Gericht | VG Cottbus 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 27.02.2025 | |
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Aktenzeichen | VG 1 K 211/23.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2025:0227.1K211.23.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2023 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist für den Kläger hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger wendet sich gegen die Entscheidung des Bundesamtes über ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).
Der Kläger verließ die Republik Kamerun im November 1998 und reiste nach einem achtzehnjährigen Aufenthalt in Algerien und einem weiteren Aufenthalt in Italien mit seiner Partnerin Y_____, einer Staatsangehörigen der Republik Côte d'Ivoire, und seinen am 18. April 2005 und am 29. Dezember 2011 geborenen Kindern G_____ und L_____ im Juli 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Familienmitglieder stellten am 25. Juli 2017 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) Asylanträge (Aktenzeichen 7_____
Mit Bescheid vom 11. August 2017 lehnte das Bundesamt die Anträge des Klägers und seiner Kinder als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Den dagegen gerichteten Eilantrag lehnte das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) mit Beschluss vom 30. November 2017 ab (V_____). Den Bescheid hob das Bundesamt unter dem 05. Juni 2018 auf, nachdem eine Überstellung abgebrochen werden musste und die Überstellungsfrist abgelaufen war.
Mit Bescheid vom 16. April 2019 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus (Ziffern 1. - 3) als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 ist und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.) und forderte den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung im Wesentlichen in die Republik Kamerun auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen (Ziffer 5.). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
Zur Begründung heißt es im Wesentlichen, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien weder vorgetragen noch ansonsten ersichtlich. Der Kläger verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen einer Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen seien. Seine minderjährigen Kinder und seine Lebensgefährtin befänden sich ebenfalls in Asylverfahren und könnten in diesem Zusammenhang daher keine Berücksichtigung finden.
Die Asylverfahren der Kindesmutter und der Kinder blieben ebenfalls erfolglos, ihnen wurde die Abschiebung in die Republik Côte d'Ivoire angedroht (Bescheide vom 20. und 21. März 2019).
Auf die Klage und den Eilantrag des Klägers erklärte sich das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) für örtlich unzuständig und verwies die Verfahren an das Verwaltungsgericht Cottbus. Mit Beschluss vom 19. Juni 2019 ordnete das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen das Einreise-und Aufenthaltsverbot an und lehnte den Eilantrag im Übrigen ab (V_____). Zur Begründung heißt es im Wesentlichen, die Dauer des Verbotes unterliege ernstlichen Zweifel, weil bei den Kindern des Klägers – deren Asylanträge seien als unbegründet abgelehnt worden – ein Ende der Aufenthaltsgestattung nicht absehbar sei.
Mit Bescheid vom 17. August 2020 hob das Bundesamt Ziffer 5. des Bescheides vom 16. April 2019 auf (Ziffer 1.), forderte den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung nach Kamerun auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und verfügte, dass die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist bzw. bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt werden (Ziffer 2.).
Auf die Klage (V_____) hob das Gericht Ziffer 6. des Bescheides des Bundesamtes vom 16. April 2019 mit Urteil vom 19. August 2020 auf und wies die Klage im Übrigen ab. Zur Begründung heißt es in der Entscheidung im Wesentlichen:
„… Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben ist die vorliegende Ermessensentscheidung der Beklagten, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen, rechtsfehlerhaft. Denn die Beklagte hat die konkrete Situation der Familienangehörigen des Klägers unberücksichtigt gelassen. Dies erweist sich als ermessensfehlerhaft. Zwar verfügen die Lebensgefährtin und die gemeinsamen Kinder des Klägers derzeit über kein gesichertes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Jedoch hat die Beklagte verkannt, dass den Familienangehörigen des Klägers die Abschiebung in die Elfenbeinküste angedroht wurde und nicht wie dem Kläger nach Kamerun. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass eine gemeinsame Rückführung der Familie stattfindet. Zudem ist, anders als im Fall des Klägers, bei seinen Kindern ein Ende der Aufenthaltsgestattung unabsehbar, da deren Asylanträge nicht als offensichtlich, sondern als einfach unbegründet abgelehnt wurden und folglich die gegen sie ausgesprochene Abschiebungsandrohung erst 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss ihres Asylverfahrens vollziehbar wird…“
Mit Bescheid vom 06. Juli 2021 „ergänzte“ das Bundesamt Ziffer 6. des Bescheides vom 16. April 2019 dahingehend, dass das Einreise und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet wird.
Zur Begründung heißt es im Wesentlichen wiederum, die Angehörigen der Kernfamilie des Klägers könnten nicht berücksichtigt werden, weil sie sich in nicht bestandskräftig abgeschlossenen Asylverfahren befänden und einen dauerhaften Aufenthaltsstatus nicht besäßen. Zudem seien nur die persönlichen Belange des Ausländers zu berücksichtigen, die nach der Ausweisung, der Zurückschiebung oder der Abschiebung eine baldige Wiedereinreise erforderlich machten. Derartige Belange lägen nicht vor.
Auf die Klage hob das Gericht den Bescheid mit der Begründung auf, dieser missachte die Rechtskraft des Urteils vom 19. August 2020 (Urt. v. 02. März 2022 – V_____).
Dem Kläger wurde durch die Ausländerbehörde Cottbus erstmals am 09. Mai 2022 die Ausübung einer Beschäftigung gestattet. Mit Bescheid vom 20. Februar 2023 erteilte die Ausländerbehörde dem Kläger auf der Grundlage des § 104c AufenthG für 18 Monate eine Aufenthaltserlaubnis („Chancen-Aufenthalt“). Im Anschluss hieran erhielt der Kläger auf der Grundlage des § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG eine bis zum 24. Juli 2026 befristete Aufenthaltserlaubnis.
Mit Bescheid vom 15. März 2023 ergänzte das Bundesamt Ziffer 6. des Bescheides vom 16. April 2019 dahingehend, dass das Einreise und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf „29 Monate ab dem Tag der Abschiebung“ befristet wird.
Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 29 Monate sei angemessen. Einer angemessenen Rückkehrperspektive bedürften im Lichte des Schutzes des Familienlebens insbesondere Ausländer, die im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem deutschen oder einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährigen ledigen Kind lebten. Der Kläger verfüge im Bundesgebiet jedoch über keine wesentlichen Bindungen. Denn weder seine Familienangehörigen noch er selbst besäßen einen Aufenthaltstitel, der ihnen einen langfristigen, legalen Aufenthalt ermögliche. Derzeit seien die Beteiligten im Besitz einer Duldung oder einer Aufenthaltsgestattung. Die Aufenthaltsgestattung begründe ein asylspezifisches verfahrensabhängiges Aufenthaltsrecht und keinen Aufenthaltstitel i. S. v. § 4 AufenthG. Durch eine Ausreise des Klägers müsse in diese Lebensgemeinschaft nicht eingegriffen werden, denn es sei sowohl den Kindern als auch der Kindsmutter möglich und zumutbar, gemeinsam mit dem Kläger auszureisen und die familiäre Lebensgemeinschaft in Kamerun oder in einem anderen Staat, in dem sie sich aufhalten dürften, zu führen. Für die Ermessensentscheidung berücksichtigungsfähige Integrationsleistungen habe der Kläger weder im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach einem Aufenthalt von fast sechs Jahren im Bundesgebiet geltend gemacht noch lägen solche nach Abgleich des Ausländerzentralregisters vor. Angesichts der Rechtskraft und der damit verbundenen Bindungswirkung der verwaltungsgerichtlichen Urteile werde die Frist auf 29 Monate festgesetzt.
Der Kläger hat am 28. März 2023 Klage erhoben.
Er ist im Wesentlichen der Auffassung, die Herabsetzung der Sperrfrist von 30 auf 29 Monate sei angesichts der Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet ermessensfehlerhaft. Der Kläger lebe mit seiner Lebensgefährtin und seinen Kindern in familiärer Lebensgemeinschaft zusammen und die Eltern übten ausweislich einer notariellen Vaterschaftsanerkennung vom 21. April 2020 das Sorgerecht gemeinsam aus.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 15. März 2023 aufzuheben.
Die Beklagte hat schriftlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Bundesamt hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Die Lebensgefährtin und die Kinder des Klägers haben ihre Klagen gegen die Bescheide des Bundesamtes vom 20./21. März 2019 am 04. Oktober 2023 zurückgenommen (Klageverfahren V_____).
Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 27. Februar 2024 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten der Verfahren V_____ sowie die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der Ausländerbehörde Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.
I. Das Gericht konnte in Abwesenheit der Beteiligten und ihrer Prozessvertreter mündlich verhandeln und in der Sache entscheiden, denn sie sind in der Ladung auf diese Rechtsfolgen hingewiesen worden, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Im Streitfall wird der Kläger weiterhin durch seinen Prozessbevollmächtigten vertreten.
Die erteilte Prozessvollmacht dauert fort. Unbeachtlich ist, dass der Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 03. Februar 2025 mitgeteilt hatte, „der Kläger“ habe ihm das Mandat entzogen. Die Anzeige des Erlöschens der Vollmacht, § 173 S. 1 1. Hs. VwGO i. V. m. § 87 Abs. 1 1. Hs. der Zivilprozessordnung (ZPO) setzt die wirksame Kündigung des Vollmachtvertrages durch den Vollmachtgeber voraus. Hieran fehlt es derzeit. Die Wirksamkeit der Kündigung kann mit dem beigefügten Schriftsatz über eine „Mandatskündigung“ vom 26. September 2023 gerade nicht belegt werden, weil diese Willenserklärung nicht von dem Kläger selbst, sondern von seinem Sohn G_____ verfasst und unterzeichnet wurde. Selbst wenn – was jedoch ebenfalls weder hinreichend ersichtlich noch dargelegt ist – davon ausgegangen würde, dass sich die Kündigungserklärung vom 26. September 2023 auf das vorliegende Klageverfahren und nicht lediglich auf das eigene Klageverfahren des Sohnes, das von dem Verfahrensbevollmächtigten ebenfalls unter dem in dem Kündigungsschreiben angegebenen Aktenzeichen 3_____ geführt wird, bezieht, ist auf den Hinweis des Gerichts vom 06. Februar 2025 nicht vorgetragen (und glaubhaft gemacht), dass der Kläger seinen Sohn bevollmächtigt hätte, das Mandat zu kündigen.
II. Die zulässige Klage ist begründet.
Der Ergänzungsbescheid des Bundesamtes vom 15. März 2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung bestimmt sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung: Nach § 83c des Asylgesetzes (AsylG) gelten die Bestimmungen dieses (des 9.) Abschnitts des Asylgesetzes auch für Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen des Bundesamtes nach § 75 Nr. 12 AufenthG, nämlich unter anderem für die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Fall einer Abschiebungsandrohung nach den §§ 34, 35 AsylG. Maßgeblich ist danach die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 S. 1 1. Hs. AsylG.
Hiervon ausgehend ist der angefochtene Ergänzungsbescheid des Bundesamtes schon deshalb rechtswidrig, weil sich die Abschiebungsandrohung aus dem bestandskräftigen Bescheid vom 17. August 2020 bereits am 20. Februar 2023 erledigt hatte.
Durch die Gewährung des mit der befristeten Aufenthaltserlaubnis verbundenen ausländerrechtlichen Bleiberechts ist die Ausreisepflicht des Klägers entfallen, deren Vollstreckung die Abschiebungsandrohung vorbereiten sollte; die Abschiebungsandrohung hat sich auf andere Weise erledigt, § 43 Abs. 2 5. Alt. des Verwaltungsverfahrensgesetzes ([VwVfG] vgl. BVerwG, Urt. v. 21. September 1999 – BVerwG 9 C 12.99 –, juris, Rn. 21 m. w. N.).
Das Fehlen einer Abschiebungsandrohung wiederum hat zwingend die Rechtswidrigkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbotes zur Folge.
Nach § 11 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54 S. 1) – nichts Anderes würde nach § 11 AufenthG in der im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes maßgeblichen Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) gelten –, ist gegen einen Ausländer, der unter anderem abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll mit der Abschiebungsandrohung unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung und spätestens mit der Abschiebung erlassen werden. Hiervon ausgehend besteht ein zwingender rechtlicher Zusammenhang zwischen der Abschiebungsandrohung und dem Einreise- und Aufenthaltsverbot, so dass bereits das Fehlen der Androhung an sich die Rechtswidrigkeit des Verbotes nach sich zieht.
Im Übrigen ist die Fristbestimmung des Bundesamtes als solche ermessensfehlerhaft.
Nach § 11 Abs. 2 S. 3 bis 4 und Abs. 3 S. 1 und 2 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise beginnt. Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden; sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.
Nach § 114 S. 1 VwGO ist die Ermessensentscheidung über die Fristbestimmung verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt dahingehend überprüfbar, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten (Ermessensüberschreitung) oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Ermessensfehlgebrauch); das schließt ein, dass eine Behörde das ihr durch eine Rechtsnorm eingeräumte Ermessen nicht erkannt hat (Ermessensausfall, Ermessensnichtgebrauch).
Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll Ausländer treffen, die Anlass für Vollstreckungsmaßnahmen gegeben haben und bei denen daher die Besorgnis besteht, dass sich entsprechende Maßnahmen bei einem künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet wiederholen. Die Abschiebesperrfrist soll den abgeschobenen Ausländer daher zur Beachtung des deutschen Aufenthaltsrechts im Allgemeinen und der Ausreisepflichten im Besonderen anhalten. Erforderlich ist mithin eine Abwägung zwischen diesem öffentlichen Interesse und dem privaten Interesse des Ausländers an baldiger Wiedereinreise und erneutem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Zu berücksichtigen sind solche persönlichen Belange des Ausländers, die ihm eine aufenthaltsrechtlich beachtliche Rückkehrperspektive vermitteln (BVerwG, Urt. 07. September 2021 – BVerwG 1 C 46/20 –, juris, Rn. 14 unter Aufhebung von OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 06. Juli 2020 – OVG 3 B 3/20 –, juris, Rn. 26 ff. m. w. N.; vgl. auch abweichend: OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27. Februar 2018 – OVG 3 B 11.16 –, juris, Rn. 57 ff. m. w. N.). Dem Interesse des Ausländers an einer "angemessenen Rückkehrperspektive" bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen soll Rechnung getragen werden, weshalb zwar weder die Gründe für die Beendigung eines vormals bestehenden Aufenthaltsrechts noch die Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung eines neuerlichen Aufenthaltstitels, wohl aber das Gewicht des individuellen Interesses, sich wieder im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen ist (BVerwG, Urt. v. 07. September 2021 – BVerwG 1 C 46.20 –, juris, Rn. 17). Die Schutzwürdigkeit des Interesses des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive wird insbesondere durch Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU (GRC) sowie durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt.
Einer angemessenen Rückkehrperspektive bedürfen danach zwar insbesondere Ausländer, die im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem deutschen oder einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährigen ledigen Kind leben oder eine sozial-familiäre Beziehung mit einem solchen minderjährigen ledigen Kind pflegen. Die Bindungen zum Bundesgebiet sind aber nicht – wie das Bundesamt offenbar meint – auf diese Fälle beschränkt. Zum einen gilt Entsprechendes für Ausländer, die den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz sogenannter „faktischer Inländer“ genießen (BVerfG, Kammerbeschl. v. 19. Oktober 2016 – 2 BvR 1943/16 –, juris, Rn. 1ff., 19 ff.; BVerfG, Kammerbeschl. v. 25. August 2020 – 2 BvR 640/20 –, juris, Rn. 24; BVerfG, Kammerbeschl. v. 18. April 2024 – 2 BvR 29/24 –, juris, Rn. 21ff.; BVerwG, Urt. v. 16. November 2023 – BVerwG 1 C 32.22 –, juris, Rn. 16); zum anderen ist bei der Gewichtung einer an schutzwürdige Bindungen anknüpfenden Rückkehrperspektive neben der Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen an das Bundesgebiet auch die Stärke der Bindungen an das Herkunftsland zu berücksichtigen. Die persönlichen Belange des Ausländers sind im Falle der Befristung eines abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots auch nicht nur insoweit zu berücksichtigen, als sie etwa eine baldige Wiedereinreise erforderlich machen oder Bedeutung für eine möglichst baldige Wiedereinreise haben (so aber: Bayerischer VGH, Beschl. v. 06. April 2017 – 11 ZB 17.30317 –, juris, Rn. 13). In die Abwägung sind vielmehr auch solche Belange des Ausländers einzubeziehen, die nach einer nicht nur ganz kurzfristigen Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots weiterhin Bestand haben, sofern ihnen Bedeutung für einen späteren Anspruch auf Wiedereinreise zukommen kann (BVerwG, Urt. v 07. September 2021 – BVerwG 1 C 46.20 –, juris, Rn. 22).
Grundsätzlich ist die Verengung der zu berücksichtigenden, von Art. 8 EMRK geschützten Teilaspekte des Privatlebens auf Integrationsleistungen, an die eine legale Wiedereinreise realistisch anknüpfen kann, durch die Besonderheiten des abschiebungsbedingten Einreiseverbots nach § 75 Nr. 12 i. V. m. § 11 Abs. 1 AufenthG gerechtfertigt. Bei der Befristung eines solchen Einreiseverbots gebietet es der Schutz des Privatlebens jedenfalls in aller Regel nicht, bereits niederschwellige Integrationsleistungen zu berücksichtigen, die im Rahmen einer legalen Wiedereinreise unerheblich wären. Diesen Ausländern bleibt die Möglichkeit, im Falle der späteren Erfüllung eines Aufenthaltserlaubnistatbestands eine nachträgliche Fristverkürzung bei der Ausländerbehörde zu erwirken (BVerwG, Urt. 07. September 2021 – BVerwG 1 C 46.20 –, juris, Rn. 22).
Der Abschluss einer qualifizierten Berufsausbildung bis zu dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt lässt es vorbehaltlich etwaiger Besonderheiten des Einzelfalles angezeigt erscheinen, die Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Hälfte des in Fällen ohne erkennbare Besonderheiten bestimmten Wertes festzusetzen. Wird die qualifizierte Berufsausbildung hingegen erst nach dem diesem Zeitpunkt abgeschlossen, ist der Ausländer darauf verwiesen, nach Maßgabe des § 11 Abs. 4 S. 1 AufenthG die Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots bei der dann zuständigen Ausländerbehörde zu beantragen.
Demgegenüber begründet allein die bloße Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung keine die Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots überdauernde Rückkehrperspektive. Zu den eine aufenthaltsrechtlich begründete Rückkehrperspektive nicht vermittelnden niederschwelligen Integrationserfolgen zählen auch Kenntnisse der deutschen Sprache, die der Ausländer während seines Aufenthalts im Bundesgebiet erworben hat, ein Schulbesuch, eine bestandene Integrations- oder Fördermaßnahme, die Ausübung einer kurzfristigen Aushilfstätigkeit oder ehrenamtliches oder gesellschaftliches Engagement (BVerwG, Urt. 07. September 2021 – BVerwG 1 C 46.20 –, juris, Rn. 24 - 26).
Lediglich dann, wenn in dem zu beurteilenden Einzelfall Umstände, die das gefahrenabwehrrechtlich geprägte Interesse an einem Fernhalten des Ausländers vom Bundesgebiet erhöhen, ebenso wenig erkennbar sind wie Umstände, die geeignet sind, das Gewicht dieses öffentlichen Interesses zu mindern, begegnet es in der Situation, die keine Besonderheiten gegenüber gleichgelagerten Fällen aufweist, keinen Bedenken, das abschiebungsbedingte Einreise- und Aufenthaltsverbot aus Gründen der Gleichbehandlung auf die Dauer von 30 Monaten zu befristen und damit den durch Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Richtlinie 2008/115/EG und § 11 Abs. 3 S. 2 AufenthG vorgegebenen Rahmen zur Hälfte auszuschöpfen (BVerwG, Urt. v. 07. September 2021 – BVerwG 1 C 47.20 –, juris Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 15. März 2023 – A 10 S 2367/22 –, juris, Rn. 25; Bayerischer VGH, Urt. v. 14. November 2019 – 13a B 19.31153 –, juris, Rn. 64 m. w. N.; OVG f. d. Ld. Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19. Februar 2024 – 4 LB 179/23 OVG –, juris, Rn. 16 - 17; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 10. Januar 2019 – 6 A 10042/18 –, juris, Rn. 5 ff. und OVG f. d. Ld. Schleswig-Holstein, Beschl. v. 07. Januar 2019 – 3 LA 189/18 –, juris, Rn. 13).
Hiervon ausgehend ist die Entscheidung des Bundesamtes, die Frist auf „29 Monate“ ab dem Tag der Abschiebung zu bestimmen, schon deshalb ermessensfehlerhaft, weil der Kläger – ebenso wohl auch seine Lebensgefährtin und seine minderjährigen Kinder, § 25b Abs. 4 S. 1 AufenthG – im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG (und nicht mehr lediglich einer Aufenthaltsgestattung oder Duldung) ist. Nach dieser Bestimmung soll einem Ausländer, der geduldet oder – wie vorliegend – Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG ist, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat. Eine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland setzt nach § 25b Abs. 1 S. 2 AufenthG regelmäßig voraus, dass der Ausländer sich seit mindestens sechs Jahren oder, falls er zusammen mit einem minderjährigen ledigen Kind in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit mindestens vier Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt, seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichert oder bei der Betrachtung der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation zu erwarten ist, dass er seinen Lebensunterhalt im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG sichern wird, über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen verfügt und bei Kindern im schulpflichtigen Alter deren tatsächlichen Schulbesuch nachweist.
Der angefochtene Bescheid lässt – mit Blick auf § 77 Abs. 1 S. 1 1. Hs. AsylG zwangsläufig – die Verwurzelung des Klägers und seiner Familienangehörigen in die Arbeitswelt und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland außer Betracht, setzt sich aber ebenfalls nicht damit auseinander, dass der Kläger sein Heimatland Kamerun bereits als junger Mann seit annähernd 27 Jahren verlassen hatte und dorthin tatsächlich keinerlei Bindungen mehr haben dürfte. Die fehlende Berücksichtigung dieser Umstände führt auf die Ermessensfehlerhaftigkeit der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 29 Monate.
Zudem lässt es der Bescheid an jeglichen, im Rahmen der Ermessensentscheidung statthaften Ausführungen dazu fehlen, warum die Frist auf gerade 29 – und nicht wie regelmäßig auf 30, ob auf 28 Monate oder weniger – Monate festgesetzt wurde. Die ausschließliche Erwägung des Bundesamtes, die Rechtskraftwirkungen des Urteils vom 19. August 2020 umgehen zu wollen, ist schon für sich genommen ermessensfehlerhaft.
Eine insoweit unveränderte Sachlage – Aufenthaltsgestattungen bzw. Duldungen – zur aufenthaltsrechtlichen Stellung des Klägers und seiner Familienangehörigen unterstellt, wäre der Ergänzungsbescheid vom 15. März 2023 wohl wiederum schon nach § 121 Nr. 1 VwGO rechtswidrig gewesen.
Die Rechtskraft und damit die inhaltliche Bindungswirkung einer gerichtlichen Entscheidung erfasst den Streitgegenstand und damit nicht lediglich die Aufhebung des Verwaltungsakts als solche, sondern auch die gerichtliche Feststellung, dass (und aus welchen Gründen) der Bescheid rechtswidrig war und dass er den jeweiligen Kläger in seinen Rechten verletzt hat (Wöckel, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 25 m.w.N.; BVerwG, Urt. v. 07. August 2008 – BVerwG 7 C 7.08 –, juris Rn. 18). Im Fall rechtskräftig festgestellter Ermessensfehler des Verwaltungsakts hat die Behörde die tragenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidungsgründe zur Ermessensfehlerhaftigkeit der bisherigen Entscheidung zu beachten und ihr ist es damit bei gleichbleibender Sach- und Rechtslage auf Grund der Rechtskraft untersagt, in derselben Sache gegenüber demselben Beteiligten einen identischen oder jedenfalls entsprechenden Verwaltungsakt erneut zu erlassen (BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1992 – BVerwG 1 C 12.92 –, juris, Rn. 11 ff.; BVerwG, Urt. v. 07. August 2008 – BVerwG 7 C 7.08 –, juris, Rn. 16 und 18; Kilian/ Hissnauer in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, VwGO § 121, zit. nach: beck-online).
Die Rechtsauffassung des Bescheides vom 15. März 2023, der Kläger verfüge im Bundesgebiet über keine nach § 11 AufenthG beachtlichen Bindungen, weil weder er noch seine Familienangehörigen einen Aufenthaltstitel besäßen, dürfte wiederum die Rechtskraft des Urteils vom 19. August 2020 missachtet haben, denn das Gericht hat die Ermessensentscheidung des Bundesamtes bei dieser Sachlage als fehlerhaft beanstandet und zudem darauf hingewiesen, dass dem Kläger und seinen Familienangehörigen die Abschiebung in unterschiedliche Staaten angedroht worden ist. Diesen Gesichtspunkt, dessen Beachtung nicht mit Verweis auf die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise entbehrlich wird, lässt der angefochtene Bescheid nochmals außer Betracht und, anders, als das Bundesamt meint (Seite 7, Mitte), würden die Rechtskraftwirkungen des Urteils vom 19. August 2020 auch nicht allein deshalb entfallen, weil die Behörde die Frist nunmehr – ausschließlich deshalb und ohne weitergehende Begründung – auf „29“ und nicht, wie in dem vom Bundesamt angenommen „Regelfall“ auf 30 Monate festgesetzt hat.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO sowie § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 709 S. 1 und 2 und § 711 S. 1 und 2 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung: