbesondere der zunehmenden Rekrutierung von „Läufern“ einher. Während er zu Beginn des Tatzeitraums noch eigene Ausfahrten und Übergaben an Endabnehmer vornahm und gelegentlich selbst portionierte, war er ab Anfang bis Mitte November 2014 nur noch mit „Führungs- und Leitungsaufgaben“ betraut und portionierte nur noch ausnahmsweise bei Verhinderung des Angeklagten H_____, wenn es zu Nachschubproblemen kam.“ [EA S. 22 f.]

Der festgestellte organisatorische Aufwand und das vom Kläger orchestrierte arbeitsteilige Zusammenwirken der Bandenmitglieder für den Verlauf von insgesamt 2 kg Kokain auf Kommissionsbasis binnen sechs Monaten zeugt von einer deutlich herausgehobenen kriminellen Energie des Klägers, der sein ganzes – legales – Berufsleben nur geringfügig und mit einfachsten Tätigkeiten beschäftigt war. Aus reinem Gewinnstreben gelang es ihm in kürzester Zeit, die personellen und sächlichen Mittel für ein „Handelsunternehmen“ zu beschaffen, dieses Unternehmen zu leiten und es darüber hinaus auch fortzuentwickeln. Er reinvestierte einen Teil der Gewinne, um das „Unternehmen“ weiter auszubauen. Mit einem weiteren Teil der Gewinne suchte er ein eigenes Immobilienvermögen aufzubauen. Es handelte sich weder um ein „Gelegenheitsgeschäft“ noch um einfache Beschaffungskriminalität, zumal der Kläger nach den Feststellungen der Strafkammer selbst nicht betäubungsmittelabhängig war.

Die positive Entscheidung der Strafvollstreckungskammer bei der Strafaussetzung aus dem Jahr 2018 schließt die Annahme einer Wiederholungsgefahr nicht von vornherein aus (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19). Die den Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts ursprünglich zugekommene Indizwirkung für die anzustellende Prognose hat aufgrund des Zeitablaufs von mehr als sechs Jahren und der nachträglich eingetretenen Umstände im Leben des Klägers nunmehr deutlich geringeres Gewicht.

Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind bei ihrer aufenthaltsrechtlichen Gefahrenprognose anlässlich des Erlasses bzw. der Überprüfung einer spezialpräventiven Ausweisung nicht an die Entscheidungen der Strafgerichte über eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung gebunden (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 – 1 C 20/11 – juris Rn. 23). Allerdings kommt diesen tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu. Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose, insbesondere mit Blick auf den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, das heißt eigenständigen Begründung. Solche Gründe können zum Beispiel dann gegeben sein, wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt. Dabei ist der gegenüber der strafgerichtlichen oder strafvollstreckungsrechtlichen Beurteilung regelmäßig späteren Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts Rechnung zu tragen. Demgegenüber ist es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Fachgerichte bei Betäubungsmittelstraftaten in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr sind der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und Therapie (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Dezember 2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19 m.w.N.).

Die Gefahrenprognose der Strafvollstreckungskammer beruhte insbesondere auf dem zur näheren Aufklärung der Entwicklung und Persönlichkeit des Klägers eingeholten Sachverständigengutachtens des Gutachters L_____ vom 2. Oktober 2018 und der Stellungnahme der Justizanstalt des Offenen Vollzuges Berlin vom 25. Juni 2018, welche dem Kläger zum damaligen Zeitpunkt ein geringes Rückfallrisiko attestierte. Das Prognosegutachten stellte positive wie negative Prognosegesichtspunkte einander gegenüber, wie z.B. die eine ungünstige Basisprognose indizierende häufige Straffälligkeit des Klägers, insbesondere mit Körperverletzungsdelikten, seit seiner frühen Jugend, seine noch ungewisse zukünftige beruflich-soziale Integration und der soziale Empfangsraum, der ihn bis dato nicht vor der Straffälligkeit zu bewahren vermochte. Im Ergebnis wertete der Gutachter bestimmte Unsicherheiten betreffend den zukünftigen Lebenswandel des Klägers zu dessen Gunsten. Die im Kokainhandel zutage getretene Gefährlichkeit des Klägers bestehe prognostisch nicht mehr fort. Dies begründet der Gutachter wie folgt:

„Für die Frage, ob die durch den Verurteilten begangenen Straftaten zutage getretene Gefährlichkeit auf absehbare Zeit nicht mehr fortbesteht, bieten die bestehenden Lebensumstände von Herrn X_____ noch gewisse Unsicherheiten, was etwa seine weitere berufliche Einkommenssituation betrifft. Die von Herrn X_____ begangenen Indexdelikte resultierten im Wesentlichen aus seiner damaligen belasteten Lebenssituation mit seiner Rolle als stellvertretendes Familienoberhaupt, den Streitigkeiten mit seiner Frau und seiner Freundin, sodass er Zuflucht bei Glücksspiel, Alkohol und Kokain gesucht hatte und durch die dadurch entstandenen Schulden zum Handeltreiben mit Kokain gekommen war. Seine Straffälligkeit mit den Indextaten kann trotz der zahlreichen Vorstrafen als aus seiner damals besonders belasteten Lebenssituation resultierend betrachtet werden, sodass sich daraus kein Hinweis auf eine zukünftig erneute Drogendelinquenz ergibt. Gutachterlicherseits ist daher derzeit eine mit der erforderlichen höheren Wahrscheinlichkeit vorzunehmende günstige Kriminalprognose zu treffen und es kann daher davon ausgegangen werden, dass die durch den Verurteilten begangenen Straftaten der des bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zutage getretene Gefährlichkeit nicht mehr fortbesteht.

Die Erfahrung der längeren Inhaftierung hat Herrn X_____ nicht unwesentlich beeindruckt, was zukünftig eine präventive Wirkung auf ihn ausüben dürfte. Es ist erkennbar, dass er aus dieser Erfahrung für sich Schlüsse bezüglich seines weiteren Lebens gezogen hat, sodass bei ihm von einem Wandel in seinen Einstellungen gesprochen werden kann, sich bezüglich möglicher zukünftiger Verhaltensbereitschaften bezüglich kriminellen Handelns ausreichend kontrollieren zu wollen.

Etwas anders verhält es sich allerdings mit seiner strafrechtlichen Auffälligkeit mit Gewalthandlungen, die eine lange Vorgeschichte haben und sich auch noch in letzter Zeit gezeigt haben. […] Herr X_____ hat jetzt selbstkritisch eingeräumt, an seinem Konfliktverhalten arbeiten zu wollen, sodass er sich zur Teilnahme an dem Anti-Gewalt-Training bereit erklärt habe. Diese Maßnahme dauere nach Angaben von Herrn X_____ bis Januar 2019. Daher erscheint es aus gutachterlicher Sicht zweckmäßig, eine eventuelle vorzeitige Entlassung zur Bewährung gemäß § 57 StGB erst nach Ende dieser für Herrn X_____ angemessen erscheinenden Maßnahme zu bewilligen, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich eingehender mit seiner latenten Gewaltbereitschaft auseinander zu setzen.

Herr X_____ sollte noch weiter für eine gewisse Zeit unter der Beobachtung und Unterstützung durch die Bewährungshilfe verbleiben, um eventuell bei auftretenden Belastungen Unterstützung zu erfahren, aber auch noch Kontrolle über seinen weiteren Lebenswandel zu gewährleisten.“

(Sachverständigengutachten vom 2. Oktober 2018, Seite 49 f.).

Das Gutachten stützt seine positive Prognose maßgeblich darauf, dass sich der Kläger nicht mehr in der besonders belasteten Lebenssituation wie zum Begehungszeitpunkt der letzten Tat befinde. Aus der früheren Tat ergebe sich daher kein Hinweis auf eine zukünftig erneute Drogendelinquenz. Das Prognosegutachten benennt die 2018 erfolgte Beschäftigung des Klägers zur Probe mit Aussicht auf eine ausreichende Vergütung sowie die Trennung von seiner marokkanischen Lebensgefährtin bei gleichzeitiger Aussöhnung mit seiner Ehefrau als protektiv wirkende Faktoren. Des Weiteren erwähnt es ein Gnadengesuch des Klägers im Hinblick auf seine beträchtlichen Schulden gegenüber der Staatsanwaltschaft sowie den „nicht unwesentlichen“ Eindruck, den die Erfahrung der längeren Inhaftierung auf den Kläger gemacht hat, dem ebenfalls eine präventive Wirkung zukommen könnte. Es könne von einem „Wandel in seinen Einstellungen“ gesprochen werden. Das Gutachten erkennt im Lebenswandel des Klägers im Ergebnis noch deutliche Unsicherheiten, insbesondere bezüglich der zu erwartenden zukünftigen beruflich-sozialen Integration und ob es ihm gelingen wird, für sich eine stabile berufliche Erwerbsquelle zu schaffen. Das Gutachten müsse „derzeit“ eine mit der erforderlichen höheren Wahrscheinlichkeit vorzunehmende günstige Kriminalprognose treffen.

Es ist schon nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die gleichen gutachterlichen Feststellungen sowohl eine strafrechtlich positive als auch eine aufenthaltsrechtlich negative Prognose stützen können (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Dezember 2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 25). Darauf kommt es hier im Ergebnis aber nicht an, da sich ein Teil der als protektive Faktoren erkannten Feststellungen des Gutachtens als überholt darstellen. Der Senat kann – anders als das Gutachten – auch die sechs Jahre seit der Haftentlassung des Klägers im Dezember 2018 in die Betrachtung mit einbeziehen. Danach haben sich einige Annahmen des Prognosegutachtens nicht bestätigt.

Anders als dort angenommen, hat sich die Lebenssituation des Klägers gegenüber der Zeit unmittelbar vor der Aufnahme des Kokainhandels nicht nachhaltig geändert: Der Kläger hat zu seinen persönlichen Lebensverhältnissen zwar dargelegt, dass er sich mit seiner Ehefrau versöhnt habe und mit ihr und den Kindern zusammenlebe. Er hat aber weder die in der Haft begonnene Weiterbildung zur Fachkraft für Facility Service noch die Ende 2018 aufgenommene Tätigkeit als Helfer in einer Autowerkstatt fortgeführt. Zudem hat er hat sich weder um eine andere Ausbildung bemüht noch hat er sonstige Schritte unternommen, um sich eine berufliche Perspektive aufzubauen und sich wirtschaftlich zu integrieren. Mit seiner nur geringfügigen Erwerbstätigkeit von 15 Wochenstunden in demselben Schnellimbiss wie vor der Anlasstat vermag er seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familie nicht aus eigenen Mitteln zu sichern und bezieht Leistungen nach dem SGB II. Er ist zudem weiterhin durch Schulden in beträchtlicher Höhe belastet und hat auf Nachfrage des Senats in der mündlichen Verhandlung dazu ausgeführt, dass er auf seine beiden Anträge auf Erlass der Schulden nie eine Antwort erhalten habe. Weitere Bemühungen dazu hat er nicht vorgetragen. Wegen der hohen Schuldenlast dürfte der Anreiz für den Kläger, sein – legales – Einkommen nachhaltig zu erhöhen, gering sein. Der hohe Finanzbedarf des Klägers ist ein Risikofaktor von nicht unerheblichem Gewicht im Rahmen der Prognose zur Wiederholungsgefahr, denn vor der Strafkammer und dem durch die Strafvollstreckungskammer beauftragten Sachverständigen L_____ hatte der Kläger Geldprobleme als Motivation für den Betrieb des Kokainhandels angegeben. Wegen der vergleichbar schlechten finanziellen Lage des Klägers ist es nicht ganz fernliegend, dass er zur Verbesserung seiner persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse geneigt sein könnte, erneut auch kriminelle Verdienstmöglichkeiten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zu suchen.

Die persönliche Entwicklung des Klägers seit seiner Haftentlassung bietet auch keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine positive Sozial- und Legalprognose, denn sein Verhalten deutet nicht auf einen nachhaltigen Wandel seiner Einstellungen und seines seit früher Jugend straffälligen Lebens. Der Kläger ist schon kurz nach seiner Haftentlassung im Dezember 2018 erneut straffällig geworden, was gegen einen grundlegenden Wandel in seiner Einstellung zur Rechtstreue spricht. So setzte das Amtsgericht Tiergarten mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 9. März 2020 eine Geldstrafe i.H.v. 30 Tagessätzen wegen Beleidigung, begangen im Januar 2019, fest und mit weiterem Strafbefehl vom 30. März 2021 eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen wegen einer im September 2020 verübten Nötigung. Außerdem wurde ein Fahrverbot für 2 Monate angeordnet. Wegen des Bewährungsbruchs verlängerte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin die Bewährungszeit für den Kläger um ein Jahr bis zum 10. Dezember 2023. Im Übrigen werden – wie aus den ASTA-Meldungen in der Ausländerakte des Klägers hervorgeht – gegen diesen weitere Ende 2023 und 2024 eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Erpressung (Az. 271 Js 4314/24), Beleidigung (Az. 3034 Js 872/24, 3014 Js 17437/23 und 3014 Js 16902/24) und Nötigung (Az. 3034 Js 14811/23) geführt. Da es wegen der früheren Verurteilungen auf die konkreten Tatvorwürfe, die den Ermittlungsverfahren zugrunde liegen, nicht ankommt, sieht der Senat von einer weiteren Aufklärung ab. Denn auch ohne Berücksichtigung dieser Ermittlungsverfahren lässt sich aufgrund der rechtskräftigen Strafbefehle von 2020 und 2021 feststellen, dass die nunmehr dritte Strafhaft zwischen 2016 und 2018 den Kläger offenbar – anders als von der Strafvollstreckungskammer 2018 im Hinblick auf den zu dieser Zeit inhaftierten Kläger noch angenommen – nicht derart nachhaltig beeindruckt hat, dass er sich nach seiner Entlassung rechtstreu verhalten hätte. Das wiederholte Bewährungsversagen offenbart vielmehr eine fortbestehende grundlegend gleichgültige Einstellung zur hiesigen Rechtsordnung, die zu weiteren Straftaten führen kann. Dabei bleibt nicht unberücksichtigt, dass der Kläger bisher nicht mehr mit schwerer Kriminalität oder sonstiger Kriminalität im Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz aufgefallen ist. Dies kann jedoch nach Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung der oben angegebenen individuellen Umstände des Einzelfalls nicht die Prognose rechtfertigen, dass keine Wiederholungsgefahr mehr in Bezug auf die Anlasstat besteht. Auch wenn – worauf der Kläger zu Recht hinweist – die nach der Haft abgeurteilten Straftaten nicht im Bereich der Betäubungsmitteldelikte begangenen wurden, kann im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Gesamtschau nicht von einem gefestigten Einstellungs- und Verhaltenswandel ausgegangen werden. Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass der Kläger seit seiner frühen Jugend straffällig geworden ist und seit 2000 bis zur Entscheidung des Senats bereits 15 Mal als Erwachsener strafrechtlich verurteilt wurde, davon in sieben Fällen zu Freiheitsstrafen. Er ist wiederholter Bewährungsversager. Auch im Strafvollzug war es dem Kläger zunächst offenbar nicht möglich, sich beanstandungsfrei zu verhalten. So unterlag er einer Disziplinarmaßnahme wegen unerlaubten Mobiltelefonbesitzes und verließ mehrfach unerlaubt seinen Arbeitsplatz als Sportraumbetreuer. Sein Verhalten hat sich im Laufe des Strafvollzugs zwar gebessert, der Vollziehungs- und Eingliederungsplans spricht von „einzelnen positiven Verhaltensänderungen“ (vgl. Fortschreibung des Vollziehung- und Eingliederungsplans vom 2. November 2016). Angesichts des seit seiner Jugend bestehenden, verfestigten kriminellen Verhaltens des Klägers müssen jedoch eindeutige und langfristige Umstände vorliegen, die auf eine dauerhafte Verhaltensänderung und eine Beseitigung der Ursachen für sein strafbares Verhalten schließen lassen. Hierfür genügen Ansätze für eine Besserung unter dem Druck der Strafhaft nicht, sondern der Kläger muss sich auch außerhalb der Haftanstalt für eine geraume Zeit bewährt haben. Dies ist ihm nicht gelungen. Es ist ihm nach Überzeugung des Senats nicht in ausreichendem Maße gelungen, sein Leben – wie im Strafvollzug angekündigt – in „geregelte Bahnen“ zu bringen.

(2)  Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet gefährdet auch aus generalpräventiven Gründen die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Eine Ausweisung aus Gründen der Generalprävention ist zulässig, wenn die konkret begangene Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über die verhängte strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Eine generalpräventiv motivierte Ausweisung ist hingegen ausgeschlossen, wenn der Sachverhalt Besonderheiten, insbesondere derart singuläre Züge aufweist, dass eine angemessene generalpräventive Wirkung der Ausweisung nicht zu erwarten ist bzw. ein Bedürfnis für ein generalpräventives Einschreiten nicht besteht (BVerwG, Beschluss vom 11. Dezember 2024 – 1 B 13/24 – juris Rn. 6 f. m.w.N.). Eine kontinuierliche Verwaltungspraxis, die darauf gerichtet ist, auf strafrechtliche Verurteilungen wegen schwerwiegender Betäubungsmitteldelikte aufenthaltsrechtlich mit der Ausweisung zu reagieren, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber grundsätzlich geeignet, andere Ausländer von vergleichbaren schweren Straftaten abzuhalten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 1996 – 1 B 136/95 – juris 2.Ls).

Nach diesen Maßstäben wiegt das Ausweisungsinteresse hier nicht nur nach der gesetzlichen Typisierung gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1b AufenthG, sondern auch nach der individuellen Würdigung der Tat unter Einbeziehung des generalpräventiven Anlasses besonders schwer. Angesichts der – oben erläuterten – hohen Gemeinschädlichkeit des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmittel im Sinne des § 30a BtMG und der Bedeutung der hierdurch gefährdeten Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit besteht ein Bedürfnis dafür, anderen Ausländern deutlich zu machen, dass solche Straftaten neben der strafrechtlichen Sanktion eine Ausweisung nach sich ziehen können, gerade weil die strafrechtliche Sanktion allein oft nicht abschreckend wirkt. Die Tat des Klägers weist auch keinen singulären Charakter auf.

Auch eine generalpräventiv gestützte Ausweisung kann darüber hinaus nur an ein Ausweisungsinteresse anknüpfen, das noch aktuell, also zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch vorhanden ist; denn jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse verliert mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung und kann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden (vgl. BVerwG, Urteile vom 22. Februar 2022 – 1 C 6.01 – juris Rn. 22 und vom 9. Mai 2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 18). Ist das den Ausweisungsanlass bildende Fehlverhalten – wie im vorliegen Fall – strafrechtlich sanktioniert, bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 des Gesetzes über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz – BZRG) zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden dürfen (§ 51 BZRG) (BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2019 – 1 C 21/18 – juris Rn. 18 f.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das an die von dem Kläger begangene Straftat anknüpfende generalpräventive Ausweisungsinteresse noch aktuell. Der Straftatbestand des bandenmäßigen Betäubungsmittelhandels (§ 30a Abs. 1 BtMG) unterliegt gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB einer einfachen Verjährungsfrist von zehn Jahren. Dieser Zeitraum ist in dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 30. Januar 2025 noch nicht verstrichen, denn die Tat endete und die Verjährung begann gemäß § 78a StGB mit der Festnahme des Klägers am 11. März 2015. Noch an diesem Tag hatte der Kläger eine Kokainlieferung angenommen (EA des Urteils des LG Berlin vom 24. November 2015, S. 18). Die untere Grenze, ab der eine Verurteilung nicht mehr zur Begründung eines generalpräventiven Interesses herangezogen werden kann, ist noch nicht erreicht. Aber auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die untere Grenze für das Heranziehen eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses in wenigen Wochen erreicht sein wird, ist die Ausweisung des Klägers zur Überzeugung des Senats weiterhin geeignet, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Verstöße gegen die Rechtsordnung abzuhalten. Der in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Fall des Klägers (vgl. den Artikel vom __ September 2015 in der ___, abrufbar unter _______) fordert wegen der besonderen Gesellschaftsschädlichkeit des Betäubungsmittelhandels eine deutliche Reaktion des Staates und eine Ausschöpfung des Fristenrahmens. Ein Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 BZRG greift nicht für die Anknüpfungsstraftat.

bb) Die gemäß § 53 Abs. 1 Halbs. 2 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls durch den Senat vorgenommene Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiegt.

Besteht – wie hier – eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers, setzt die Ausweisung eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls auf Tatbestandsseite voraus, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird und gerichtlich voll überprüfbar ist. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung der Ausländerbehörde, dem Beklagten ist insoweit kein Ermessen eingeräumt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 23). Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Diese Umstände können sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken und sind nicht als abschließend zu verstehen (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 22 f.). Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird in den §§ 54, 55 AufenthG ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als entweder "besonders schwerwiegend" (Absatz 1) oder als "schwerwiegend" (Absatz 2) (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 – 1 C 32/22 – juris Rn. 9).

Wie bereits oben ausgeführt, hat der Kläger mit seiner Verurteilung vom 24. November 2015 den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt, so dass ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vorliegt. Zudem liegt auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG vor, da er unerlaubt mit Betäubungsmitteln gehandelt hat. Dem stehen besonders schwerwiegende Bleibeinteressen gegenüber. Diese folgen zum einen aus dem langjährigen Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet. Da er als Minderjähriger einreiste und bereits seit 2007 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war, kann er die besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen des § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG für sich in Anspruch nehmen. Als Vater von zwei minderjährigen deutschen Staatsangehörigen, der die Personensorge ausübt, wiegt sein Bleibeinteresse außerdem gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besonders schwer.

Steht einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse – wie hier – ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüber, kann ein Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Ausreise des Ausländers nicht mit der typisierenden gesetzlichen Gewichtung begründet werden. Vielmehr bedarf es einer besonderen individuellen Begründung dafür, dass aufgrund der Umstände des Einzelfalls das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt (BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 1 C 28.18 – juris Rn. 39).

Bei der weiteren Abwägung sind zunächst zusätzlich die Kriterien in den Blick zu nehmen, die nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Art. 8 EMRK entwickelt wurden und in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzubeziehen sind, um die Ausweisung als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK anzusehen (sog. Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 – 46410/99 – juris Rn. 57 ff.). Dies sind insbesondere die Art und Schwere der begangenen Straftat, die seither vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat, die familiäre Situation, die Kenntnis des Partners von der Straftat bei der Begründung der Beziehung, das Interesse und das Wohl eventueller Kinder, insbesondere deren Alter, der Umfang der Schwierigkeiten, auf die Kinder oder der Partner im Heimatland des Ausländers treffen würden, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Aufenthaltsstaat, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausländers zum Gastland sowie zum Bestimmungsland.

Erhöhte Anforderungen an die Ausweisung des Klägers bestehen jedoch nicht aufgrund einer besonders tiefgehenden Integration in die deutschen Lebensverhältnisse, denn trotz seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland ist der Kläger kein „faktischer Inländer“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

Als faktische Inländer gelten solche Personen, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert („Verwurzelung“) und gleichzeitig den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind („Entwurzelung“) (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 – 1 C 32/22 – juris Rn. 17 m.w.N.), so dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, 43. Ed. 1.10.2024, § 53 AufenthG Rn. 87 m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 18. April 2024 – 2 BvR 29/24 – juris Rn. 21). Auch die Ausweisung einer Person, die aufgrund ihrer Verwurzelung in Deutschland und der damit korrespondierenden Entwurzelung im Heimatland als faktischer Inländer behandelt werden muss, ist aber nicht von vornherein unzulässig. Vielmehr ist der besonderen Härte, die mit einer solchen Ausweisung einhergeht, durch eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können, sowie im Rahmen der Interessenabwägung durch eine besonders sorgfältige Prüfung und Erfassung der individuellen Lebensumstände des Ausländers, seiner Verwurzelung in Deutschland einerseits und seiner Entwurzelung im Herkunftsland andererseits, Rechnung zu tragen (BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 – 1 C 32/22 – juris Rn. 17 m.w.N.)

Gemessen daran kann der Kläger bei der konkreten Gewichtung seiner Bleibeinteressen wegen seiner fehlenden sozialen und wirtschaftlichen Integration nicht als sog. „faktischer Inländer“ gelten. Er hält sich zwar seit mehr als 28 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf und ist in dieses als 10-jähriges Kind – nicht als Kleinkind – eingereist. Er hat im Bundesgebiet die Schule besucht und einen erweiterten Hauptschulabschluss erworben. Das Erlernen eines Berufs ist dem mittlerweile 45 Jahre alten Kläger jedoch nicht gelungen, ebenso wenig wie die wirtschaftliche Integration: bisher hatte er nur kurzfristige und zumeist geringfügige legale Beschäftigungsverhältnisse – unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit – und vermochte mit diesen Tätigkeiten weder seinen eigenen Lebensunterhalt noch den seiner Familie zu sichern. Seit 2001 bezieht er – bis auf die Jahre 2012 und 2013 und mithin fast sein gesamtes Erwerbsleben lang – regelmäßig entweder ergänzend Leistungen der Bundesagentur für Arbeit oder Arbeitslosengeld nach dem SGB II. Seine letzte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erfolgte im Jahr 2023 mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 15 Stunden zu einem Brutto-Monatslohn von 800 € als Verkäufer in einem türkischen Schnellimbiss. Eine Verbesserung seiner beruflichen und wirtschaftlichen Situation ist in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten. Der Kläger ist zudem hoch verschuldet, ohne jedoch Schuldendienst zu leisten, was ebenfalls gegen eine wirtschaftliche Integration spricht. Der Kläger kann nicht als vollständig sozial integriert gelten, denn seit Eintritt seiner Strafmündigkeit ist er regelmäßig straffällig geworden, insbesondere mit Gewalt-, Eigentums- und Verkehrsdelikten. Neben der Anlasstat sind noch 14 weitere Delikte nach § 51 Abs. 1 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 BZRG berücksichtigungsfähig. Die letzte Inhaftierung war bereits sein dritter und gleichzeitig längster Aufenthalt in einer Haftanstalt. Auch seit der Haftentlassung ist – wie oben erläutert – nicht eindeutig genug erkennbar, dass der Kläger nunmehr gewillt ist, ein straffreies Leben zu führen.

Der Kläger kann anderseits im Hinblick auf die Türkei nicht als vollständig entwurzelt gelten, auch wenn er dort seit Dezember 1990 nicht mehr lebt. Ihm wird es insbesondere möglich sein, sich in die Lebensverhältnisse in der Türkei zu integrieren. Er versteht und spricht die türkische Sprache, hat in der Türkei die Schule besucht und ist mit den kulturellen Gepflogenheiten vertraut. Er verfügt nach wie vor über familiäre und wirtschaftliche Verbindungen in die Türkei. Seine Ehe schloss er in der Türkei mit einer von seiner Familie für ihn ausgewählten türkischen Ehefrau. Ausweislich der Feststellungen der Strafkammer in ihrem Urteil vom November 2015 (EA S. 35) hat er in seinem Heimatort R_____ und in N_____mit den Gewinnen aus dem Kokainhandelsgeschäft zwei Eigentumswohnungen und nahe Istanbul zusätzlich ein Grundstück erworben. Sein 2012 ausgestellter Nationalpass verzeichnet mehrere Reisen in die Türkei bis zu seiner Festnahme und Ausweisung. Dem Kläger, der im arbeitsfähigen Alter ist, wird eine wirtschaftliche Integration in der Türkei möglicherweise nicht leichtfallen, da er über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Gleichwohl ist, auch wenn der Kläger insgesamt nicht als „faktischer Inländer“ anzusehen ist, zu berücksichtigen, dass der Vollzug der Ausweisung für ihn einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellt, was im Rahmen der Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen vom Senat gewürdigt wird.

Zu Lasten des Klägers sprechen die Schwere seiner Straftat, die zu seiner Ausweisung führte und nach der gesetzlichen Typisierung ein besonders schweres Ausweisungsinteresse darstellt sowie die bestehende erhebliche Wiederholungsgefahr. Erschwerend kommen die bereits dargelegten zahlreichen Vorverurteilungen, die Rückfallgeschwindigkeit und insbesondere auch die generalpräventiven Erwägungen hinzu, denn es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der auf einen großen Absatz ausgerichtete Betäubungsmittelhandel des Klägers und der sich daran anschließende Strafprozess auch in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Nach der Rechtsprechung des EGMR zählt der Betäubungsmittelhandel zu den Delikten, die eine Ausweisung von Ausländern, die ihr ganzes oder den überwiegenden Teil ihres Lebens im Aufenthaltsstaat gelebt haben, rechtfertigen können (EGMR, Entscheidung vom 19. März 2013 – 45971/08 – juris Rn. 47 [Rz. 27]). Auch wenn der Senat keine konkreten Anhaltspunkte dafür hat, dass der Kläger einen weiteren Betäubungsmittelhandel organisiert oder insoweit Pläne hat, kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger kein Zufallstäter ist, sondern bei der Tatbegehung und deren Verschleierung ein hohes Maß an krimineller Energie aufgewendet und nicht nur Familienangehörige und Bekannte mit hineingezogen, sondern auch eine erhebliche Anzahl von Abnehmern konkret gefährdet hat. Dafür ist er zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt worden, die doppelt so hoch ist wie die in § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannte Strafe von mindestens zwei Jahren und mehr als fünfmal so hoch wie die für Betäubungsmittelstraftaten genannte Mindeststrafe in § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG. Zu seinen Lasten fällt ebenfalls ins Gewicht, dass es ihm nicht gelungen ist, sich seit seiner Haftentlassung rechtstreu zu verhalten und wirtschaftlich zu integrieren.

Bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung überwiegt zur Überzeugung des Senats das auf spezial- und generalpräventiven Gründen beruhende besonders schwere Ausweisungsinteresse, da – abgesehen von der Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und der schützenswerten Beziehung des Klägers zu seiner Ehefrau und seinen Kindern – gewichtige Bleibeinteressen weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind. Dabei erweist sich die Ausweisung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK und Art. 6 GG als verhältnismäßig; insbesondere wird durch die Ausweisung, die eine Aufenthaltsbeendigung nach sich zieht, das Kindeswohl der minderjährigen Kinder nicht gefährdet.

Zwar fließen mit deutlichem Gewicht in die Gesamtabwägung die familiären Bindungen des Klägers zu seiner Ehefrau und seinen minderjährigen Kindern, insbesondere zu seinen beiden 7- und 12-Jahre alten deutschen Kindern ein. Der Kläger führt mit seiner Ehefrau nach einer zwischenzeitlichen Trennung (wieder) eine dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfallende eheliche Lebensgemeinschaft, die über das rein formale Band der Ehe hinausgeht. Er lebt mit ihr und den gemeinsamen Kindern zusammen in einer familiären Lebensgemeinschaft und pflegt darüber hinaus – für die Abwägung wegen der Volljährigkeit des Klägers von geringem Gewicht – nach wie vor auch familiäre Bindungen zu seinen Eltern und seinen Geschwistern. Dies führt jedoch nicht dazu, dass die Bleibeinteressen überwiegen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14 m.w.N.).

Gemessen daran ist der durch die Ausweisung des Klägers begründete Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. des Art. 8 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt bzw. notwendig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Die vorübergehende Trennung des Klägers von seiner Ehefrau und den 16-, 12- und 7-jährigen Kindern erscheint im Hinblick auf das Gewicht des Ausweisungsinteresses wegen der besonderen Sozialschädlichkeit des bandenmäßigen Kokainhandels zumutbar. Der Senat berücksichtigt dabei, dass die Kinder alt genug sind, die vorübergehende Abwesenheit des Vaters, dessen Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate reduziert wurde, zu verstehen und um selbständigen Kontakt mit diesem halten zu können. Sie können den Vater in den Schulferien besuchen und mit ihm über Videotelefonie und Chatnachrichten Kontakt halten. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Eltern-Kind-Beziehung zwischen dem Kläger und seinen Kindern dergestalt gelebt wird, dass seine vorübergehende Abwesenheit und der Verweis auf den Fernkontakt negative Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung seiner Kinder und deren emotionale Bindungsfähigkeit haben werden, sind weder substantiiert vorgetragen noch sonst unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles ersichtlich.

Daher ist auch nicht davon auszugehen, dass der Kläger aus Art. 20 AEUV ein Aufenthaltsrecht ableiten kann und sich aus diesem Grunde erhöhte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung ergeben. Ein solches Aufenthaltsrecht hat zur Folge, dass eine Ausweisung nur rechtmäßig ist, wenn von dem Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht und die Aufenthaltsbeendigung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls, des Kindeswohls und der Grundrechte verhältnismäßig ist. Art. 20 Abs. 1 AEUV steht Maßnahmen entgegen, sofern diese bewirken, dass einem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des „Kernbestands“ der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV besteht für einen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines minderjährigen Unionsbürgers nur in den ganz besonderen Sachverhalten, in denen zwischen ihm und dem Unionsbürger ein rechtliches, wirtschaftliches oder affektives Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen im Falle der Aufenthaltsbeendigung zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zugrunde liegen (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 – C-133/15 (Chavez-Vilchez) – juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 35). Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist eine derart große Abhängigkeit der beiden minderjährigen Kinder J_____ und F_____, die beide die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, weder von dem Kläger dargelegt noch sonst ersichtlich. Der Senat unterstellt zwar, dass der Kläger – wie angegeben – trotz anderweitiger polizeilicher Meldung mit seiner türkischen Ehefrau und den beiden deutschen Kindern in einem Haushalt lebt. Darlegungen dazu, welche Sorgetätigkeiten der Kläger in diesem Zusammenhang für seine beiden deutschen Kinder wahrnimmt, sind jedoch nicht erfolgt. Aufgrund des Alters der beiden jüngsten Kinder dürfte die Ehefrau des Klägers in der Lage sein, die Personensorge vorübergehend allein auszuüben. Wegen des langjährigen finanziellen Unterhalts der Familie durch die öffentliche Hand ist die Familie des Klägers auch in finanzieller Hinsicht nicht auf diesen angewiesen. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Ausreise aller Familienmitglieder in die Türkei aus affektiven oder finanziellen Gründen ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar.

2.   Auch die Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 des Bescheides vom 4. Mai 2018 ist rechtmäßig.

Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist § 59 Abs. 1 und 5 in Verbindung mit § 58 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Danach ist die Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers aus der Haft ohne Fristsetzung, aber mindestens eine Woche vorher (§ 59 Abs. 5 AufenthG) anzudrohen. Die Frist zur Ausreise wird im Bescheid für den Fall der Haftentlassung auf eine nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG maximal zulässige Frist von 30 Tagen festgesetzt und begegnet insoweit keinen rechtlichen Bedenken. Auch sonst sind Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Androhung nicht vorgetragen oder sonst erkennbar.

3.   Die Befristung der Sperrwirkung in Ziffer 3 des Bescheides auf nunmehr sechs Monate begegnet auch im Hinblick auf die familiären Bindungen des Klägers keinen rechtlichen Bedenken.

Das bei Erlass des Bescheides vom 4. Mai 2018 noch gesetzlich durch § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall der Ausweisung war dem Grunde nach rechtmäßig, da es – unabhängig von der Frage, ob es in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) fällt – jedenfalls mit einer Rückkehrentscheidung verbunden war (vgl. EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 – C-546/19 – juris Rn. 61; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 53 ff.). Über die Länge der Frist entscheidet die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen, wobei die Frist gemäß § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG mit der Ausreise beginnt. Unter Zugrundelegung der hierzu vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäbe (vgl. zum Prüfprogramm z.B. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 57 f. m.w.N.) bestehen keine Bedenken gegen die im Termin zur mündlichen Verhandlung von dem Beklagen vorgenommene Herabsetzung der Sperrfrist auf sechs Monate und die zu Protokoll gegebenen Ermessenserwägungen.

4.   Ebenfalls ohne Erfolg bleibt die beantragte Aufhebung des für den Fall einer Abschiebung festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4 des Bescheides vom 4. Mai 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2018 für die Dauer von zwei Jahren. Es findet seine gesetzliche Grundlage in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Rechtliche Bedenken gegen die Frist, die den die einheitliche Ermessensausübung der Ausländerbehörde bestimmenden „Verfahrenshinweisen zum Aufenthalt in Berlin“ (VAB Nr. 11.3.2.1; Stand vom 30. Dezember 2024) entspricht, und gegen die behördlichen Ermessenserwägungen, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne dieser Bestimmung ist die Rechtsfrage, ob eine Unterbrechung der Beschäftigung eines türkischen Arbeitnehmers mit Ansprüchen aus Art. 6 Abs. 1, 1. und 2. Spiegelstrich ARB 1/80 infolge einer Inhaftierung zur Vernichtung der bereits erworbenen Assoziationsrechte führt. Diese Rechtsfrage hat fallübergreifende Bedeutung und ihre Klärung dient der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Sie ist auch klärungsfähig, denn aufgrund des Zeitablaufs kommt es für die Rechtfertigung der Ausweisung des Klägers maßgeblich auch auf die Hinzuziehung des generalpräventiven Ausweisungsinteresses an.