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Ukrainischer Staatsbürger, Wohnsitzregelung, örtlich zuständiger Leistungsträger


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Gericht SG Potsdam 33. Kammer Entscheidungsdatum 17.01.2025
Aktenzeichen S 33 AS 894/24 ER ECLI ECLI:DE:SGPOTSD:2025:0117.S33AS894.24ER.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 12a Abs. 1 AufenthG, § 24 AufenthG, § 36 Abs. 1 SGB II, § 36 Abs. 2 SGB II

Tenor

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum 16. Dezember 2024 bis 30. April 2025 den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts für Alleinstehende auf der Grundlage des § 20 SGB II sowie 275 € monatlich als Bedarf für Unterkunft und Heizung zu gewähren.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der am 16. Dezember 2024 eingegangenen Antrag des am 1999 geborenen Klägers, der ukrainischer Staatsbürger ist, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm Leistungen auf der Grundlage des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch (SGB II) zu gewähren, ist zulässig und begründet.

Gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Anordnungsanspruch – hier: der Anspruch auf die Grundsicherungsleistung – und ein Anordnungsgrund - der besondere Eilbedarf – sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).

Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch ein Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums geht. Ist eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange des Antragstellers einzustellen sind (BVerfG, Beschlüsse vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - und 06. Februar 2013 - 1 BvR 2366/12 -, juris).

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und hieraus folgend den notwendigen Eilbedarf der einstweiligen Anordnung glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller ist auf der Grundlage des § 7 SGB II leistungsberechtigt. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Diese Voraussetzungen erfüllt der 1999 geborene Antragsteller, der nach den vorliegenden Unterlagen seit der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zum 2. Oktober 2024 ohne Einkommen und auch sonst vermögenslos ist. Er erhält auch keine anderweitigen existenzsichernden Leistungen. Der Beigeladene hat seinen Bewilligungsbescheid vom 9. Januar 2024, der im Übrigen lediglich bis einschließlich November 2024 Leistungen gewährte, ab dem 1. August 2024 aufgrund des Umzugs des Antragstellers und dem dadurch durch ihn angenommenem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit aufgehoben. Der Antragsteller hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er wohnte zunächst ausweislich der amtlichen Meldebestätigung seit dem 11. April 2022 zur Untermiete in der M.straße in Berlin und verzog - nach erfolgter Zusicherung durch den Antragsgegner - am 17. Juli 2024 in die Adresse R.berg in K., im Land Brandenburg. Der Antragsteller ist nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von der Leistungsberechtigung ausgenommen. Er besitzt einen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des § 24 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetzes -AufenthG). Diese Aufenthaltserlaubnis gilt einschließlich ihrer Auflagen und Nebenbestimmungen für den Antragsteller als vorübergehend Schutzberechtigtem aus der Ukraine aktuell ohne Verlängerung im Einzelfall bis zum 4. März 2026 fort (vgl. § 2 Abs. 1 der Verordnung zur Regelung der Fortgeltung der gemäß § 24 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnisse für vorübergehend Schutzberechtigte aus der Ukraine vom 28. November 2023 (BGBl 2023 Teil I Nr. 334) und Art. 1 Nr. 1 a) Erste Verordnung zur Änderung der Ukraine-Aufenthaltserlaubnis-Fortgeltungsverordnung vom 22. November 2024 (BGBl 2024 Teil I Nr. 363). Ein anderweitiger Ausschlussgrund für die Leistungsberechtigung auf der Grundlage des SGB II liegt ebenfalls nicht vor. Der Antragsteller hat ausweislich seines vorliegenden Aufenthaltstitels den Wohnsitz nach § 12a Abs. 1 S. 1 AufenthG im Land Berlin zu nehmen. Dass er Mitte Juli 2024 in das Land Brandenburg gezogen ist, führt nicht zu einem Leistungsausschluss. Grundsätzlich muss ein Leistungsausschluss als Versagung der existenziell notwendigen Leistungen durch den Gesetzgeber ausdrücklich normiert werden. Dies ist im SGB II bezüglich eines Verstoßes gegen die Wohnsitzregelung aus § 12a Aufenthaltsgesetz bislang nicht geschehen. Es gilt vielmehr, dass leistungsberechtigt ist, wer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II). Weiter wirkt sich der Aufenthalt eines grundsätzlich Leistungsberechtigten auf der Grundlage des SGB II leistungsrechtlich lediglich im Rahmen der Bestimmungen des § 7b SGB II aus. Hierfür ist nicht der Verstoß gegen Aufenthaltsregelungen auf der Grundlage des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich, sondern die Frage eines Aufenthalts im „näheren Bereich des zuständigen Jobcenters“, die unabhängig von aufenthaltsrechtlichen Regelungen zu beantworten ist und sogar einen Bereich im grenznahen Ausland einschließen kann. Was einen etwaig festzustellenden Verstoß gegen die aufenthaltsrechtliche Wohnsitzregelung durch den Antragsteller anbelangt, kann dieser aufenthaltsrechtlich sanktioniert werden. So bestimmt § 98 Abs. 3 Nr. 2a des Aufenthaltsgesetzes, dass ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 12a Abs. 1 S. 1 den Wohnsitz nicht oder nicht für die vorgeschriebene Dauer in dem Land nimmt, in dem er zu wohnen verpflichtet ist. Diese Ordnungswidrigkeit kann nach § 98 Abs. 5 AufenthG mit einer Geldbuße bis zu 1000 € geahndet werden. Ob dem Antragsteller im vorliegenden Fall eine solche Ordnungswidrigkeit überhaupt vorgeworfen werden kann, muss vorliegend durch das Gericht nicht entschieden werden, ist jedoch zumindest zweifelhaft. Denn nach Aussage des Antragstellers, durch die in den Verwaltungsvorgängen zu findenden Unterlagen hinreichend glaubhaft gemacht, lief sein Untermietvertrag in Berlin zum 31. Juli 2024 aus und konnte nicht verlängert werden. Nachdem die Suche nach einer anderweitigen Unterkunft in Berlin für den Antragsteller erfolglos verlaufen war, fand er die auch aktuell noch von ihm bewohnte Unterkunft in K. In diesem Zusammenhang wurde er von dem zuvor für ihn örtlich zuständigen Beigeladenen offensichtlich dahingehend beraten, dass hinsichtlich der gefundenen Wohnung im Gebiet des Antragsgegners, dieser örtlich zuständig sei und auch seine Zustimmung erteilen müsse. Daraufhin beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner die entsprechende Zusicherung, die dieser auch erteilte. Der Beigeladene stellte die Zahlungen am 17. Juli 2024 vorläufig ein und bat den Antragsteller, einen Neuantrag beim Antragsgegner zu stellen. Eine aufenthaltsrechtliche Problematik wurde zu diesem Zeitpunkt – trotz Kenntnis des Aufenthaltstitels des Antragstellers – nach den vorliegenden Unterlagen vom Beigeladenen dem Antragsteller gegenüber nicht kommuniziert.

Nach Auffassung des Gerichts ist der Antragsgegner für den Antragsteller auch der örtlich zuständige Leistungsträger.

Nach § 36 Abs. 1 S. 1 SGB II ist für die Leistungen nach dem SGB II örtlich zuständig der Leistungsträger, in dessen Bezirk bzw. Gebiet die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Kann ein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht festgestellt werden, so ist der Träger nach dem SGB II örtlich zuständig, in dessen Bereich sich die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält (§ 36 Abs. 1 S. 4 SGB II). Nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Anhaltspunkt hierfür ist jedenfalls die Anmietung einer Unterkunft. Eine solche hat der Antragsteller zum 1. August 2024 im Gebiet des Antragsgegners angemietet. Die ihm auferlegte aufenthaltsrechtliche Wohnsitzregelung dürfte der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Sinne vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R-, Rdn. 19, juris) nicht entgegenstehen. Jedenfalls aber greift § 36 Abs. 1 S. 4 SGB II. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller sein Apartment im Gebiet des Antragsgegners nicht tatsächlich bewohnt. Eine anderweitige örtliche Zuständigkeit ergibt sich vorliegend nicht. Insbesondere ist auch nicht der Beigeladene örtlich zuständig. Zwar ist nach § 36 Abs. 2 S. 1 SGB II abweichend von Abs. 1 für die jeweiligen Leistungen nach diesem Buch der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12a Abs. 1-3 des Aufenthaltsgesetzes ihren Wohnsitz zu nehmen hat. Dies ist vorliegend jedoch das gesamte Land Berlin. Im Land Berlin wiederum sind – je nach konkretem Wohnsitz/Aufenthalt des jeweiligen Leistungsberechtigten – insgesamt 12 unterschiedliche Jobcenter zuständig. Die auf das gesamte Land bezogene Wohnsitzauflage kann daher die Zuständigkeit eines konkreten Jobcenters des Landes nicht begründen. Soweit des ungeachtet vertreten wird, dass in einem Fall wie dem vorliegenden die Zuständigkeit aus § 36 Abs. 1 SGB II durch die Regelung aus § 36 Abs. 2 SGB II verdrängt wird, führt diese Auffassung im Ergebnis zu einem gesetzlich nicht geregelten Leistungsausschluss für Hilfebedürftige, die ihren Wohnsitz nicht in dem Bundesland haben, in das sie – ohne nähere Konkretisierung – aufenthaltsrechtlich verteilt worden sind. Bereits höchstrichterlich geklärt ist es, dass die in § 36 SGB II geregelte örtliche Zuständigkeit kein anspruchsbegründendes Element, also keine Leistungsvoraussetzung, ist (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2013 B 14 AS 58/12 R, Rdn. 12, juris). Soweit das LSG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 12. Januar 2021 (L 14 AS 1694/20 B ER, juris) eine Lösung in der Pflicht zur unverzüglichen Weiterleitung von Anträgen, die bei einem unzuständigen Leistungsträger gestellt werden, an den zuständigen Leistungsträger (§ 16 Abs. 2 S. 1 SGB I) sieht, überzeugt dies das Gericht nicht. Denn bei einer Wohnsitzregelung nach § 12 Abs. 1 AufenthG, die auf einer Länderverteilung nach § 24 Abs. 3 AufenthG basiert, ist – für den hier vorliegenden Fall, dass sich der Leistungsberechtigte nicht in dem Bundesland aufhält, in das er verteilt worden ist – ein konkret zuständiger Leistungsträger auf der Grundlage des § 36 SGB II in diesem Bundesland gerade nicht auszumachen. Eine perpetuierte örtliche Zuständigkeit bezüglich des vor der Begründung des nunmehr bestehenden gewöhnlichen/tatsächlichen Aufenthalts innegehabten gewöhnlichen/tatsächlichen Aufenthalts ist den Zuständigkeitsregelungen des SGB II, insbesondere § 36 SGB II, nicht zu entnehmen. Sie bedürfte einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Eine örtliche Zuständigkeit kann in diesen Fällen allein auf der Grundlage des § 36 Abs. 1 bestimmt werden (wie hier: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Januar 2017 – L 19 AS 2181/16 B ER –, juris; Aubel in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 36 SGB II Rn. 53 ff.; Julian Seidl, Wohnsitzauflagen und Grundsicherung – zur Verzahnung migrationsrechtlicher Wohnsitzregelungen mit leistungsrechtlichen Rechtsfolgen nach § 36 Abs. 2 SGB II und § 23 Abs. 5 SGB XII, info also 2023, S. 110 ff.).

Die Höhe des zugesprochenen Regelbedarfs ergibt sich aus dem Gesetz. Die Höhe der zugesprochenen Unterkunftskosten, an deren Angemessenheit keine Zweifel bestehen, aus dem vorliegenden Mietvertrag.

Die zeitliche Beschränkung der zugesprochenen Leistungen ergibt sich aus dem Gesichtspunkt, dass für den Zeitraum vor Antragstellung schwere und unzumutbare Nachteile des Antragstellers durch den Verweis auf den grundsätzlich vorrangigen Rechtsschutz in der Hauptsache weder geltend gemacht, noch ersichtlich sind. Die Beschränkung bis Ende April 2025 gründet auf dem nach Kenntnis des Gerichts noch offenen einstweiligen Rechtsschutzverfahren des Antragstellers vor dem Verwaltungsgericht, mit dem er die aufenthaltsrechtliche Zuweisung in das Land Brandenburg begehrt. Es ist zu erwarten, dass der Ausgang dieses Verfahrens Auswirkungen auf den tatsächlichen Aufenthalt des Antragstellers hat.

Die Leistungsgewährung zieht auch die Versicherung des Antragstellers in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V nach sich.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG. Sie trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.