Gericht | VG Cottbus 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 25.04.2024 | |
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Aktenzeichen | VG 6 K 2385/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2024:0425.6K2385.16.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | 3 ff. AsylG §, 4 ff. AsylG § |
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Kläger begehren mit ihrer Klage die Verpflichtung der Beklagten zur Flüchtlingsanerkennung bzw. Gewährung internationalen Schutzes sowie hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich ihres Herkunftslandes der Russischen Föderation vorliegen.
Die Kläger sind Staatsbürger der Russischen Föderation und russischer Volkszugehörigkeit sowie russisch-orthodoxen Glaubens und seien jeweils am 2_____, am 2_____, am 1_____ sowie am 1_____ geboren. Die Kläger zu 1. und 2. sind verheiratet. Bei den Klägern zu 3. und 4. handelt es sich um deren leibliche Kinder.
Der Kläger zu 1. stamme aus C_____ in Dagestan. Er habe die Mittelschule 8 Jahre lang besucht und im Anschluss einen Abschluss als Traktorist gemacht. Im Dezember 1993 sei er in die Armee eingezogen worden, um seinen Wehrdienst abzuleisten. Während seines Militärdienstes sei er im Tschetschenienkrieg eingesetzt gewesen. Im Jahr 1995 habe er die Armee verlassen. 1999 sei seine damalige Heimatregion in Dagestan von tschetschenischen Kämpfern angegriffen worden. Der Bürgermeister der Stadt habe alle Mitbürger aufgefordert sich gegen diese tschetschenischen Kämpfer zu stellen und die Stadt zu verteidigen. In diesem Zusammenhang sei er mit weiteren Personen von den Terroristen für einige Tage gefangen genommen worden. Es sei zu Folterungen gekommen. Nach der Befreiung durch staatliche Kräfte sei er immer wieder vom Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation vernommen worden. Anschließend hätten ihm Wahhabiten immer wieder zugesetzt. Zuletzt sei kurz vor der Ausreise sein Haus angezündet worden. Die Familie habe in der Vergangenheit wegen Diskriminierungen an verschiedenen Orten in Russland gelebt. So habe sie in Moskau und in Wolgograd jeweils zwei Jahre und später ein Jahr in Pyt’Yakh im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen/Jugra gelebt. Aber auch dort seien sie diskriminiert worden. In seinem Haus in Russland im Dorf Shishkino, Stavropolskijy Kray, Blagovernenskij rayon lebe weiterhin seine Mutter und einer seiner Brüder. Ein weiterer Bruder lebe in Moskau. Der Kläger habe zuletzt eine eigene Kfz-Werkstatt in Pyatigorsk betrieben. Seine wirtschaftliche Lage sei gut gewesen. Die Klägerin zu 2. habe elf Schulklassen absolviert und danach Wirtschaft an der Technischen Universität S_____ studiert. Sie habe den Studiengang mit Diplom abgeschlossen. Zuletzt sei sie Hausfrau gewesen. Ihre Eltern lebten weiterhin in ihrer Heimatstadt C_____ in Dagestan. Eine Schwester lebe in M_____ und sei Ä_____. Zur anderen Schwester habe sie keinen Kontakt. Die Kläger hätten im März 2016 gemeinsam die Region Stawropol verlassen und seien gemeinsam auf dem Landweg über Polen am 11. April 2016 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.
Am 20. April 2016 stellten die Kläger ihre Asylanträge.
Im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 14. Juni 2016 gab der Kläger zu 1. im Wesentlichen an, dass er sein Heimatland verlassen habe, da er jedes Jahr vom FSB zu Vernehmungen geladen worden sei. Die Leute des FSB würden ihm vorwerfen, dass er etwas mit den Islamisten zu tun habe. Auch hätten ihn die Wahhabiten immer wieder geholt und befragt. Für diese habe er zum Islam konvertieren und als Vermittlungsmann arbeiten sollen. Die Klägerin zu 2. sei in Russland Diskriminierungen ausgesetzt gewesen. Sie habe einen deutschen Großvater. Amtliche Nachweise darüber habe sie allerdings nicht.
Mit Ablehnungsbescheid vom 13. Dezember 2016, der den Klägern am 16. Dezember 2016 zugestellt wurde, versagte die Beklagte – vertreten durch das Bundesamt – die Flüchtlingseigenschaft, lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab und erkannte keinen subsidiären Schutzstatus zu. Darüber hinaus stellte das Bundesamt in seinem Bescheid fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen. Die Kläger wurde zudem aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Die Kläger wurden darauf hingewiesen, dass falls sie die Ausreisefrist nicht einhalten werden, sie in die Russische Föderation abgeschoben werden. Darüber hinaus wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass dem Sachverhalt der Kläger keine gezielte und individuelle Rechtsgutverletzung zu entnehmen sei. Es sei keines der Anknüpfungsmerkmale für eine nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz relevante Verfolgung einschlägig. Eine Verfolgung durch den russischen Staat in Anknüpfung an § 3 AsylG sei nicht geltend gemacht worden. Die Kläger hätten in ihrer Anhörung angegeben, Angst vor einer Verfolgung zu haben, weil man dem Kläger zu 1. unterstellt habe, etwas mit Islamisten zu tun zu haben und weil er nicht für die Wahhabiten arbeiten wolle. Dieses Vorbringen reiche für ein asylrelevantes Merkmal nach § 3 AsylG nicht aus. Gegen eine flüchtlingsrelevante Bedrohung spreche zudem, dass sich der Kläger zu 1. während der Anhörung als völlig unpolitische Person präsentiert habe. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor, da sie keine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit befürchten müssten. Selbst für schwere Kapitalverbrechen werde in der Russischen Föderation die Todesstrafe nicht mehr verhängt. Es bestehe ein Moratorium. Schließlich seien keine Abschiebungsverbote gegeben. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Russischen Föderation führten nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch lägen Abschiebungsverbote nicht vor.
Mit ihrer am 23. Dezember 2016 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Zur Begründung führen sie aus, dass sie bei der Rückkehr in ihr Heimatland politische Verfolgung wegen ihrer politischen Überzeugung und Religionszugehörigkeit von asylrechtlich erheblicher Intensität zu befürchten hätten. Der Kläger zu 1. habe sich an der Verteidigung der Stadt beteiligt und sei im September 1999 von den Angreifern gefangen genommen und in einem Erdloch gesteckt worden. Er sei schwer misshandelt und geschlagen worden. Nachdem am 14. September 1999 die Befreiung durch die russischen föderalen Kräfte erfolgt sei, habe ihn der russische Inlandsgeheimdienst FSB der Zusammenarbeit mit den Islamisten verdächtigt. Die Mitarbeiter des FSB hätten ihn jährlich zu Vernehmungen eingeladen und ihn zu Verbindungen zu den Wahhabiten befragt. Hierbei sei er misshandelt worden. Auch die Wahhabiten haben den Kläger und seine Familie besucht und ihn aufgefordert, dass er zum Islam konvertiere und als Mittelsmann für diese arbeite. Im Februar 2016 sei das Haus der Kläger in Yutsa in Brand gesetzt worden, sodass sie sich zur Flucht entschlossen haben und schließlich am 31. März 2016 ihr Dorf verlassen hätten. Die Kläger hätten zu befürchten, dass sie wegen ihrer Flucht einerseits durch den FSB verdächtigt und festgenommen sowie verurteilt werden würden. Ein faires Verfahren hätten sie nicht zu erwarten. Darüber hinaus bestehe innerhalb der Russischen Föderation offenkundig keine Möglichkeit bei den Behörden Schutz vor der Verfolgung Dritter oder Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienst FSB zu erhalten. Nach dem Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker zu Menschenrechtslage in Dagestan und Tschetschenien sei die Bevölkerung von Entführungen, Folter und Schikanen durch die Sicherheitsbehörden betroffen. Antiterroroperationen würden gegen den illegalen Untergrund durchgeführt. Der Kläger zu 1. habe schließlich wegen der Verweigerung des Militärdienstes bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit Verhaftung, Bestrafung und zwangsweiser Einziehung zum Militärdienst zu rechnen. Der Kläger sei nicht bereit an dem völkerrechtswidrigen Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine teilzunehmen. Der Kläger zu 1. habe mit Einberufung auch in seinem fortgeschrittenen Alter zu rechnen, da er als Wehrpflichtiger in einer Hubschrauberspezialstaffel eingesetzt gewesen sei und somit über Spezialkenntnisse verfüge. Es bestehe im Falle einer Einziehung in die Streitkräfte der Russischen Föderation die Gefahr, dass sich der Kläger als eingezogener Reservist an Kriegsverbrechen beteiligen müsse. In Staaten wie der Russischen Föderation könne vom Kläger nicht verlangt werden, dass er seine Weigerung gegenüber den dortigen Behörden ausdrücklich zu Protokoll gebe, da die russischen Behörden, die Flucht vor dem Militärdienst als einen Akt politischer Opposition verstehen würden. Die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger zu 1. lägen somit vor. Den übrigen Klägern sei der Familienflüchtlingsschutz zuzuerkennen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Dezember 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 ff. des Aufenthaltsgesetzes anzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist dem klägerischen Vorbringen entgegengetreten. Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Ablehnungsbescheid vom 13. Dezember 2016.
Mit unanfechtbarem Kammerbeschluss vom 7. September 2021 wurde der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die erschienenen Kläger nacheinander einzeln informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die Sitzungsniederschrift in der Gerichtsakte verwiesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten bezüglich des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes sowie die Erkenntnismittelliste für die Russische Föderation Bezug genommen. Sämtliche Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.
Über die Klage konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten sowie der Kläger zu 3. und 4. verhandelt und entschieden werden, weil sowohl die Kläger als auch die Beklagte auf diese Folge mit der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung ausdrücklich hingewiesen worden sind, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Entscheidung war gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch den Einzelrichter zu treffen, dem der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit unanfechtbarem Beschluss der Kammer vom 7. September 2021 übertragen wurde.
Die insgesamt zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Den Klägern stehen die geltend gemachten Ansprüche im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht zu, § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG.
Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2016 erweist sich – einschließlich der enthaltenen Abschiebungsandrohung sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbotes – insgesamt als rechtmäßig und verletzt die Kläger dementsprechend auch nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GK, BGBl. 1953 II. S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK (BGBl. 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 S. 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird.
Eine solche Verfolgung kann nicht nur von dem Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) sowie von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, wobei es keine Rolle spielt, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Es müssen aus der Perspektive des Antragstellers hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, dass Akteure im Sinne des § 3d AsylG Maßnahmen beabsichtigen, die zu einer Gefahrenlage führen, die als Verfolgung zu qualifizieren ist.
Bei der Prüfung der Bedrohung im Sinne des § 3 AsylG ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10; Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09, beide juris). Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 10. Oktober 2018 – 3 B 24.18 –, juris). Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände wird ein verständiger Betrachter auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33.07 –, juris).
Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr einer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1992 – 9 C 59/91 –, juris). Die begründete Furcht vor Verfolgung kann also sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung vor der Ausreise im Herkunftsstaat (Vorverfolgung) oder auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem oder weil der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (Nachfluchtgründe), insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist, § 28 Abs. 1a AsylG (VG Berlin, Urteil vom 10. Februar 2020 – 12 K 770/16 A –, Rn. 22, juris).
In beiden Fällen ist für die Beurteilung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 –10 C 5/09 –, juris).
Vorverfolgten kommt dabei die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. EU Nr. L 337/9 vom 20. Dezember 2011, im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Oktober 2018 – 3 B 24.18 –, juris, Rn. 16, 18).
Kann nicht festgestellt werden, dass einem Asylbewerber Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kommt eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. August 2017 – 1 B 120.17 –, juris).
Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger seine Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. VG Cottbus, Urteile vom 7. November 2019 – 6 K 539/17.A, vom 21. November 2019 – 6 K 169/17.A, vom 21. Februar 2020 – 6 K 608/17.A –, Rn. 26 - 32, alle juris).
Ausgehend von diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Falle der Kläger aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Verfolgungsgeschichte insgesamt nicht vor. Insbesondere konnte das Gericht nicht zu der Überzeugung gelangen, dass im Falle einer Rückkehr der Kläger in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine landesweite Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG droht.
So ist bereits eine asylrechtlich-relevante Vorverfolgung gemäß §§ 3, 3b AsylG für die Kläger insgesamt nicht festzustellen. Das Vorbringen des Klägers zu 1. – auf den es an dieser Stelle ankommt, da sich die Klägerin zu 2. lediglich auf eine allgemeine diskriminierende Lage in der Russischen Föderation berufen hat (hierzu unten) und die Kläger zu 3. und 4. als Minderjährige keine Vorverfolgung geltend gemacht haben –, ist bereits in sich widersprüchlich und äußerst vage. So hat der Kläger vorgebracht, dass er im Jahr 1999 von aus Tschetschenien nach Dagestan eingesickerten Terroristen für einige Tage gefangen genommen worden und anschließend von staatlichen Stellen befreit worden sei. Daraufhin sei er einige Male von staatlichen Stellen verhört worden und habe im Jahr 2000 seine Heimatregion Dagestan verlassen. Sofern sich der Kläger zu 1. auf diese Geschehnisse in Dagestan bezieht, so liegen diese bereits zu lange zurück, als dass sie im ursächlichen Zusammenhang mit der Ausreise der Kläger im Jahr 2016 stehen könnten.
Anschließend sei er nach Moskau gegangen. Dort sei er von Terroristen aus dem Kaukasus ausfindig gemacht und am Telefon worden. Diese hätten von ihm verlangt, dass er für die Terroristen in Russland spioniere. Auf Nachfrage des Gerichts, weshalb vermeintlich islamistische Terroristen vom Kläger zu 1., der in M_____ als K_____ seiner Ausbildung entsprechend tätig gewesen sei und außer Russisch keine weitere Sprache spreche, verlangt hätten zu spionieren, begründete der Kläger zu 1. damit, dass er aus Dagestan stamme. In diesem Zusammenhang konnte er allerdings nicht aufklären, wo und bei welcher (gegebenenfalls staatlicher) Stelle er für die wahhabitischen Terroristen spionieren solle und worin seine besonderen Fähigkeiten oder Kenntnisse bestünden, die ihn für islamistische Terroristen interessant machen könnten. Der Kläger zu 1. hat eigenen Angaben zufolge keinen Zugang zu staatlichen Stellen oder dergleichen gehabt. Er war nach eigenen Angaben bloßer Mechaniker in Moskau und verfügt er über keinerlei besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten, die für islamistische Terroristen oder Separatisten interessant machen könnten. Den Islam habe er nicht angenommen. Nachweise über die Anrufe hat der Kläger nicht erbringen können. Das letztlich pauschale Vorbringen des Klägers, einerseits von Terroristen aber auch von staatlichen Stellen verfolgt worden zu sein, ist bereits in sich widersprüchlich. So sei er nicht nur von Tschetschenen, sondern von allen möglichen Leuten irgendwelcher Dienste angerufen worden. Konkrete Angaben oder gar Nachweise darüber, wer, welche Gruppe oder welche staatliche Behörde ihn angerufen habe, konnte der Kläger zu 1. nicht erbringen. Nicht nachvollziehbar bleibt selbst bei Wahrunterstellung des letztlich in sich unstimmigen und somit unglaubhaften Vortrags des Klägers zu 1. darüber hinaus, weshalb er, der er eigentlich aus Dagestan stamme und eigenen Angaben zufolge lediglich neben der russischen auch die dagestanische Mentalität kenne, in das Interesse gerade tschetschenischer (und nicht etwa dagestanischer) Terroristen geraten sei. Es bleibt völlig unklar und lebensfremd, weshalb tschetschenische Terroristen, den Kläger, der weder tschetschenisch spricht, noch den Islam angenommen hat und auch selbst nicht aus Tschetschenien stammt und als M_____ in M_____ gearbeitet hat, für Spionagezwecke angerufen haben sollen. Letztlich war auch nicht aufzuklären, wie es den Terroristen gelungen sei, den Kläger zu 1. in Moskau ausfindig zu machen.
Einer vom Kläger zu 1. sinngemäß vorgebrachten Bedrohungssituation widerspricht auch, dass er nachdem er in Moskau, in Sibirien und Wolgograd gelebt und gearbeitet habe, wieder zurück in den Nordkaukasus und so in die geographische Nähe der Terroristen gekehrt sei, um dort etwa sechs Jahre zu leben. All dies spricht dagegen, dass der Kläger überhaupt eine besondere Bedrohungslage wahrgenommen hat.
Doch selbst wenn man diese Schilderungen als wahr unterstellen würde, so stehen die Anrufe, die vor dem Jahr 2010 erfolgt sein müssen, ersichtlich in keinem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise aus Russland im Jahr 2016, sodass nicht angenommen werden kann, der Kläger zu 1. ist gleichsam fluchtartig wegen der Anrufe ausgereist.
Aber auch der konkrete Anlass, der den Kläger zu 1. zur Ausreise aus Russland motiviert hat, wurde in der mündlichen Verhandlung vom Kläger zu 1. letztlich widersprüchlich und somit unglaubhaften geschildert. So habe der Kläger ausgeführt, dass er sich zu Hause fertiggemacht habe und auf dem Weg zur Arbeit gewesen sei, als ihm unbekannte Personen aus ihm unbekannten Motiven einen Brandsatz auf sein Haus in Jutsa bei Pjatigorsk geworfen hätten. Gemeinsam mit seinem Nachbarn habe er das Dach löschen können. Ein Teil des Daches sei allerdings abgebrannt. Auf Nachfrage des Gerichts, um wen es sich dabei gehandelt habe, hat der Kläger ausgeführt, dass er einige Tage vorher angerufen und bedroht worden sei und deswegen bereits einige Tage nicht zu Hause, sondern im Wald geschlafen hätte. Sofern der Kläger zu 1. tatsächlich außerhalb der Ortschaft im Wald übernachtet hätte, stellt sich die unauflösbare Frage, wie er den Brandanschlag auf sein Haus wahrgenommen haben kann. Insoweit stellen sich die Ausführungen, wonach er sich morgens am Tag des Brandanschlages zu Hause fertiggemacht habe, um dann zur Arbeit zu fahren und dann den Brand mit seinem Nachbarn gelöscht habe, einen unlösbaren Widerspruch zu den geschilderten Übernachtungen im Wald dar, die letztlich gegen die Glaubhaftigkeit des gesamten Vortrags des Klägers zu 1. sprechen.
Doch selbst wenn man hinsichtlich des Brandanschlags zugunsten des Klägers von der Richtigkeit seiner Angaben ausgeht, stellt der von ihm beschriebene Überfall lediglich kriminelles Unrecht, aber keine asylrelevante Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG dar. Es ist bereits unklar, von wem der Angriff ausgegangen sein soll und weswegen der Kläger bzw. sein Haus im Einzelnen angegriffen worden sei. Ein Zusammenhang mit seiner kurzzeitigen, nur wenige Tage dauernden Gefangenschaft im Jahr 1999, lässt sich jedenfalls für einen Angriff im Jahr 2016 nicht herstellen.
Der zweifelsohne kriminelle Brandanschlag stellt – wie erwähnt – keine asylrelevante Verfolgungshandlung dar. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss nämlich eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 Asyl. Eine solche ist hier nicht ersichtlich. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nennt bei begründeter Furcht vor Verfolgung als Anknüpfungsmerkmal zwar ausdrücklich die Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Einen konkreten Zusammenhang zu dem Anschlag hat der darlegungsbelastete Kläger zu 1. nicht geschildert.
Sofern sich die Kläger – die Klägerin zu 2. letztlich ausschließlich – lediglich pauschal auf eine besondere Bedrohungslage aufgrund ihrer Volks- und Religionszugehörigkeit berufen – die Kläger sind nach eigenen Angaben Russen und russisch-orthodoxen Glaubens –, überzeugt auch dies insbesondere mit Blick auf die rechtliche und tatsächliche Situation in der Russischen Föderation nicht.
Zwar haben die Kläger sinngemäß vorgetragen, dass sie aufgrund ihrer Herkunft als Russen russisch-orthodoxen Glaubens einerseits in ihrer ursprünglichen nordkaukasischen, muslimisch geprägten Heimat Dagestan und andererseits später nachdem sie ihre Heimatregion verlassen hätten in Zentralrussland, d. h. in Moskau oder Wolgograd, und in Sibirien aufgrund ihrer geographischen Herkunft aus Dagestan im Alltag – etwa in der Schule oder aber bei der Anmietung von Wohnraum – diskriminiert worden seien. Obwohl an diesen Schilderungen mit Blick auf die verfügbaren Erkenntnismittel erhebliche Zweifel bestehen (hierzu sogleich unten), reichen diese selbst im Falle einer zugunsten der Kläger erfolgten Wahrunterstellung nicht aus, um eine Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG zu begründen. Der lediglich pauschale Hinweis der Kläger ohne Darlegung konkreter Verfolgungshandlungen aufgrund ihrer ethnischen und religiösen Herkunft ist für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht ausreichend, zumal es auch keinen Hinweis darauf gibt, dass der russischstämmige Kläger aufgrund seiner Herkunft Opfer des Brandanschlags in der Russisch und christlich-orthodoxen geprägten Region Stawropol geworden ist.
Ausgehend vom geschilderten Vortrag der Kläger kämen hier als gesetzlich normierte Verfolgungsgründe allenfalls die asylrechtlich-relevanten Anknüpfungsmerkmale Rasse im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG, der Religion nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der Nationalität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 3G AsylG oder aber auch der sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG in Betracht.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.
Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind (§3b Abs. 1 Nr.2 AsylG).
Der Begriff der Nationalität beschränkt sich gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird (Nr. 3).
Eine Gruppe gilt insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.
Eine Verfolgung aus den oben dargestellten Gründen ist mit Blick auf die ethnische Herkunft der Kläger – es handelt sich bei ihnen um ethnische Russen– und ihrer religiösen Zugehörigkeit – die Kläger haben vorgebracht, dass sie russisch-orthodoxen Glaubens seien – vor dem Hintergrund der gesichteten Erkenntnismittel ausgeschlossen.
Die Bevölkerung der Russischen Föderation weist insgesamt eine religiöse Vielfalt auf. Ca. 68 % sind russisch-orthodox, 7 % Muslime, und 25 % gehören unter anderem folgenden Gemeinschaften an: Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Judentum, Bahai usw. (USCIRF 4.2022). Gemäß einer Umfrage des Lewada-Zentrums von April 2023 bekennen sich 72 % der Befragten zur Orthodoxie, 7 % zum Islam, 13 % zu keiner Religion, 5 % zum Atheismus und ca. 3 % zu anderen Glaubensrichtungen - vor allem Katholiken, Protestanten und Buddhisten (LZ 16.5.2023).
Verlässliche Zahlen zu den Mitgliedern bzw. Anhängern einzelner Gemeinschaften gibt es nicht, da ein System der Mitgliederregistrierung fehlt. Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert darüber hinaus Gewissens- und Glaubensfreiheit. Die Wahl des Religionsbekenntnisses steht frei. Auch wird die Freiheit eingeräumt, ohne Bekenntnis zu leben. Religiöse Überzeugungen dürfen frei verbreitet werden. Gemäß Artikel 29 der Verfassung ist jedoch das Schüren von religiösem Hass verboten. Laut Verfassungsartikel 14 ist die Russische Föderation ein säkularer (weltlicher) Staat, und es gibt keine Staatsreligion. Staat und Religion sind laut Verfassung voneinander getrennt (Duma 6.10.2022). Gemäß § 3 des Gesetzes ’Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen’ darf die Gewissens- und Glaubensfreiheit nur aus folgenden Gründen eingeschränkt werden: zum Schutz der Verfassung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und der gesetzlichen Interessen der Menschen und zur Gewährleistung der Landesverteidigung sowie der nationalen Sicherheit. Zwar ist die Religionsfreiheit in Russland eingeschränkt (UN-HRC 1.12.2022). So missbrauchen Behörden die Anti-Terrorismus- und Anti-Extremismus-Gesetzgebung, um friedliche religiöse Gruppen als terroristisch, extremistisch und unerwünscht einzustufen. Zu den betroffenen Gruppen wird allerdings nicht die russisch-orthodoxe Kirche, sondern etwa die Zeugen Jehovas, vier protestantische Gruppen aus Lettland und der Ukraine, ein regionaler Zweig von Falun Gong sowie sieben mit Falun Gong verbundene NGOs. Solchen Gruppen ist die Religionsausübung verboten, und sie sind mit langen Haftstrafen, harten Haftbedingungen, Hausarrest, Razzien, Diskriminierung und Schiknierungen konfrontiert (USDOS 20.3.2023). Die Kläger gehören allerdings der russisch-orthodoxen Kirche an, die in Russland eine privilegierte Stellung genießt. So gelten Orthodoxie, Islam, Judentum und Buddhismus als sogenannte traditionelle Religionen (MR 2022). Das Föderale Gesetz ’Über die Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen’ räumt dem orthodoxen Christentum eine besondere Rolle ein (RF 29.12.2022c). Die russisch-orthodoxe Kirche genießt Privilegien (FH 2023; vgl. BS 2022) und arbeitet im innen- und außenpolitischen Bereich eng mit der Regierung zusammen (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl – Länderinformation der Staatendokumentation – Russische Föderation, 8. November 2023, S. 65 ff.), was letztlich zu einer Schlechterstellung anderer christlicher Kirchen führt. Hiervon sind allerdings die Kläger nicht betroffen. Auch sei erwähnt, dass sich in der Heimatstadt der Kläger C_____ die größte orthodoxe Kirche des Nordkaukasus befindet. Zuletzt haben die Kläger zudem in der vorwiegend russisch und christlich-orthodox-geprägten Region Stawropol gelebt.
Aber auch eine Verfolgung der Kläger aufgrund ihrer Herkunft als ethnische Russen ist in der Russischen Föderation ausgeschlossen. So garantiert Artikel 19 der Verfassung der Russischen Föderation für alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte und Freiheiten. Die Staatssprache der Russischen Föderation ist Russisch. Zwar sind die einzelnen Republiken – und somit auch Dagestan als Heimatsrepublik der Kläger, obwohl sie zuletzt in der Region Stawropol gelebt haben, die keine Minderheitenrepublik ist – berechtigt, ihre eigenen Staatssprachen festzulegen. Allerdings ist das Russische – die Muttersprache und einzige Sprache der Kläger – in ganz Russland Behördensprache (Art. 68 der Verfassung der Russischen Föderation). Das UN-Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung wurde von Russland im Jahr 1969 ratifiziert. Der Vielvölkerstaat Russland umfasst mehr als 190 ethnische Minderheiten. In etwa 81 % der Bevölkerung sind ethnische Russen. Mit Blick ist eine Diskriminierung der Kläger als (äußerlich erkennbare) Russen in der Russischen Föderation ausgeschlossen (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl – Länderinformation der Staatendokumentation – Russische Föderation, 8. November 2023, S. 73 ff.)
Sofern die Kläger vorbringen, dass sie aufgrund ihrer geographischen Herkunft aus Dagestan respektive aus dem Nordkaukasus und einer letztlich muslimisch geprägten Region in russisch-orthodox geprägten Zentralrussland bzw. Sibirien von Russen diskriminiert worden seien, überzeugt dies nicht. Im gesamten Nordkaukasus insbesondere in den muslimischgeprägten Republiken Dagestan sowie Tschetschenien und Inguschetien lebten zur Zeit der Sowjetunion bzw. zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion namentlich in den größeren Städten hunderttausende ethnische Russen russisch-orthodoxen Glaubens. So weist etwa die Bevölkerung Grosnys im Jahr 1989 eine Bevölkerung von 399.688 auf, wobei Russen 52,9 % und Ukrainer 2,4 % der städtischen Gesamtbevölkerung ausgemacht haben. In den 1950er bis 1970er Jahren lebten in Dagestan über 200.000 ethnische Russen, die etwa 20 % der Gesamtbevölkerung Dagestan ausgemacht haben. Seit den 1980er Jahren ist der prozentuale Anteil der ethnischen Russen im Nordkaukasus rückläufig. Erkenntnisse darüber, dass diejenigen hunderttausende ethnischen Russen, die die Republiken Dagestan und Tschetschenien in den letzten 30 Jahren verlassen haben und nach Zentralrussland binnenmigriert sind, im zentralen Russland oder in Sibirien einer Diskriminierung aufgrund ihrer geographischen Herkunft unterworfen sind, liegen dem Gericht nicht vor und stellen sich auch als lebensfremd dar.
Die seinerzeit minderjährigen Kläger zu 3. und 4. haben selbst keine Ausführungen zu einer Vorverfolgung gemacht.
Ungeachtet der Frage, ob die Kläger tatsächlich vorverfolgt ausgereist sind, scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch deshalb aus, weil die Kläger auf die Inanspruchnahme internen Schutzes nach § 3e AsylG verwiesen werden können. So müssen sich die Kläger hier entgegenhalten lassen, dass selbst im Falle einer hypothetischen Verfolgung in ihrer ursprünglichen Heimatregion Dagestan oder der Region Stawropol, wo sie zuletzt vor der Ausreise gelebt haben, ihnen in anderen Regionen der Russischen Föderation interne Schutzmöglichkeiten im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung stehen, die erreichbar und unzumutbar sind.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und 2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Nach der sich dem Gericht bietenden Auskunftslage besteht grundsätzlich eine interne Schutzalternative innerhalb der Russischen Föderation, wo sie vor den Zugriffen von sowohl staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren sicher sind und sie ihr Existenzminimum sichern können. Grundsätzlich können sie an einen anderen Ort in der Russischen Föderation flüchten und dort leben. Mit Blick auf die Erkenntnismittel aber auch dem Umstand, dass die Kläger bereits mehrere Jahre in Moskau gelebt und ein Auskommen gefunden haben und die Schwester der Klägerin zu 2. dort lebt und die Kläger im Falle einer Rückkehr unterstützen könnte, ist den Klägern die Inanspruchnahme einer internen Schutzalternative unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse und der aktuellen Lageberichte auch zumutbar.
Die Russische Föderation ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der Weltgasreserven (25,2 %), ca. 6,3 % der Weltölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19 %) über bedeutende Ressourcen. Die Staatsverschuldung ist mit rund 10 % des BIP weiterhin vergleichsweise moderat (vgl. BFA, Länderinformationsblatt vom 04.07.2023, S. 96). Die offizielle Arbeitslosenquote von 4,8 % ist niedrig, wobei die tatsächliche Arbeitslosigkeit auf 11 bis 18 % geschätzt wird. Fast 14 % der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum entspricht (12.130 Rubel im 2. Quartal 2019). Allerdings veranschlagt die Russische Akademie der Wissenschaft das tatsächlich erforderliche Existenzminimum auf 33.000 Rubel. Für Einkommen unterhalb des Existenzminimums besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Der Mindestlohn für Vollbeschäftigte beträgt 12.130 Rubel im Monat (vgl. AA, Lagebericht vom 21.05.2021, S. 21). Familien erhalten Familienbeihilfen, wobei Familien mit mehr als drei Kindern besonders unterstützt werden (vgl. BFA, a.a.O., S. 100 ff.).
Unüberwindbare Hindernisse, sich eine wirtschaftliche Existenz, jedenfalls auf geringem Niveau, im Heimatland zu sichern, sind nicht erkennbar. Es ist insgesamt von existenzsichernden Lebensbedingungen gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von staatlichen Unterstützungsleistungen, auch wenn diese nicht dem deutschen Niveau entsprechen mögen, auszugehen. Nach der vorliegenden Auskunftslage gibt es verschiedene staatliche Hilfen in der Russischen Föderation: Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt (vgl. Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 08. November 2023, S. 103 f.; VG Bremen, Urteil vom 5. Dezember 2023 – 6 K 535/20 –, Rn. 23 - 25, juris).
Rückkehrende haben - wie alle anderen russischen Staatsbürger - Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Sozialleistungen hängen vom spezifischen Fall des Rückkehrers ab. Zurückkehrende Staatsbürger haben ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann dementsprechend gegen Vorlage eines gültigen russischen Reisepasses oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren) eine Krankenversicherungskarte erhalten. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können nicht als spezifische Probleme von Rückkehrern bezeichnet werden (vgl. Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 08. November 2023, S. 113 f.).
Auch haben die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund von Nachfluchtgründen wegen der von ihnen befürchteten Einziehung zum Wehrdienst und einem militärischen Einsatz im Krieg in der Ukraine. Zunächst ist diese Frage für die Klägerin zu 2. sowie für den Kläger zu 4., der im Jahr 2011 geboren wurde und zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiterhin minderjährig war, nicht von Relevanz, da gemäß dem föderalen Gesetz der Russischen Föderation ’Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst’ der Einberufung zum Grundwehrdienst ausschließlich männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 30 Jahren unterliegen.
Unabhängig von der Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Einziehung des Klägers zu 1. und zu 3. zum Wehrdienst bzw. zum Kriegseinsatz und daran anknüpfender Folgen ist nicht ersichtlich, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung „wegen“ eines asylrelevanten Merkmals im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG – d.h. wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – vorliegt. Es fehlt auch insoweit an einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit dafür, dass die russischen Behörden mit einer Einziehung zum Wehrdienst oder einer Bestrafung bei Entziehung zumindest auch an ein asylrelevantes Merkmal anknüpfen werden. Insbesondere ist eine Verfolgung wegen einer zugeschriebenen politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5, § 3a Abs. 3 AsylG) hier nicht ersichtlich. Die Verpflichtung zum allgemeinen Wehrdienst in der Russischen Föderation grundsätzlich unterschiedslos alle Männer im Alter von derzeit 18 bis 30 Jahren, die russische Staatsbürger sind und sich in der Russischen Föderation dauerhaft aufhalten bzw. dort gemeldet sind. Eine Unterscheidung nach Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erfolgt nicht. Auch im Hinblick auf die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen von der Wehrpflicht oder die Dauer des Grundwehrdienstes lässt sich den Erkenntnismitteln nichts anderes entnehmen.
Zunächst ist bereits fraglich, ob der Kläger zu 3. – hierzu wurde im gesamten gerichtlichen Verfahren nichts vorgebracht – überhaupt beabsichtigt, einem vermeintlichen Wehrdienst zu entziehen. Die Ausführungen der Kläger hinsichtlich eines Militäreinsatzes beziehen sich ausschließlich auf den Kläger zu 1.
Doch selbst bei Unterstellung, dass der Kläger zu 3. sich eine Einberufung zum Wehrdienst entziehen werde, führt eine drohende Bestrafung des Klägers zu 1. bzw. zu 3. bei Einreise in die Russische Föderation im Falle einer Wehrdienstentziehung nicht zu einem Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn auch insoweit knüpft der mit der Bestrafung verbundene Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 geschütztes Rechtsgut jedenfalls nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal, insbesondere nicht an eine zugeschriebene politische oppositionelle Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Betroffene in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Eine solche Annahme kann insbesondere gerechtfertigt sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher – nichtpolitischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist, sogenannter "Politmalus" (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2021 – 2 BvR 2954/09 – juris Rn. 24; Beschluss vom 10. Juli 1989 – 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 – juris Rn. 53; BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – BVerwG 1 C 29.17 – juris Rn. 22). Demgegenüber liegt keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. Dies gilt insbesondere auch für Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, und zwar auch dann, wenn sie von einem totalitären Staat verhängt werden. Es ist entscheidend, ob der Staat mit ihnen lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten will oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolgt, den Betroffenen wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger flüchtlingsschutzerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – BVerwG 1 C 29.17 – juris Rn. 22; BVerwG, Urteil vom 19. Mai 1987 – BVerwG 9 C 184.86 – juris Rn. 16).
Nach diesen Maßstäben drohen zunächst russischen Wehrdienstpflichtigen – hier gegebenenfalls dem Kläger zu 3. – Verfolgungsmaßnahmen wegen einer Entziehung vom Wehrdienst etwa durch bewusstes Ignorieren des Musterungsbescheids oder des Einberufungsbefehls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der Zuschreibung einer politischen Überzeugung und somit auch nicht in Anknüpfung an dieses asylrelevante Merkmal. Bei einer Gesamtbetrachtung und Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel spricht Überwiegendes gegen eine Anknüpfung an eine zugeschriebene politische Überzeugung bei Sanktionierung der Entziehung vom Grundwehrdienst. Nach den einschlägigen russischen Gesetzen, die auch seit Beginn des Ukraine-Krieges nicht geändert wurden, stellt das Nichterscheinen beim Militärkommissariat nach Erhalt einer Vorladung nach Art. 21.5 des russischen Ordnungswidrigkeitengesetzes eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldstrafe von 500 bis 3.000 Rubel (ca. 8 bis 50 Euro) geahndet wird. Der Strafrahmen für das Nichtbefolgen eines Einberufungsbefehls zum Grundwehrdienst (draft evasion) reicht gemäß Art. 328 Abs. 1 des russischen Strafgesetzbuches von Geldstrafe von bis zu 200.000 Rubel (ca. 3.373 Euro) bis zu einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren. Allerdings ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein deutlicher Anstieg der Strafverfolgungsverfahren wegen Entziehung vom Grundwehrdienst zu verzeichnen. Allein vom 1. Mai 2022 bis zum 20. September 2022 erreichte die Zahl der an russischen Gerichten wegen Wehrdienstentziehung oder Entziehung vom alternativen Zivildienst geführten Strafverfahren mit 410 Strafverfahren ein Zehn-Jahres-Hoch. Im ersten Halbjahr des Jahres 2022 wurden 564 Personen wegen Wehrdienstentziehung verurteilt, auch dies stellt einen deutlichen Anstieg gegenüber den Vorjahren dar. Gleichwohl wurde in allen Fällen (nur) eine Geldstrafe verhängt. Erkenntnisse über Fälle, in denen Haftstrafen verhängt wurden, liegen nicht vor. Damit ist zu beobachten, dass die russischen Behörden die Wehrdienstentziehung zwar nunmehr konsequenter verfolgen. Die verhängten Strafen befinden sich aber weiterhin auf eher niedrigem Niveau. Eine Zuschreibung politischer Überzeugungen seitens des russischen Staates gegenüber den Wehrdienstpflichtigen, die sich dem Wehrdienst entziehen, ist letztlich nicht zu entnehmen. Es mag zwar im Bereich des Vorstellbaren liegen, dass einer Entziehung vom Wehrdienst vor dem Hintergrund eines Krieges, wie hier des Krieges Russlands gegen die Ukraine, von Seiten des Staates eine politische Komponente beigemessen wird. Den vorliegenden Erkenntnissen lässt sich dies hinsichtlich der Sanktionierung der Grundwehrdienstentziehung jedoch nicht entnehmen. Vielmehr zeigen diese, dass die Wehrdienstentziehung zwar konsequenter verfolgt wird als in der Vergangenheit. In diesem Vorgehen spiegelt sich auch jedenfalls der deutliche Personalbedarf der russischen Streitkräfte – gerade auch aufgrund des Ukrainekrieges – wider. Dagegen lässt sich aber weder den verhängten Strafen, noch der Gesetzgebung oder der tatsächlichen Praxis der Strafverfolgung als solcher ein Anhaltspunkt für eine Anknüpfung an eine zugeschriebene politische Überzeugung entnehmen, die sich etwa in einer besonderen Strafschärfe niederschlagen würde (vgl. insgesamt VG Potsdam, Urteil vom 10. Mai 2023 – 6 K 352/18.A –, Rn. 28 - 35, juris).
Nichts anderes gilt aber auch für den Kläger zu 1., der in der Vergangenheit bereits seinen Wehrdienst geleistet hat. So stellt die bloße Ausreise eines Reservisten ohne Einberufungsbefehl – wie vorliegend, da der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht glaubhaft machen konnte, dass er bereits einberufen worden sei – keine Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches dar (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl – Themenbericht der Staatendokumentation – Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, 2. April 2024, ÖB Moskau 21.2.2024). Haben einberufene Reservisten an einer militärischen Übung noch nicht teilgenommen und erscheinen sie (ohne gerechtfertigten Grund) nicht zur Übung, so liegt keine Desertion vor, sondern eine Verwaltungsübertretung. Haben hingegen einberufene Reservisten an der militärischen Übung bereits teilgenommen und erscheinen sie nicht zum weiteren Dienst mit dem Vorsatz, sich auf Dauer dem Militär zu entziehen, liegt Desertion gemäß dem Strafgesetzbuch vor (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl – Themenbericht der Staatendokumentation – Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, 2. April 2024). Gemäß dem russischen Strafgesetzbuch bedeutet Desertion das eigenmächtige Verlassen der Militäreinheit oder des Dienstorts mit dem Ziel, dem Wehrdienst zu entgehen. Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren geahndet. Ersttäter können sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Desertion Folge schwieriger Umstände war. Desertion mit einer Waffe sowie die Desertion einer Personengruppe ziehen eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren nach sich (Bundesamt für fremden Wesen und Asyl – Themenbericht der Staatendokumentation – Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, 2. April 2024). Dies ist hier allerdings offensichtlich nicht der Fall.
Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, da keine stichhaltigen Gründe für die Annahme eines sie in ihrem Herkunftsland drohenden ernsthaften Schadens vorgebracht wurden.
Nach § 4 Abs. 1 S. 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden: Die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Es ist nicht zu erwarten, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verhängung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nrn. 1 und 2 AsylG) drohen könnten. Hierfür wurde weder etwas vorgetragen noch ist sonst etwas ersichtlich. Die Todesstrafe droht in der Russischen Föderation seit 2009 nicht mehr, da sie de facto abgeschafft ist (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand 10. September 2022 vom 28. September 2022, S. 20; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – Länderinformation der Staaten Dokumentation Russische Föderation, Datum der Veröffentlichung 3. Februar 2023, Seite 67). Eine Bedrohung innerhalb der Russischen Föderation infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist nicht beachtlich wahrscheinlich. Zwar hat es im Rahmen des aktuellen Krieges in der Ukraine auch Angriffe auf unmittelbar an die Ukrainer angrenzenden Regionen der Russischen Föderation gegeben, aber es ist nichts dafür ersichtlich, dass eine Bedrohungslage auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation durch die Ukraine besteht.
Insbesondere können der Kläger zu 1. und der Kläger zu 3. keinen subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG aus einer drohenden Rekrutierung in der Russischen Föderation bzw. eine Einberufung und Entsendung in den Ukrainekrieg ableiten.
Nach der zitierten Vorschrift ist ein Antragsteller – wie dargelegt – subsidiärer Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Dabei ist festzuhalten, dass eine etwaige Heranziehung der Kläger zu 1. und 3. zum Wehrdienst nicht per se eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung beachtlich wahrscheinlich macht. Soweit die Kläger zu 1. und 3. vielmehr eine Entsendung in Ukrainer befürchten, kann dahinstehen, ob dies einen ernsthaften Schaden durch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung begründet, denn jedenfalls ist eine Entsendung der Kläger zu 1. und 3. in den Krieg nicht beachtlich wahrscheinlich.
Entgegen dem Vorbringen des Klägers zu 1. ist vorliegend zunächst nicht überwiegend wahrscheinlich, dass dieser als Reservist zum Militärdienst eingezogen wird.
Unter bestimmten Voraussetzungen können Reservisten zum Militärdienst eingezogen werden. Präsident Putin hat am 21. September 2022 als Reaktion auf die militärischen Rückschläge im Ukrainekrieg die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte angeordnet. Das präsidentielle Dekret ermöglicht die Einberufung russischer Reservisten (abrufbar unter: http://kremlin.ru/events/president/news/69391; s. auch die deutsche Übersetzung bei https://de.wikipedia.org/wiki/Mobilmachung_in_ Russland_2022#Wortlaut). Nach offiziellen Verlautbarungen Präsident Putins, die jedoch keinen Niederschlag im Wortlaut des Dekrets gefunden haben, soll(t)en „vor allem“ solche Reservisten einberufen werden, die über eine einschlägige Spezialisierung und Kampferfahrung verfügen (Rede Putins vom 21. September 2022, in Auszügen übersetzt abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/rede-putin-101.html; vgl. auch EUAA, COI, The Russian Federation – Military Service, Dezember 2022, S. 26; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Zusammenfassung – Russische Föderation (Juli bis Dezember 2022), 01.01.2023, S. 3 f., vgl. insgesamt VG Berlin, Urt. v. 08.08.2023 – 12 K 18/23 A –, juris Rn. 29 – 31).
Die russische Reserve setzt sich wie folgt zusammen: Neben der aktiven Reserve, die aus Personen besteht, die Wehrdienst geleistet und einen militärischen Rang erworben haben oder die ein militärisches Training für Reserveoffiziere absolviert und sich vertraglich verpflichtet haben, verfügen die russischen Streitkräfte über eine generelle Reserve (sog. „inactive mobilisation reserve“ oder „mobilisation human resource“), die im Falle einer Mobilmachung herangezogen werden kann. Das russische Verteidigungsministerium bezifferte diese auf 25 Millionen Personen, was jedoch als erheblich zu hoch geschätzt angesehen wird. Diese generelle Reserve besteht aus Männern, die aus der russischen Armee entlassen und dann in die Reserve aufgenommen wurden, die Wehr- oder Wehrersatzdienst geleistet haben, die ein Studium an einer militärischen Bildungseinrichtung oder eine militärische Ausbildung an einer staatlichen Bildungseinrichtung absolviert haben, die vom Wehrdienst befreit oder zurückgestellt worden sind bis zum Alter von 27 Jahren (mittlerweile erhöht auf 30 Jahre), die wegen Vollendung des 27. Lebensjahrs nicht zum Wehrdienst verpflichtet wurden oder die keinen Wehrdienst geleistet haben, ohne dass es dafür einen rechtlichen Grund gibt. Zudem zählen Repräsentanten bestimmter Berufsgruppen, wie Kommunikation, Computertechnik oder Optiker zur generellen Reserve (vgl. Danish Immigration Service, COI: Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 13). Die Reservisteneigenschaft ist an bestimmte Altersgrenzen gebunden. Nach Art. 53 Abs. 1 des Gesetzes über militärische Pflichten und den Militärdienst vom 23. März 1998 N 53-FZ in seiner aktuellen Fassung richten sich die maßgeblichen Altersgrenzen nach dem Dienstrang, dem ein Reservist zugehört. Insgesamt sieht die Vorschrift fünf Ranggruppen vor. Die erste Gruppe umfasst Soldaten, Matrosen und Unteroffiziere sowie weitere Dienstränge unterhalb der Offiziere; die zweite Gruppe stellen Junior-Offiziere dar; die dritte Gruppe bilden Majore, Kapitäne des dritten Rangs, Oberstleutnants und Kapitäne des zweiten Rangs; die vierte Gruppe umfasst Oberste und Kapitäne ersten Rangs. Die fünfte Gruppe bilden schließlich Leitende Offiziere. Jede Reservistengruppe ist wiederum in maximal drei Altersstufen unterteilt, die die Reihenfolge bzw. Priorität der Einberufung angeben. Zunächst werden also die jüngeren Vertreter eines Rangs eingezogen, bevor sodann ggf. auch auf ältere Reservisten je Gruppe zurückgegriffen wird. Welchen Rang ein Reservist hat, ist seinem Militärbuch zu entnehmen. Für einfache Soldaten der Reserve gilt dabei eine maximale Altersgrenze bis 50 Jahren in der dritten Prioritätsstufe, die erste Ebene reicht bis zum Alter von 35, die zweite bis zum Alter von 45 Jahren. Nach Auskunft eines Repräsentanten der russischen Streitkräfte soll die am 21. September 2022 ausgerufene Teilmobilisierung auf eine Einberufung von Angehörigen der jeweils ersten Kategorie jedes Rangs der Reserve ausgerichtet (gewesen) sein (vgl. insgesamt VG Berlin, Urteil vom 8. August 2023 – 12 K 18/23 A –, juris Rn. 29 – 31).
Es gibt verschiedene Ausschlussgründe für Reservisten, nicht der Teilmobilmachung zu unterfallen. Ziffer 5 des präsidentiellen Dekrets vom einen 20. September 2022 nennt als Gründe für eine Entlassung einberufener Reservisten von der Militärdienstpflicht das Erreichen des Höchstalters für die Ableistung des Militärdienstes, die Einstufung als ungeeignet für den Militärdienst aus gesundheitlichen Gründen und die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe (Dekret abrufbar unter: http://kremlin.ru/events/president/news/69391; s. auch die deutsche Übersetzung bei https://de.wikipedia.org/wiki/Mobilmachung_in_Russland_2022#Wortlaut). Befreiungen und Aufschübe im Rahmen einer Mobilmachung regelt darüber hinaus Art. 18 des Gesetzes N 31-FZ vom 26 der Februar 1997 über die Mobilisierungsvorbereitung und Mobilisierung in der Russischen Föderation in seiner aktuellen Fassung vom 4. November 2022. Einen Aufschub von der Einberufung erhalten danach Männer, die aus gesundheitlichen Gründen für bis zu sechs Monate vorübergehend für militäruntauglich erklärt wurden, die bestimmte nahe ständig pflegebedürftige Angehörige pflegen, die Vormund für ein minderjähriges Geschwisterkind sind, die vier oder mehr Kinder unter 16 Jahren haben oder alleinerziehender Vater mindestens eines Kindes unter 16 sind, die eine seit über 22 Wochen schwangere Frau und drei abhängige Kinder unter 16 Jahren haben, die vier oder mehr Geschwister unter acht Jahren haben, welche nur von der Mutter großgezogen werden oder die Mitglieder des Föderationsrates oder der Staatsduma sind (vgl. insgesamt VG Berlin, Urteil vom 8. August 2023 – 12 K 18/23 A –, juris Rn. 29 – 31; VG Bremen, Urteil vom 21. November 2023 – 6 K 778/19 –, juris).
Weitere Ausnahmen wurden im September 2022 durch Dekrete bzw. öffentliche Verlautbarungen gewährt für Mitarbeiter von Unternehmen des Verteidigungssektors, (post-graduierte) Studenten und Forscher; Angestellte des IT-Sektors, Banker und Journalisten der staatlichen Medien. Am 3. Oktober 2022 wurden Väter von drei oder mehr Kindern unter 16 Jahren von der Einberufung ausgenommen, wobei unklar ist, ab wann diese Regelung Anwendung findet und ob sie fort gilt (vgl. EUAA, COI Query Response, The Russian Federation – Major Developments in the Russian Federation in relation to political opposition and military service, 17. Februar 2023, S. 17). Nach Auskunft von Militärangehörigen unterfallen zudem pensionierte Veteranen und russische Staatsangehörige, die im Ausland leben und aus dem Militärregister gestrichen wurden, nicht der Teilmobilmachung (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation, 8. November 2023, S. 36, vgl. insgesamt VG Berlin, Urteil vom 20. März 2023 – 33 K 143.19 A –, juris Rn. 42 – 65; VG Bremen, Urteil vom 21. November 2023 – 6 K 778/19 –, Rn. 34 - 37, juris).
Zwar ist der am 2_____ geborene Kläger zu 1. Reservist, da er Anfang der 1990er Wehrdienst geleistet hat und über ein Militärbuch verfügt, jedoch besteht nach dem vorstehenden nicht nur keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Einberufung des Klägers zu 1., eine solche Einberufung liegt vielmehr fern. Entgegen dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der Kläger zu 1. auch nicht als Spezialist an einer Hubschrauberstaffel im 1. Tschetschenienkrieg während seines Grundwehrdienstes teilgenommen. Aus dem zur Gerichtsakte gereichten Militärbuch des Klägers zu 1. ergibt sich vielmehr, dass dieser entsprechend seiner Ausbildung lediglich als Mechaniker und Fahrer im niedrigsten Range eines Soldaten tätig gewesen ist und der 2. Kategorie der Reserve, d. h. der 2. Prioritätsstufe zugeordnet wurde. Mit Blick hierauf hat der Kläger zu 1. bereits die für die 2. Prioritätsstufe maximale Altersgrenze von 45 Jahren überschritten, sodass er aus der Reserve ausscheidet und aus dem Militärregister entfernt wird. Bereits aus diesem Grund scheidet eine Einberufung des Klägers zu 1. aus. Darüber hinaus ist eine besondere militärische Spezialisierung beim Kläger zu 1. nicht festzustellen. Er selbst hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass seine Tätigkeit im Wesentlichen darin bestand, Hubschraubern der Serie „Mi“ Starthilfe zu geben und als Fahrer im Einsatz gewesen zu sein. Eine darüberhinausgehende besondere Spezialisierung hat er während seines Wehrdienstes nicht erfahren, sodass auch aus diesem Grund für den höchst unwahrscheinlichen Fall einer rückwirkenden Erhöhung der Altersgrenze es äußerst unwahrscheinlich ist, dass der Kläger zu 1. einberufen werden sollte.
Gleiches gilt für den Kläger zu 3. Auch dieser kann sich vorliegend nicht auf den subsidiären Schutzstatus mit Blick auf eine mögliche Einberufung zum Wehrdienst und der Entsendung die Ukraine mit Erfolg berufen.
So bestehen bereits Zweifel, dass der Kläger zu 3. überhaupt zum Wehrdienst einberufen wird, jedenfalls aber ist eine Entsendung in die Ukraine nicht wahrscheinlich, und zwar weder aufgrund der bestehenden Wehrpflicht noch mit Blick auf die in der Russischen Föderation ausgerufene Teilmobilmachung.
Der Kläger zu 3., der sein 18. Lebensjahr vollendet halte, unterfällt zunächst der Wehrpflicht. Gemäß dem föderalen Gesetz ’Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst’ unterliegen männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 30 Jahren der Einberufung zum Grundwehrdienst. Die Entscheidung, ob eine Person einberufen wird oder nicht, darf erst dann getroffen werden, wenn die betreffende Person mindestens 18 Jahre alt ist. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Für gewöhnlich findet zweimal jährlich eine Stellung/Einberufung statt: zwischen 1. April und 15. Juli sowie zwischen 1. Oktober und 31. Dezember. Die Grundlage dafür bilden präsidentielle Erlässe (Ukasy). Ausnahmen sind für folgende Personengruppen vorgesehen: Bewohner bestimmter Gebiete des hohen Nordens werden zwischen 1. Mai und 15. Juli oder zwischen 1. November und 31. Dezember einberufen. Bewohner ländlicher Regionen, welche in Aussaat- und Erntearbeiten involviert sind, werden zwischen 15. Oktober und 31. Dezember einberufen. Pädagogische Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen werden zwischen 1. Mai und 15. Juli einberufen. Der Staatspräsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden sollen. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel der jährlich ins wehrdienstpflichtige Alter kommenden jungen Männer. Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium. Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen, für das Frühjahr 2023 147.000 und für Herbst 2023 130.000 Personen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 2. April 2024, Russische Föderation. Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, S. 5 f.). Mit Blick hierauf ist bereits die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung des Klägers zu 3. herabgesetzt.
Grundwehrdienstleistende können zudem, sofern sie sich nicht freiwillig für friedenserhaltende Maßnahmen im Ausland melden, grundsätzlich ausschließlich auf dem Territorium der Russischen Föderation eingesetzt werden. Derzeit gibt es keine Hinweise auf eine Beteiligung russischer Grundwehrdienstleistender an Kampfhandlungen in der Ukraine. Allerdings werden Grundwehrdienstleistende auf der von Russland besetzten ukrainischen Halbinsel Krim sowie zur Grenzsicherung entlang der russisch-ukrainischen Grenze eingesetzt. Zudem werden sie unter Druck gesetzt, Verträge mit der Armee zu unterzeichnen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 02.04.2024, Russische Föderation. Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, S. 15). Das in den besetzten ukrainischen Gebieten eingesetzte russische Militärpersonal setzt sich aus Vertragssoldaten, im Rahmen der Teilmobilmachung einberufenen Reservisten und Freiwilligen zusammen. Als Reservist gilt, wer nach Ableistung des Wehrdienstes aus der Armee ausgeschieden ist. Grundwehrdienstleistende gehören nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht zu den Reservisten (Auswärtiges Amt, 10.02.2023, Schreiben an Bundesministerium des Innern und für Heimat, S. 2). Selbst für den unwahrscheinlichen Fall einer Einberufung zum Grundwehrdienst ist daher ein Einsatz im Ukrainekrieg für die Kläger auf absehbare Zeit nahezu ausgeschlossen, sodass sich der Kläger zu 3. vorliegend nicht auf einen subsidiären Schutzstatus berufen kann.
Ergänzend sei noch ausgeführt, dass die Möglichkeit besteht, den Wehrdienst durch einen alternativen Zivildienst zu ersetzen. Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Art. 59 der Verfassung garantiert. Eine gesetzliche Grundlage steht diesbezüglich das Föderale Gesetz „Über den alternativen Zivildienst“ dar. Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche, d. h. etwa die politische oder pazifistische Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionellen Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht. Jährlich werden etwa 2.000 Anträge auf Wehrersatzdienst gestellt, wovon geschätzt die Hälfte positiv beschieden wird. Anträge auf Ableistung des alternativen Zivildiensts sind beim Militärkommissariat spätestens sechs Monate vor den jährlichen Einberufungsterminen zu stellen und müssen eine Begründung enthalten (§ 11 des Gesetzes ’Über den alternativen Zivildienst’). Die Anträge werden laut § 10 von der Einberufungskommission geprüft. Wer allerdings bereits den Wehrdienst ableistet, darf keinen Antrag mehr auf Ableistung eines Wehrersatzdienstes stellen. Bei Verkündung einer Mobilmachung ist die Fortsetzung des zivilen Ersatzdienstes in Einrichtungen der russischen Streitkräfte sowie in anderen militärischen Einrichtungen gestattet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformation der Staatendokumentation – Russische Föderation, 8. November 2023, Seite 41).
Die Kläger haben ferner keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragte Verpflichtung der Beklagten, ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK kann allerdings nur beanspruchen, wem prinzipiell landesweit im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Strafe oder Behandlung droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne Fluchtalternative bestehen. Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse – dem internen Schutz nach § 3e AsylG vergleichbare – Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen (vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011, Sufi und Elmi, Nr. 8319/07 und 11449/07, Rn. 266; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – BVerwG 10 C 15.12 – juris Rn. 26, 36).
Eine unmenschliche Behandlung i.S.v. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse ist nur in ganz außergewöhnlichen Ausnahmefällen anzunehmen (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09, NVwZ 2011, 413). Die ernsthafte, ein Mindestmaß an Schwere aufweisende Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann erreicht sein, wenn ein Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – BVerwG 1 B 25.18 – juris Rn. 9 ff.). Der Umstand, dass die Lage des Betroffenen einschließlich der Lebenserwartung unter anderem durch Unterschiede in medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Standards beeinträchtigt wird, reicht nicht aus (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2014 – BVerwG 10 C 15.12 – juris Rn. 23).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist das Gericht davon überzeugt, dass die Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein werden oder dass ihnen aufgrund einer außergewöhnlichen Sicherheits- oder humanitären Lage die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in der Russischen Föderation droht. Auf die obigen Ausführungen zur mangelnden Darlegung einer Bedrohungslage wird zunächst verwiesen. Auch unter Berücksichtigung der gegen die Russische Föderation verhängten Wirtschaftssanktionen wegen des Krieges in der Ukraine ist mit Blick auf die gesichteten Erkenntnismittel nicht erkennbar, dass die Kläger in Russland ihren Lebensunterhalt nicht jedenfalls auf niedrigstem Niveau werden sichern können. Namentlich der Kläger zu 1. und 3. sowie die Klägerin zu 2. sind volljährig und erwerbsfähig und mangels entgegenstehender Angaben auch gesund. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Kläger Verwandte an verschiedenen Orten in Russland haben, die sie im Falle einer Rückkehr unterstützen können. So lebt die Schwester der Klägerin zu 2. in M_____ und arbeitet dort als Ä_____. Die Eltern der Klägerin zu 2. leben weiterhin in Dagestan. Sowohl die Mutter also Brüder des Klägers zu 1. lebten in der Russischen Föderation in seinem Haus. Die Kläger verfügen somit über Wohneigentum in der Russischen Föderation. Zu beachten ist zudem, dass die Kläger zu 1. und 2. bereits in der Vergangenheit ihren eigenen Angaben zufolge an verschiedenen Orten – wie etwa Moskau, Wolgograd oder Pyt-Yakh – in der Russischen Föderation gelebt hätten und ein Auskommen gehabt haben.
Auch ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht nicht. Es ist von den Klägern nicht dargelegt wurde und auch nicht erkennbar, dass ihnen bei einer Überstellung in die Russische Föderation eine konkrete und erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dabei ist eine wesentliche Verschlechterung nicht schon bei einer ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden (vgl. Niedersächsisches OVG, Urteil vom 28. Juni 2011 – OVG 8 LB 221.09 – juris Rn. 27 m.w.N.). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Zweck der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht, eine bestehende Krankheit optimal zu behandeln und dem Ausländer am medizinischen Fortschritt und Standard der medizinischen Versorgung in Deutschland teilhaben zu lassen. Vielmehr muss sich dieser grundsätzlich und vorbehaltlich der Sicherung der existenziellen Bedürfnisse auf den Standard der Gesundheitsversorgung seines Herkunftslandes verweisen lassen, selbst wenn der betreffende Standard nicht dem Niveau in Deutschland entspricht. Es ist Aufgabe des jeweiligen Herkunftslandes, dafür zu sorgen, dass seine Staatsangehörigen die für sie notwendige und im Heimatstaat mögliche medizinische Versorgung auch dann erhalten, wenn sie nur über ein geringes oder gar kein Einkommen verfügen (BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2023 – 1 VR 1/23 – juris Rn. 109). Diesbezüglich wurde durch die Kläger weder etwas vorgetragen noch sonst etwas ersichtlich.
Auch im Übrigen ist gegen den Bescheid in materiell-rechtlicher Hinsicht nichts zu erinnern.
Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 AsylG, § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
Gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde weder seitens des Klägers weder etwas vorgetragen noch sind für das Gericht nach eigener Prüfung Gründe dafür ersichtlich, dass die Befristung auf 30 Monate ermessensfehlerhaft sein könnte.
Die Kostenentscheidung einschließlich der Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 Abs. 2 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO. Einer Streitwertfestsetzung bedurfte es vorliegend nicht, da das Verfahren gerichtskostenfrei war.
Rechtsmittelbelehrung: