Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Ermessensreduzierung auf Null, Nachträgliche Bewilligung von Ausbildungsförderung,...

Ermessensreduzierung auf Null, Nachträgliche Bewilligung von Ausbildungsförderung, Verletzung von Mitwirkungspflichten, Zum Verhältnis von § 67 SGB I und § 44 SGB X


Metadaten

Gericht VG Cottbus 4. Kammer Entscheidungsdatum 17.03.2025
Aktenzeichen VG 4 K 39/24 ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2025:0317.4K39.24.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X §, 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I §, 67 SGB I §

Leitsatz

Liegen gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X die Voraussetzungen für die Rücknahme eines nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I ergangenen Versagungsbescheides vor, erweist sich gleichwohl nach § 67 SGB I getroffene Entscheidung des Leistungsträgers nur dann als rechtmäßig, wenn er die Leistungen nachträglich vollständig bewilligt (Ermessensreduzierung auf Null).

Tenor

Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum 11/2022 bis 04/2023 Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Der Bescheid vom 26. Mai 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2023 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Zuziehung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Versagung der nachträglichen Bewilligung von Ausbildungsförderung.

Die Klägerin studiert seit dem Wintersemester 2022/2023 an der B_____und beantragte erstmals im November 2022 die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG).

Mit Schreiben vom 16. Dezember 2024 teilte die zuständige Sachbearbeiterin des Beklagten der Klägerin mit, dass deren Antrag nicht vollständig sei. Zur Bearbeitung würden weitere Unterlagen benötigt, zu denen u. a. die vollständig ausgefüllte und unterschriebene Einkommenserklärung des Vaters und der Mutter (Formblatt 3) für das Jahr 2020 mit allen benötigten Nachweisen gehörten. Am Ende des Schreibens findet sich folgender Hinweis:

„Wir weisen Sie darauf hin, dass die BAföGZahlungen versagt oder entzogen werden können, wenn Sie die geforderten Unterlagen, Nachweise und Erklärungen nicht

bis spätestens 15.01.2023

eingereicht haben (§§ 60 und 66 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch SGB I). Falls Sie diese Frist nicht einhalten können, teilen Sie uns dies bitte unter Angaben von Gründen schriftlich mit. Ausgenommen von der Frist ist die Bescheinigung bzw. der Nachweis zu § 48 BAföG.“

Am 19. Dezember 2023 lud die Klägerin diverse Unterlagen im OnlinePortal des Beklagten hoch, zu denen u. a. die ersten beiden Seiten des Einkommensteuerbescheides ihrer Eltern aus dem Jahr 2020 gehörten.

Am 15. Januar 2023 stellte die Klägerin weitere Unterlagen (Kontoauszüge) digital ein.

Mit Bescheid vom 8. März 2023 versagte der Beklagte die beantragte Leistung bis zur Nachholung der erforderlichen Mitwirkung. Gemäß § 66 Abs. 1 i. V. m. § 60 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) könne eine Sozialleistung bis zur Nachholung der Mitwirkungspflicht ganz oder teilweise versagt werden, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt habe, seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkomme. Die Klägerin sei mit Schreiben vom 16. Dezember 2022 zur Einreichung von Unterlagen aufgefordert worden, die für die Entscheidung über ihren Antrag zwingend erforderlich seien. Eine Entscheidung ohne diese Unterlagen sei im vorliegenden Fall nicht möglich. Da die Unterlagen nach wie vor nicht eingegangen seien, würden die beantragten Leistungen bis zur Nachholung der erforderlichen Mitwirkung versagt.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin keinen Widerspruch.

Die Klägerin wandte sich allerdings am 24. März 2023 per E-Mail an die zuständige Sachbearbeiterin des Beklagten und bat um Rückmeldung. Ihr sei ein Bescheid über den BAföG-Antrag übermittelt worden. Sie habe am 16. Dezember 2022 die Aufforderung erhalten, die fehlenden Unterlagen einzureichen. Am 19. Dezember 2022 habe sie die fehlenden Unterlagen nachgereicht und zum 15. Januar 2023 noch eine E-Mail geschrieben. Nun stehe im Bescheid, dass sie die fehlenden Unterlagen nicht eingereicht habe. Sie gehe davon aus, dass ihre nachgereichten Unterlagen untergegangen seien.

Daraufhin teilte die Sachbearbeiterin des Beklagten der Klägerin per E-Mail vom 28. März 2023 mit, dass die gesamten Unterlagen, die sie am 16. Dezember 2022 angefordert habe, fehlten und nachgereicht werden könnten. Die Klägerin möge bitte auf Vollständigkeit achten, die „Imma“ müsse „nach § 9 BAföG sein“, mit ersichtlichen Hochschulsemestern. Der Steuerbescheid sei vollständig zu schicken, nicht nur die ersten beiden Seiten. Sie bat die Klägerin die Unterlagen vollständig auf dem Postweg einzureichen.

Am 2. April 2023 lud die Klägerin die Immatrikulationsbescheinigung sowie den vollständigen Einkommensteuerbescheid ihrer Eltern für das Jahr 2020 im Portal des Beklagten hoch. Zudem teilte sie dem Beklagten mit, dass sie zum 1. April 2023 nach Cottbus gezogen sei und die fehlenden Unterlagen postalisch wie auch digital eingereicht zu haben.

Am 27. April 2023 erkundigte sich die Klägerin bei der zuständigen Sachbearbeiterin nach dem Sachstand ihres Antrages. Sie habe als Studentin erhebliche finanzielle Schwierigkeiten und müsse ihre Miete zahlen, da sie wegen ihres Studiums nicht bei ihren Eltern wohne. Der Beklagte teilte daraufhin mit, dass die Formblätter 3 der Eltern der Klägerin nach wie vor fehlten. Die Klägerin wiederum gab nur wenige Minuten später per E-Mail an, die fehlenden Unterlagen am 2. April 2023 eingereicht und dazu noch eine E-Mail geschrieben zu haben. Die zuständige Sachbearbeiterin antwortete, die am 2. April 2023 übermittelten Unterlagen erhalten zu haben. Dabei seien jedoch nicht die Formblätter 3 der Eltern der Klägerin gewesen. Wörtlich heißt es sodann:

„Der Einkommensteuerbescheid vom Finanzamt liegt vor, bitte nicht verwechseln!“

Mit E-Mail vom 9. Mai 2023 gab die Klägerin in Reaktion hierauf an, die Formblätter 3 bereits am 19. Dezember 2022 postalisch auf den Weg gebracht zu haben. Sie habe diese nun nochmals nachgereicht und bitte um schnelle Bearbeitung ihres Antrages, da sie erhebliche finanzielle Schwierigkeiten habe.

Am 11. Mai 2023 gingen die Formblätter 3 einschließlich der entsprechenden Nachweise bei dem Beklagten ein.

Mit Bescheid vom 26. Mai 2023 bewilligte der Beklagte der Klägerin für den Zeitraum 05/2023 bis 09/2023 Ausbildungsförderung in Höhe von monatlich 812,00 Euro. Für den Zeitraum 11/2022 bis 04/2023 lehnte er den Bewilligungsantrag mit der Begründung ab, im Rahmen der nach § 67 SGB I zu treffenden Entscheidung würden Leistungen nicht vom Beginn des Bewilligungszeitraumes zugestanden, da Rechtfertigungsgründe für die nicht fristgerechte Mitwirkung nicht erkennbar seien.

Am 5. Juni 2023 erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hiergegen Widerspruch.

Es treffe nicht zu, dass kein Rechtfertigungsgrund für die nicht fristgerechte Mitwirkung erkennbar sei. Die Klägerin sei der Aufforderung vom 16. Dezember 2022 umgehend nachgekommen, indem sie am 19. Dezember 2022 gemeinsam mit ihren Eltern das Formblatt 3 ausgefüllt, unterschrieben und postalisch versandt habe. Die Eltern der Klägerin könnten dies bei Bedarf eidesstattlich versichern. Ab diesem Zeitpunkt sei die Klägerin davon ausgegangen, dass dem Beklagten die angeforderten Unterlagen vorgelegen hätten. Ohne weiteren Hinweis habe die Klägerin sodann circa drei Monate später den Versagungsbescheid erhalten. Dies habe sie nicht nachvollziehen können, weshalb sie am 24. März 2023 per E-Mail den Kontakt zur zuständigen Mitarbeiterin gesucht habe. Deren E-Mail vom 28. März 2023 habe die Klägerin aufgrund der Formulierung so verstanden, dass nur noch die Immatrikulationsbescheinigung und der Steuerbescheid fehlten. Die entsprechenden Unterlagen habe sie dann am 2. April 2023 eingereicht. Erst nachdem sich die Klägerin am 27. April 2023 von sich aus nach dem Sachstand der Bearbeitung erkundigt habe, habe sie die Mitteilung erhalten, dass die Formblätter 3 fehlten. Sie habe diese sodann umgehend nochmals übermittelt. Die Klägerin habe die Aufklärung des Sachverhalts mithin weder absichtlich noch in anderer Weise erheblich erschwert, sondern sei stets bemüht gewesen, den Aufforderungen nachzukommen.

Es sei auch nicht nachvollziehbar, wieso die Sachbearbeiterin nach der ersten Aufforderung mehr als drei Monate gebraucht habe, um den Versagungsbescheid zu erlassen. Diese zögerliche Bearbeitung gehe hier zu Lasten der Klägerin, da diese die fehlende Mitwirkung umgehend vorgenommen hätte, wenn sie früher davon erfahren hätte. Im Übrigen sei die Mitwirkung bereits am 2. April 2023 nachgeholt worden, weshalb eine Bewilligung erst ab Mai 2023 nicht nachvollziehbar sei.

Die Ermessensausübung des Beklagten sei zudem nicht in einem dem Zweck der Ermächtigung des § 67 SGB I entsprechenden Weise erfolgt. Im Rahmen der Ermessensausübung seien alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Zweck und die Art der Leistung sowie der Grad der Pflichtwidrigkeit der mangelnden Mitwirkung zu berücksichtigen. Existenzsichernde Leistungen dürften nur in Ausnahmefällen abgelehnt werden. Auch sei in Rechnung zu stellen, dass die Klägerin frisch aus der Schule komme und zum ersten Mal einen Antrag auf Ausbildungsförderung gestellt habe. Als Ermessensgesichtspunkte seien schließlich die wirtschaftliche Situation der Klägerin, die Bedeutung der Leistung für sie sowie die Gründe für die hier schon nicht vorliegende  zeitweise Verweigerung der Mitwirkung zu berücksichtigen. Die Klägerin habe mehrfach mitgeteilt, dass sie sich in einer finanziellen Notlage befinde und dringend um die Bearbeitung ihres Antrages gebeten. Selbst unter der Annahme, eine Mitwirkung sei pflichtwidrig unterblieben, sei der Grad der Pflichtwidrigkeit der Klägerin jedenfalls gering zu bemessen.

Soweit der Beklagte nunmehr behaupte, die Klägerin sei durch die zuständige Sachbearbeiterin mehrfach telefonisch darauf hingewiesen worden, dass nicht nur der Einkommensteuerbescheid, sondern auch die Formblätter 3 einzureichen seien, sei dies unzutreffend. Einen telefonischen Kontakt habe es nicht gegeben. Die Klägerin habe nach Erhalt des Versagungsbescheides zwar mehrfach verzweifelt telefonischen Kontakt gesucht. Dies aber ohne Erfolg.

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 2023 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Der Gesetzgeber habe den Auszubildenden zur unaufgeforderten Vorlage aller erforderlichen Unterlagen verpflichtet, also eine ausdrückliche Obliegenheit begründet. Deren Verletzung habe zur Folge, dass bis zum Vorliegen aller Unterlagen keine Ausbildungsförderung gewährt werden könne. Werde die Mitwirkung nachgeholt und lägen die Leistungsvoraussetzungen vor, könnten Sozialleistungen gemäß § 67 SGB I nachträglich ganz oder teilweise erbracht werden. Die Entscheidung hierüber stehe im pflichtgemäßen Ermessen des Leistungsträgers.

Für die fristgemäße Einreichung der Unterlagen sei die Klägerin verantwortlich gewesen. Dieser Mitwirkungspflicht sei sie nicht nachgekommen, weshalb sie unter Hinweis auf die Rechtsfolgen des § 66 SGB I schriftlich aufgefordert worden sei, die fehlenden Unterlagen nachzureichen. Trotz der gesetzten Frist habe die Klägerin die Unterlagen nicht vollständig eingereicht, so dass die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert worden sei. Daher sei entschieden worden, der Klägerin Ausbildungsförderung erst ab 05/2023 zu bewilligen. Unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände die Klägerin habe die Formblätter 3 trotz mehrfacher Nachforderung erst am 11. Mai 2023 eingereicht und des eröffneten Ermessens sei keine andere Entscheidung angezeigt. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Versagungsbescheid bestandskräftig geworden sei.

Die Verzögerung der Bearbeitung des Antrages habe die Klägerin allein zu verantworten. Sie habe auch nicht davon ausgehen können, dass die Formblätter 3 dem Beklagten bereits vorgelegen hätten. Ihr sei der Unterschied zwischen dem Formblatt 3 und dem Einkommensteuerbescheid erklärt und auch mitgeteilt worden, dass weiterhin Unterlagen fehlten. Unter Berücksichtigung dieser Umstände habe der Beklagte das eröffnete Ermessen korrekt ausgeübt.

Am 9. Oktober 2023 hat die Klägerin entsprechend der Rechtbehelfsbelehrung im angegriffenen Widerspruchsbescheid Klage beim Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) erhoben, das den Rechtsstreit mit Beschluss vom 8. Januar 2024 an das Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen hat.

Zur Begründung ihrer Klage wiederholt und vertieft die Klägerin ihre Ausführungen aus dem Verwaltungsverfahren und führt ergänzend wie folgt aus:

Der Beklagte habe es versäumt, einen rechtzeitigen und eindeutigen Hinweis auf die fehlenden Unterlagen zu geben, durch den das entstandene Missverständnis vermieden worden wäre. Die Formulierungen der Sachbearbeiterin seien für einen durchschnittlichen Antragsteller so zu verstehen gewesen, dass die genannten Unterlagen, nicht aber das Formblatt 3 fehlten.

Die Entscheidung über den Antrag habe (jedenfalls unter Vorbehalt) auch ohne das Formblatt 3 getroffen werden können, da die sehr übersichtliche finanzielle Situation der Eltern anhand der vorliegenden Unterlagen ohne großen Aufwand hätte ermittelt werden können. Die relevanten Informationen seien auf den ersten beiden Seiten des Steuerbescheides enthalten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

1. den Beklagten unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 26. Mai 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2023 zu verpflichten, ihr Ausbildungsförderung auch für den Zeitraum 11/2022 bis 04/2023 zu bewilligen.

2. Die Zuziehung ihres Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf den in der Sache ergangenen Widerspruchsbescheid und führt ergänzend wir folgt aus:

Die Klägerin könne nicht nachweisen, dass sie die Formblätter 3 am 19. Dezember 2022 zur Post gegeben habe. Die übrigen Unterlagen seien digital per Upload eingereicht worden. Es stelle sich daher die Frage, warum die Klägerin das Formblatt 3 nicht zusammen mit den anderen Unterlagen am 19. Dezember 2022 in das System hochgeladen habe.

Zwar habe er am 19. Dezember 2022 den Einkommensteuerbescheid der Eltern erhalten; allerdings nicht vollständig, sondern lediglich die ersten beiden Seiten. Erst am 2. bzw. 4. April 2023 sei der Bescheid in voller Länge eingereicht worden. Eine Entscheidung über den Antrag habe ohne die Formblätter 3 nicht getroffen werden können. Die Eltern seien nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz verpflichtet, entsprechende Auskünfte zu erteilen und Urkunden vorzulegen. Für die exakte Berechnung des Anspruchs sei die Vorlage des Formblatt 3 auch unverzichtbar. Der Steuerbescheid der Eltern decke nur einen Teil der mit einem vollständig ausgefüllten Formblatt 3 zu gebenden Auskünfte ab.

Die zuständige Sachbearbeiterin habe der Klägerin im Schreiben vom 16. Dezember 2022 angeboten, sie telefonisch zu kontaktieren. Sie habe mehrfach mit der Klägerin gesprochen und ihr den Sachverhalt im Detail erläutert.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie den von Seiten des Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung des Gerichts.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht durch die Einzelrichterin, nachdem die Kammer dieser den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zur Entscheidung übertragen hat. Im Einvernehmen mit den Beteiligten entscheidet das Gericht gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.

Die zulässige Klage hat Erfolg. Der Bescheid des Beklagten vom 26. Mai 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2023 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit die Bewilligung von Ausbildungsförderung für den Zeitraum 11/2022 bis 04/2023 versagt worden ist. Die Klägerin hat auch für diesen Zeitraum einen Anspruch auf Ausbildungsförderung (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 67 SGB I. Danach kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 SGB I versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird und die Leistungsvoraussetzungen vorliegen.

a. Die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm liegen vor.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin die erforderliche Mitwirkung mit Einreichung des Formblatts 3 nachgeholt hat und die Leistungsvoraussetzungen vorliegen. Auch hat der Beklagte die Leistungen für den hier in Rede stehenden Zeitraum mit Bescheid vom 8. März 2023 gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I mangels ausreichender Mitwirkung der Klägerin versagt.

Keiner Entscheidung bedarf, ob die Anwendung des § 67 SGB I generell lediglich voraussetzt, dass eine bekannt gegebene Versagungsentscheidung vorliegt oder nicht vielmehr regelmäßig deren inzidente Überprüfung zu erfolgen hat, weil für den Fall bereits anfänglicher Rechtswidrigkeit der Versagungsentscheidung über die nachträgliche Bewilligung nicht nach Ermessen zu entscheiden, sondern der Versagungsbescheid gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und Ausbildungsförderung bei Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen vollumfänglich zu bewilligen ist (in diese Richtung wohl: Peter Trenk-Hinterberger, in: Krahmer/Trenk-Hinterberger, SGB I, 4. Auflage 2020, § 67 Rn. 7 und Rn. 13).

Vorliegend hat die Klägerin den Versagungsbescheid vom 8. März 2023 bestandskräftig werden lassen. Jedenfalls in diesem Fall kommt an dieser Stelle eine inzidente Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Versagungsentscheidung aus Sicht des Gerichts nicht in Betracht. Vielmehr steht das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 67 SGB I insoweit zwischen den Beteiligten fest (vgl. OVG BerlinBrandenburg, Urteil vom 22. Juni 2020 OVG 6 B 11.18 , juris Rn. 17). Dies schließt es freilich nicht aus, eine etwaige Rechtswidrigkeit der Versagungsentscheidung im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen (dazu sogleich unter c.).

b. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 67 SGB I vor, hat der Leistungsträger das Verwaltungsverfahren von Amts wegen fortzuführen und über eine nachträgliche Bewilligung nach Ermessen im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I zu entscheiden. Das Gericht prüft gemäß § 114 Satz 1 VwGO insoweit nur, ob der Verwaltungsakt die Grenzen des Ermessens überschritten hat oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde.

Vorliegend erweist sich die Entscheidung des Beklagten als ermessensfehlerhaft.

Die Ermessensentscheidung nach § 67 SGB I muss unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Zwecks und der Art der Sozialleistung sowie des Grades der Pflichtwidrigkeit erfolgen. Das betrifft namentlich die Dauer der fehlenden Mitwirkung, die Motive und den Verursachungsbeitrag sowie die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen und eine möglicherweise vorliegende Mitverursachung der fehlenden Mitwirkung durch den Leistungsträger (vgl. nur OVG BerlinBrandenburg, Urteil vom 22. Juni 2020  OVG 6 B 11.18 , juris Rn. 19 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Soweit darüber hinaus vertreten wird, das Ermessen bei § 67 SGB I gebiete es jedenfalls im Fall gebundener Sozialleistungsansprüche, auf die ein Rechtsanspruch bestehe mit Blick auf den Zweck der Ermächtigung in aller Regel, die Leistung nachträglich vollständig zu erbringen (so Spellbrink, in: KassKomm, Stand: 118. EL März 2022, § 67 SGB I Rn. 10), vermag sich das Gericht dem nicht anzuschließen (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Juni 2020  OVG 6 B 11.18 , juris Rn. 23). Dem Wortlaut der Regelung lassen sich keine Anhaltspunkte für ein in diesem Sinne intendiertes Ermessen entnehmen. Zudem haben die Regelungen der §§ 66 Abs. 1, 67 SGB I nach der gesetzlichen Konzeption gerade zur Folge, dass für den Betroffenen ein Rechtsverlust dahingehend eintritt, dass sich der ursprünglich gebundene Anspruch in einen Anspruch auf Ermessensentscheidung umwandelt. Dem Betroffenen soll danach gerade kein Anspruch mehr auf nachträgliche Bewilligung der Leistung zustehen, er kann vielmehr lediglich noch verlangen, dass über sein diesbezügliches Begehren ermessensfehlerfrei entschieden wird. Schließlich könnte § 66 Abs. 1 SGB I seine Funktion, den Antragsteller zur Nachholung der Mitwirkungshandlung zu bewegen, nicht in gleichem Maße erfüllen, wenn der Leistungsberechtigte sicher sein könnte, die Leistung auch für den Fall des Vertreichenlassens der gesetzten Frist stets vollständig zu erhalten, sobald er die Mitwirkung nachholt.

Ebenso wie danach im Regelfall keine vollständige nachträgliche Bewilligung geboten ist, ist allerdings andererseits zu berücksichtigen, dass die Verletzung von Mitwirkungspflichten grundsätzlich keine endgültigen Rechtsverluste zur Folge haben soll, wenn der verhaltenssteuernde Effekt mit der Nachholung der Mitwirkungshandlung eingetreten ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Juni 2020  OVG 6 B 11.18 , juris Rn. 23; BSG, Urteil vom 24. Juli 2003 B 3 P 4/02 R , juris Rn. 28). Auch eine vollständige Versagung nachträglicher Bewilligung bedarf deshalb besonderer Umstände, die vom Leistungsträger im Rahmen seiner Ermessenserwägungen darzulegen sind.

Den vorstehenden Maßstäben ist der Beklagte in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht geworden.

Soweit der Beklagte im Rahmen seiner Ermessenserwägungen zunächst darauf verweist, dass die Klägerin die für die Bearbeitung ihres Antrages erforderlichen Unterlagen trotz Fristsetzung erst am 11. Mai 2023 vollständig eingereicht habe und Rechtfertigungsgründe für die nicht fristgerechte Mitwirkung nicht erkennbar seien, mag dahinstehen, ob es sich überhaupt um einen im Rahmen des § 67 SGB I berücksichtigungsfähigen Gesichtspunkt handelt, nachdem die nicht fristgerechte Erfüllung von Mitwirkungspflichten bereits Voraussetzung dafür ist, dass der Anwendungsbereich des § 67 SGB I überhaupt eröffnet ist. Jedenfalls rechtfertigt allein dieser Gesichtspunkt nicht ohne weiteres die vom Beklagten angenommene vollständige Versagung der nachträglichen Bewilligung, da die Vorschriften der §§ 66, 67 SGB I nach dem oben Gesagten keine Bestrafung beabsichtigen (vgl. auch Peter Trenk-Hinterberger, in: Krahmer/Trenk-Hinterberger, SGB I, 4. Auflage 2020, § 67 Rn. 10).

Die Erwägungen des Beklagten erweisen sich aber auch deshalb als ermessensfehlerhaft, weil der Beklagte sein Ermessen einseitig ausgeübt und sämtliche für eine nachträgliche Bewilligung sprechenden Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hat.

Zunächst hat der Beklagte nicht hinreichend berücksichtigt, dass sich die Klägerin nach ihrem unwiderlegbaren Vorbringen um die Erfüllung ihrer Mitwirkungspflichten jedenfalls bemüht hat. Der vorliegende Fall unterscheidet sich insoweit deutlich von dem der Anwendung des § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I zugrundeliegenden Regelfall des Auszubildenden, der die erforderlichen Informationen immer nur häppchenweise nach mehrfachen Aufforderungen und Erinnerungen einreicht. Im Gegensatz dazu ist die Klägerin jeweils zeitnah nach Erhalt der Schreiben des Beklagten tätig geworden und hat dem Beklagten teilweise sogar ohne gesonderte Aufforderung weitere Unterlagen zur Verfügung gestellt. Insbesondere nach Erhalt des Versagungsbescheides vom 8. März 2023 war die Klägerin zudem sichtlich bemüht, ihre Mitwirkungspflichten zu erfüllen und hat sich diesbezüglich gleich mehrfach (so mit E-Mail vom 24. März 2023, vom 2. April 2023, vom 27. April 2023 und vom 9. Mai 2023) mit dem Ziel an den Beklagten gewandt, eine abschließende Bearbeitung zu ermöglichen.

In diesem Zusammenhang hätte der Beklagte auch seinen eigenen Verursachungsbeitrag erkennen und hier insbesondere berücksichtigen müssen, dass er die Klägerin ausdrücklich erst am 27. April 2023 darauf hingewiesen hat, dass die Formblätter 3 nach wie vor fehlten. Dieser Umstand wiegt umso schwerer, da dem Beklagtem angesichts der von seiner Sachbearbeiterin gewählten Formulierung „Der Einkommensteuerbescheid vom Finanzamt liegt vor, bitte nicht verwechseln!“ offenbar bekannt war, dass es bei den Auszubildenden insoweit zu Missverständnissen kommen kann. Bereits zuvor war es nicht hilfreich, dass der Beklagte sämtliche benötigten Unterlagen vor Erlass des Versagungsbescheides nur ein einziges Mal, nämlich im Schreiben vom 16. Dezember 2022, ausdrücklich benannt hat. Zudem hat der Beklagte auch die Mitteilung der Klägerin in ihrer E-Mail vom 24. März 2023 nicht zum Anlass genommen, die fehlenden Unterlagen noch einmal ausdrücklich anzugeben, sondern das Missverständnis durch die von ihm in der E-Mail vom 28. März 2023 gewählte Formulierung, in der er ausdrücklich auf die Immatrikulationsbescheinigung und den Steuerbescheid, nicht aber auf das Formblatt 3 hingewiesen hat, sogar noch verstärkt. Selbst als die Klägerin in ihrer E-Mail vom 2. April 2023 zu erkennen geben hatte, nunmehr aus ihrer Sicht alles Notwendige nachgereicht zu haben, sah sich der Beklagte nicht zu klarstellenden Hinweisen veranlasst. Ungeachtet dessen, ob dem Beklagten insoweit auch vor dem Hintergrund der Unerfahrenheit der Klägerin, die erstmals einen Antrag auf Ausbildungsförderung gestellt hat, nicht sogar der Vorwurf der Verletzung von Beratungspflichten nach § 14, § 16 Abs. 3 SGB I zu machen ist, hat er es sich jedenfalls in nicht unerheblichem Maße selbst zuzuschreiben, dass die die bei der Klägerin entstandene Fehlvorstellung, alles Erforderliche für eine Bearbeitung ihres Antrages getan zu haben, nicht zeitnah ausgeräumt wurde.

Soweit der Beklagte in diesem Zusammenhang darauf verweist, der Klägerin sei das Fehlen der Formblätter 3 auch telefonisch erläutert worden, ergibt sich daraus schon deshalb nichts anderes, weil die Klägerin entsprechende Telefonate bestreitet und sich solche auch dem Verwaltungsvorgang des Beklagten nicht entnehmen lassen. Selbst wenn aber ein entsprechender Kontakt erfolgt wäre, hätte der Beklagte anhand der EMails der Klägerin unschwer erkennen können, dass dieser offenbar nach wie vor nicht bewusst war, was noch von ihr verlangt wird.

Zu Recht weist die Klägerin auch daraufhin, dass der Beklagte selbst die Angelegenheit trotz Fristablaufs bereits zum 15. Januar 2023 zunächst bis zum 8. März 2023, mithin fast zwei Monate lang (!), liegen gelassen hat, ohne den Fortgang des Verfahrens sei es durch den frühzeitigen Erlass eines Versagungsbescheides oder eine nochmalige Erinnerung der Klägerin weiter voranzutreiben. Es ist angesichts dessen nicht nachvollziehbar, warum der Beklagte meint, die Klägerin habe die Verzögerung der Bearbeitung allein zu verantworten und es sei sachgerecht, ihr die nachträgliche Bewilligung auch für diesen Zeitraum zu versagen. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass die Klägerin auf die Aufforderung vom 16. Dezember 2022 keineswegs untätig geblieben war, sondern sowohl unter dem 19. Dezember 2022 als auch unter dem 15. Januar 2023  wenn auch nicht ausreichende  Unterlagen eingereicht hatte, weshalb sie mit einer Reaktion des Beklagten rechnen durfte.

Schließlich hat der Beklagte es versäumt, sowohl die von der Klägerin der Sache nach geltend gemachte Unerfahrenheit im Umgang mit Behörden und Formularen als auch die wirtschaftliche Situation der Klägerin und die Bedeutung der versagten Leistung für diese in seine Entscheidung einfließen zu lassen. Zu Letzterem hätte schon angesichts des übersichtlichen Vermögens der Eltern der Klägerin und des vom Beklagten ermittelten Bedarfs an Ausbildungsförderung von monatlich 812,00 Euro besonderer Anlass bestanden. Umso mehr galt dies angesichts dessen, dass die Klägerin mitgeteilt hatte, bei ihren Eltern ausgezogen zu sein und in diesem und weiteren Zusammenhängen auf eine finanzielle Notlage hingewiesen hatte. Den angegriffenen Entscheidungen lässt sich an keiner Stelle entnehmen, dass der Beklagte das entsprechende Vorbringen überhaupt zur Kenntnis genommen, geschweige denn ernsthaft erwogen hätte.

c. Erweist sich die Entscheidung des Leistungsträgers nach § 67 SGB I als ermessensfehlerhaft, steht dem Leistungsberechtigten allerdings im Regelfall nur ein Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn das Ermessen der Behörde im Einzelfall auf Null reduziert ist, weil sich nur die (vollständige) nachträgliche Bewilligung der beantragten Ausbildungsförderung als rechtmäßige Entscheidung darstellt (vgl. auch VG Bayreuth, Gerichtsbescheid vom 5. September 2016 B 3 K 15.479 , juris Rn. 37; VG Braunschweig, Urteil vom 17. März 2005 3 A 511/03 , juris Rn. 18 ff.; VG Aachen, Urteil vom 13. Dezember 2018 5 K 336/16 , juris Rn. 25 ff.).

So liegt es hier, wobei der Anspruch der Klägerin auf die Bewilligung von Ausbildungsförderung auch für den Zeitraum 11/2022 bis 04/2023 zur Überzeugung des Gerichts bereits aus den unter b. genannten Gesichtspunkten folgt.

Aber selbst wenn man dies anders sehen wollte, ergäbe sich die Ermessensreduzierung auf Null vorliegend jedenfalls aus dem Umstand, dass der Versagungsbescheid vom 8. März 2023 von Anfang an rechtswidrig war, weshalb er nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X für die Vergangenheit zurückzunehmen und der Klägerin die beantragten Leistungen zu bewilligen gewesen wären (zur Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Ausbildungsförderungsrecht vgl. Sächsisches OVG, Urteil vom 21. September 2022 5 A 980/19 , juris Rn. 25; zur Anwendbarkeit auf Versagungsbescheide nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I vgl. VG Würzburg, Urteil vom 9. März 2023 W 3 K 21.1681 , juris Rn. 55).

Sind die Voraussetzungen für einen Bescheid gemäß § 66 Abs. 1 SGB I nicht gegeben, so kann hiergegen nicht nur mit Widerspruch und Anfechtungsklage vorgegangen werden. Auch wenn dies versäumt worden ist, ist bei entsprechenden Einwänden des Betroffenen jedenfalls eine Rücknahme nach § 44 SGB X in Erwägung zu ziehen. Die Bestandskraft des Bescheides steht dem nicht entgegen, weil § 44 SGB X deren Durchbrechung im Sinne materieller Gerechtigkeit gerade ermöglichen soll. § 67 SGB I dient in diesem Zusammenhang auch nicht etwa dazu, § 44 SGB X zu ersetzen. Er kommt vielmehr vor allem dann zur Anwendung, wenn der vorausgehende Versagungsbescheid nach § 66 Abs. 1 SGB I rechtmäßig gewesen ist. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, sind die Gründe, die auch eine Rücknahme des Versagungsbescheides nach § 44 SGB X rechtfertigen würden, zusätzlich in die Ermessensentscheidung nach § 67 SGB I einzustellen (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 19. Juli 2007 L 14 KG 3/04 , juris Rn. 35).

Zur Überzeugung der erkennenden Einzelrichterin muss hierbei zudem berücksichtigt werden, dass es sich bei der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X um eine gebundene Entscheidung handelt, auf deren Anwendung der Leistungsträger nicht zum Nachteil des Betroffenen verzichten kann. Liegen mithin sämtliche Voraussetzungen für eine Rücknahme des Versagungsbescheides mit Wirkung für die Vergangenheit vor und entscheidet sich die Behörde dennoch gegen eine Rücknahmeentscheidung und für eine solche nach § 67 SGB I, kann dies allenfalls in der Weise zulässig geschehen, dass sie die Leistungen nachträglich vollumfänglich bewilligt.

Dies zugrunde gelegt erwies sich im Rahmen der nach § 67 SGB I zu treffenden Entscheidung allein die vollständige nachträgliche Bewilligung der beantragten Ausbildungsförderung als ermessensfehlerfrei.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Versagungsbescheid vom 8. März 2022 war von Anfang an rechtswidrig und auch die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X steht einer rückwirkenden Bewilligung nicht entgegen.

§ 66 Abs. 1 SGB I ermächtigt den Sozialleistungsträger, - soweit die Voraussetzungen einer beantragten Sozialleistung nicht nachgewiesen sind - die Leistungen ganz oder teilweise zu versagen, wenn der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert. Die Versagung der Leistung setzt danach auf materieller Ebene zunächst voraus, dass der Antragsteller eine in den §§ 60 bis 62 SGB I im Einzelnen vorgesehene und von dem Leistungsträger geforderte Mitwirkung unterlassen hat, obwohl er von ihr nach § 65 SGB I nicht freigestellt ist. Ferner muss zwischen der Nichterfüllung der Mitwirkungspflichten und der erheblichen Erschwerung der Aufklärung des Sachverhalts ein ursächlicher Zusammenhang bestehen, weshalb die beantragte Leistung nicht versagt werden kann, wenn und soweit gleichwohl die Leistungsvoraussetzungen bereits nachgewiesen sind. Formelle Voraussetzung für die Versagung der beantragten Leistung ist schließlich, dass der Antragsteller zuvor auf die Rechtsfolge der Verletzung der Mitwirkungspflicht schriftlich hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht innerhalb der ihm gesetzten angemessenen Frist nicht nachgekommen ist (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1985 - 5 C 133.81 , juris Rn. 13).

Nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts muss der gemäß § 66 Abs. 3 SGB I erforderliche schriftliche Hinweis der Behörde dabei die notwendige Bestimmtheit aufweisen, um der zur Mitwirkung aufgeforderten Person zu verdeutlichen, welche leistungsrechtlichen Konsequenzen bei der Unterlassung der Mitwirkung drohen. Eine allgemeine Belehrung oder Wiedergabe des Gesetzeswortlauts ist hierfür nicht ausreichend. Vielmehr muss der Leistungsträger auf der Grundlage des bekannten Sachstandes anhand der ihm durch § 66 Abs. 1 SGB I eingeräumten Entscheidungsalternativen unmissverständlich und konkret die Entscheidung bezeichnen, die im Einzelfall beabsichtigt ist, wenn der Betroffene dem Mitwirkungsverlangen innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommt. Der vorherige schriftliche Hinweis auf die mögliche(n) Rechtsfolge(n) fehlender Mitwirkung ist eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und des Rechts auf ein faires Verfahren. Er soll sicherstellen, dass der Betroffene in Kenntnis der ihm drohenden Rechtsfolgen seine Haltung auf seinen Einzelfall bezogen überdenken kann, um nicht von einer späteren ganz oder teilweisen Leistungsversagung oder entziehung nach § 66 Abs. 1 SGB I überrascht zu werden (Warn- und Appellfunktion). Gerade aus diesem Grund muss der schriftliche Hinweis Ausführungen darüber enthalten, aufgrund welcher Umstände im Einzelfall ein Mitwirkungsversäumnis vorliegt und welche rechtlichen Konsequenzen das Versäumnis haben wird. Darüber hinaus muss eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung auch den Hinweis enthalten, dass die Leistungsversagung bzw. -entziehung nur bis zur Nachholung der bisher unterlassenen erforderlichen Mitwirkung erfolgen kann (vgl. BSG, Urteil vom 12. Oktober 2018 B 9 SB 1/17 , juris Rn. 27 ff.; Bayerisches LSG, Urteil vom 11. April 2019 L 7 AS 582/16 , juris Rn. 60 f.).

Dem genügt der Hinweis des Beklagten im Schreiben vom 16. Dezember 2022, bei dem es sich ersichtlich um einen allgemein verwendeten Textbaustein ohne Einzelfallbezug handelt, nicht. Die von dem Beklagten gewählte Formulierung erschöpft sich lediglich in der unvollständigen Wiedergabe des Gesetzeswortlauts und enthält weder einen Hinweis darauf, welche Entscheidung (Versagung oder Entziehung?) im konkreten Fall in welchem Umfang (ganz oder teilweise?) und bis wann (Nachholung) beabsichtigt ist. Dahinstehen kann, ob in der hier vorliegenden Situation, in der eine Reihe von Unterlagen angefordert worden sind, zudem ein dahingehender Hinweis geboten gewesen wäre, ob mit einer vollständigen Versagung auch dann zu rechnen ist, wenn die Unterlagen wie im Falle der Klägerin  lediglich teilweise eingereicht werden.

Abgesehen davon, dass danach schon die Voraussetzungen für den Erlass des Versagungsbescheides vom 8. März 2023 nicht vorlagen, erweist sich dieser auch als ermessensfehlerhaft, weil der Beklagte den Bescheid erlassen hat, ohne die Klägerin ein einziges Mal an die Vorlage der ausstehenden Unterlagen zu erinnern, obwohl diese sowohl unter dem 19. Dezember 2022 als auch dem 15. Januar 2023 Dokumente eingereicht hatte. Jedenfalls nachdem der Beklagte hierauf selbst fast zwei Monate lang nicht reagiert hatte, hätte er den Versagungsbescheid am 8. März 2023 nicht ohne Erinnerung der Klägerin erlassen dürfen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.

3. Dem Antrag der Klägerin, die Zuziehung ihres Bevollmächtigten für das Vorverfahren gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären, ist stattzugeben. Darüber ist unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt eines verständigen Beteiligten aus zu entscheiden. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Bevollmächtigten dann, wenn es dem Beteiligten nach seinen persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen, wobei auch die Bedeutung der Sache für den Beteiligten im Zeitpunkt der Bevollmächtigung zu berücksichtigen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. März 2023  5 C 6.21 , juris Rn. 28 m. w. N.). Gemessen daran, war es der Klägerin ungeachtet dessen, dass die Angelegenheit besondere rechtliche Schwierigkeiten nicht aufweist, nicht zuzumuten, das Vorverfahren selbst zu führen. Insoweit misst die Einzelrichterin dem Umstand entscheidende Bedeutung bei, dass die Sache für die sowohl rechtlich als auch im Umgang mit Behörden  unerfahrene Klägerin eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung aufwies und sie sich im Vorfeld bereits selbst um Klärung der Situation mit dem Beklagten bemüht hatte, was allerdings nicht von Erfolg gekrönt war.