Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 38. Senat | Entscheidungsdatum | 25.06.2014 | |
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Aktenzeichen | L 38 SF 304/13 EK AS | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
Die Kläger begehren Entschädigung wegen überlanger Dauer des Verfahrens – S 127 AS 19616/09 – (Sozialgericht – SG – Berlin) und des insoweit anhängigen Berufungsverfahrens – L 34 AS 82/13 - (Landessozialgericht – LSG – Berlin-Brandenburg).
Die in einem gemeinsamen Haushalt lebenden Kläger stehen im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Streitig war und ist zwischen ihnen und dem Jobcenter F.-K. (JC) ua für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. Juli 2005, bei welchem der Kläger das bezogene Kindergeld anzurechnen ist und ob Kosten einer Monatskarte der Kläger zu 2) und 3) berücksichtigungsfähig sind. Ferner begehrten die Kläger die Bescheidung eines Überprüfungsantrags. Auf die Bescheide des JC vom 20. April 2009 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 24. Juni 2009 (Leistungszeiträume vom 1. Januar 2005 bis 31. Juli 2005) erhoben die Kläger am 28. Juni 2009 Klage, über die das SG mit Gerichtsbescheid vom 3. Dezember 2012, zugestellt am 11. Dezember 2012, entschied (- S 127 AS 19616/09 -). Das Berufungsverfahren (- L 34 AS 82/13 -) ist bei dem LSG seit 10. Januar 2013 anhängig. Die Kläger legten die erbetene Berufungsbegründung am 9. Dezember 2013 vor (Schriftsatz vom 4. Dezember 2013). Das JC erwiderte hierauf mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2013, eingegangen am 27. Dezember 2013. Die Kläger nahmen diesbezüglich mit Schriftsatz vom 7. Februar 2014 Stellung. Der Berichterstatter verfügte das Verfahren unter dem 3. März 2014 in das „ET-Fach“.
Die Kläger haben am 5. November 2013 Klage auf „Schadenersatz für ein überlanges Gerichtsverfahren“ geltend gemacht, wobei sie jeweils 100,- € pro Person und Monat sowohl für materielle als auch für immaterielle Schäden rückwirkend seit Klageerhebung begehren. „Normal“ sei pro Instanz eine Dauer von sechs Monaten.
Die Kläger beantragen,
den Beklagten zu verurteilen, ihnen wegen unangemessener Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens – S 127 AS 19616/09 – und des Berufungsverfahrens gegen das Jobcenter F.-K. - L 34 AS 82/13 - eine Entschädigung von jeweils 200,- für jeden Monat der Verzögerung zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die Klage bereits deshalb für unbegründet, weil die Kläger bezogen auf das erstinstanzliche Verfahren nicht unverzüglich nach In-Kraft-Treten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV) vom 24. November 2011 (BGBl I S 2302) am 3. Dezember 2011 eine Verzögerungsrüge erhoben hätten. Sie hätten dies im Übrigen bislang überhaupt nicht getan.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Die Gerichtsakte und die Akten des Verfahrens S 127 AS 19616/09 - L 34 AS 82/13 haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Maßgebend für das vorliegende Klageverfahren sind die §§ 198 ff. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sowie die §§ 183, 197a und 202 SGG, jeweils in der Fassung des GRüGV vom 24. November 2011 (BGBl I S 2302) und des Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 06. Dezember 2011 (BGBl I S 2554). Bei dem geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer handelt es sich nicht um einen Amtshaftungsanspruch iSv Art. 34 Grundgesetz (GG). Es ist daher nicht der ordentliche Rechtsweg, sondern vorliegend der zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet. Denn die grundsätzlich in § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG vorgesehene Zuweisung der Entschädigungsklagen an das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde, wird für sozialgerichtliche Verfahren in § 202 Satz 2 SGG modifiziert. Nach dieser Regelung sind die Vorschriften des 17. Titels des GVG (§§ 198-201) mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das LSG, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das BSG und an die Stelle der Zivilprozessordnung das SGG tritt. Für die Entscheidung über die Klage ist daher das LSG Berlin-Brandenburg zuständig.
Richtiger Beklagter ist das Land Berlin. Nach § 200 Satz 1 GVG haftet für Nachteile, die aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten eines Landes eingetreten sind, das Land. Da das LSG Berlin-Brandenburg gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Staatsvertrags über die Errichtung gemeinsamer Fachobergerichte der Länder Berlin und Brandenburg vom 26. April 2004 (GVBl für Berlin 2004, 380 bzw GVBl Brandenburg I S 283 ff.) - Staatsvertrag - ein gemeinsames Fachobergericht der Bundesländer Berlin und Brandenburg ist, seinen Sitz aber im Land Brandenburg hat, lässt sich dem Wortlaut des § 200 Satz 1 GVG unmittelbar keine Bestimmung des richtigen Beklagten entnehmen. Der Senat folgt insoweit jedoch dem Bundesfinanzhof (BFH), der für das Finanzgericht Berlin-Brandenburg unter Berufung auf die im Wesentlichen auf die Gesetzesmaterialien zum Staatsvertrag sowie die einfachere staatsrechtliche Handhabbarkeit abstellenden Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin im Beschluss vom 19. Dezember 2006 (- 45/06 - juris, Rn 23 ff) sowie auf die Beschlüsse des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg vom 10. Mai 2007 (- 8/07 - juris - Rn 14 ff) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 14. Juli 2006 (- 2 BvR 1058/05 - juris - Rn 22 ff) davon ausgegangen ist, dass maßgeblich nicht das Sitzprinzip sei, sondern die gemeinsamen Fachobergerichte der Länder Berlin und Brandenburg jeweils Rechtsprechungsgewalt desjenigen Bundeslandes ausübten, aus dem das Ausgangsverfahren stamme (vgl BFH, Urteil vom 17. April 2013 - X K 3/12 - juris). Vorliegend stammt das Ausgangsverfahren aus dem Land Berlin. Mit Blick auf die primär an den Wohnsitz der Kläger anknüpfende örtliche Zuständigkeit der Sozialgerichte (vgl § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG) hatten diese den Rechtsstreit zutreffend vor dem SG Berlin anhängig gemacht. Das LSG Berlin-Brandenburg übte daher im gerügten Berufungsverfahren Rechtsprechungsgewalt des Landes Berlin aus, das damit Anspruchsgegner im Entschädigungsklageverfahren ist. Das Rubrum wurde von Amts wegen entsprechend berichtigt.
Die Übertragung der Vertretung des beklagten Bundeslandes Berlin auf die Präsidentin des LSG Berlin-Brandenburg (§ 29 Abs. 1 Satz 2 der Anordnung über die Vertretung des Landes Berlin im Geschäftsbereich der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz vom 22. Oktober 2012, Amtsblatt Berlin 2012, 1979) ist nicht zu beanstanden. Insbesondere durfte diese Übertragung durch eine Verwaltungsanweisung vorgenommen werden; ein Gesetz war nicht erforderlich (vgl BFH aaO für die vorher geltende Anordnung über die Vertretung des Landes Berlin im Geschäftsbereich der Senatsverwaltung für Justiz vom 20. September 2007, Amtsblatt Berlin 2007, 2641).
Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft. Nach § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG iVm § 202 Satz 2 SGG sind die Vorschriften des SGG über das Verfahren vor den Sozialgerichten im ersten Rechtszug heranzuziehen. Gemäß § 54 Abs. 5 SGG kann mit der Klage die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Die Kläger machen angesichts der Regelung des § 198 GVG nachvollziehbar geltend, auf die begehrte Entschädigungszahlung, die eine Leistung iSv § 54 Abs. 5 SGG darstellt, einen Rechtsanspruch zu haben (vgl BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 - B 10 ÜG 1/12 KL = SozR 4-1720 § 198 Nr 1). Eine vorherige Verwaltungsentscheidung ist nach dem Gesetz nicht vorgesehen (vgl. § 198 Abs. 5 GVG). Vielmehr lässt die amtliche Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung (BT-Drs. 17/3802, S. 22 zu Abs. 5 Satz 1), nach der der Anspruch nach allgemeinen Grundsätzen auch vor einer Klageerhebung gegenüber dem jeweils haftenden Rechtsträger geltend gemacht und außergerichtlich befriedigt werden kann, erkennen, dass es sich hierbei um eine Möglichkeit, nicht jedoch eine Verpflichtung handelt.
Die Entschädigungsklage ist indes nicht begründet. Soweit die Kläger die Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens (- S 127 AS19616/09 -) rügen, haben sie eine auf das erstinstanzliche Verfahren zu beziehende Verzögerungsrüge iSv § 202 Satz 2 SGG iVm § 198 Abs. 3 GVG nicht unverzüglich nach In-Kraft-Treten des GRüGV am 3. Dezember 2011, sondern bislang gar nicht erhoben. Gemäß Art. 23 Satz 4 GRüGV bedarf es zwar keiner Verzögerungsrüge, wenn bei einem (zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes am 3. Dezember 2011) anhängigen Verfahren - wie hier - die Verzögerung in einer schon abgeschlossenen Instanz erfolgt ist. Dies ist hier bezogen auf das erstinstanzliche Verfahren indes nicht der Fall, da das seit 28. Juni 2009 anhängige Verfahren erster Instanz am 3. Dezember 2011 noch nicht abgeschlossen war, sondern erst mit Zustellung des Gerichtsbescheides des SG Berlin vom 3. Dezember 2012 am 11. Dezember 2012. Da die Kläger eine Verzögerungsrüge bislang nicht erhoben haben, kann von einer „unverzüglich“ nach dem 3. Dezember 2011 erhobenen Verzögerungsrüge erst recht nicht ausgegangen werden. Das Bundessozialgericht (BSG), dessen Rechtsauffassung der Senat zugrunde legt, hat diesbezüglich ausgeführt, dass „unverzüglich“ iSv Art. 23 Satz 4 GRüGV „ohne schuldhaftes Zögern“ bedeutet, dh dem Beteiligten eine angemessene Überlegungsfrist einzuräumen ist, ob er seine Rechte durch eine Verzögerungsrüge wahren muss (vgl Beschluss vom 27. Juni 2013 – B 10 ÜG 9/13 B = SozR 4-1710 Art 23 Nr 1 – Rn 29). Eine Frist von weniger als vierzehn Tagen reicht danach insbesondere bei nicht rechtskundig Vertretenen „kaum“ aus (vgl BSG aaO). Jedenfalls angesichts des zwischenzeitlichen Zeitablaufs von mehr als zweieinhalb Jahren nach In-Kraft-Treten des GRüGV ist jedoch von einer Unverzüglichkeit im genannten Sinn in keinem Fall mehr auszugehen.
Auch bezogen auf das Berufungsverfahren fehlt es an der Verzögerungsrüge als materielle Voraussetzung des Entschädigungsanspruchs (vgl BSG aaO). Im Übrigen ist eine unangemessene Verzögerung des Berufungsverfahrens iSv § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG bislang nicht ersichtlich. Die Kläger haben ihre am 10. Januar 2013 eingelegte Berufung in der Sache erst mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2013 begründet. Die letzte Stellungnahme des JC ist am 27. Februar 2014 eingegangen. Die durch die verzögerte Einreichung der Berufungsbegründung verstrichene Zeit kann nicht dem Gericht angelastet werden. Auch seither ist eine unangemessene Dauer des Verfahrens nicht erkennbar, zumal dem bearbeitenden Berichterstatter auch eine – nicht statisch zu bestimmende – Zeit zur inhaltlichen Prüfung, ggfs zur Absprache im Senatskollegium und auch zur Vorbereitung eines Erörterungs- oder Verhandlungstermins einzuräumen ist. Grundsätzlich gilt: Eine gewisse Schwere der Belastung wird bei der Prüfung, ob eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, von vornherein vorausgesetzt. Es reicht also nicht jede Abweichung vom Optimum, vielmehr muss eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen vorliegen. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Verfahrensdauer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 Abs. 1GG) und auch zu dem Ziel einer inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidungen steht. Auch das spricht dagegen, bei der Bestimmung der Angemessenheit einer Verfahrensdauer eine enge zeitliche Grenze zu ziehen (vgl BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 - B 10 ÜG 1/12 KL = SozR 4-1720 § 198 Nr 1).
Die Dauer eines Verfahrens ist in hohem Maße von dem Verhältnis abhängig, in dem die Zahl der von Rechtsuchenden betriebenen Verfahren zu den persönlichen und sächlichen Mitteln des jeweils zuständigen Gerichts steht. Dabei reicht es aus, dass dieses Verhältnis angemessen ist. Der Staat ist jedenfalls nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes anhängig gemachte Verfahren sofort und ausschließlich von einem Richter bearbeitet werden kann. Vielmehr muss ein Rechtsuchender damit rechnen, dass der zuständige Richter neben seinem Rechtsbehelf auch noch andere (ältere) Sachen zu behandeln hat. Insofern ist ihm eine gewisse Wartezeit zuzumuten (vgl BSG aaO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Die Streitwertentscheidung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1 und § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz. Die Kläger haben trotz gerichtlicher Aufforderung die begehrte Geldleistung nicht beziffert und auch aus der Begründung ihres Begehrens ergaben sich keine genügenden Anhaltspunkte für eine Bestimmung der Gesamtentschädigungssumme.