Gericht | VG Cottbus 8. Kammer | Entscheidungsdatum | 27.06.2024 | |
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Aktenzeichen | VG 8 K 1774/20 | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2024:0627.8K1774.20.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | 17 Abs. 1 BbgRettG §, 3 BbgRettG §, EE Rettungsdienstgebührenssatzung |
Der Gebührenbescheid des Beklagten vom 2. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2020 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Klägerin wendet sich gegen einen Gebührenbescheid, mit welchem der Beklagte ihr die Kosten für eine Notrufinanspruchnahme auferlegt hat.
Am Abend des 21. August 2020 trafen sich die Klägerin und die Zeugin, Frau S_____, in der Wohnung der Klägerin. Sie saßen in der Küche der Wohnung, unterhielten sich und konsumierten verschiedene Alkoholika. Auch der Ehemann der Klägerin befand sich in der Wohnung, legte sich jedoch schlafen. Die Genannten hatten sich bereits am Nachmittag im Garten der Zeugin getroffen und seit diesem Zeitpunkt verschiedene alkoholische Getränke eingenommen.
In den frühen Morgenstunden des 22. August 2020 gegen 2.12 Uhr meldete die Klägerin über die Rufnummer 112 bei der Leitstelle Lausitz einen Notfall. Dabei schilderte sie, dass die Zeugin nicht ansprechbar sei und nicht reagiere. Der Leitstellendisponent begann daraufhin eine Telefonreanimation zusammen mit der Klägerin und alarmierte einen Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug, um zur Wohnung der Klägerin zu fahren. Der Disponent forderte die Klägerin telefonisch auf, einen Schmerzreiz bei der Zeugin zu setzen. Im weiteren Verlauf des Gespräches gab die Klägerin an, dass die Zeugin wieder bei Bewusstsein sei. Um 2.20 Uhr teilte die Leitstelle sowohl den Insassen des Rettungswagens als auch des Notarzteinsatzfahrzeuges mit, dass es sich (wohl) nicht um einen Notfall handele. Die Einsatzkräfte suchten die Wohnung der Klägerin dennoch auf, um sich ein eigenes Bild zu verschaffen. Im Rettungswagen befanden sich u.a. die Zeugen C_____ und L_____. Um 2.34 Uhr brachte der Rettungswagen die Zeugin nach Hause.
Mit Bescheid vom 02. September 2020 erhob der Beklagte von der Klägerin Gebühren in Höhe von 1.016,56 EUR wegen eines Notrufmissbrauchs. Den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 21. September 2020 begründete die Klägerin damit, dass die Zeugin zusammengebrochen sei und nicht durch sie, die Klägerin, habe geweckt werden können, sodass sie von einer Gefahr für die Zeugin ausgegangen sei. Der Beklagte wies mit Bescheid vom 26. Oktober 2020 den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er insbesondere aus, dass sich im Laufe des Gesprächs zwischen der Klägerin und der Leitstelle gezeigt habe, dass es sich nicht um eine Reanimationssituation gehandelt habe. Im Hintergrund sei Lachen zu hören gewesen und die Sprache der Klägerin habe verwaschen geklungen. Auf den Hinweis des Leitstellendisponenten, dass es sich um einen Notrufmissbrauch handele, habe die Klägerin mitgeteilt, sie wolle die Zeugin aus der Wohnung entfernt haben. Die eingetroffenen Rettungskräfte hätten darüber hinaus angegeben, zwei streitende Frauen angetroffenen zu haben. Auch sei die Zeugin bei Ankunft der Rettungskräfte selbständig gelaufen und ansprechbar gewesen. Sie habe jedoch deutliche Hinweise auf Alkoholabusus gezeigt. Bei der folgenden ärztlichen Untersuchung seien keine Hinweise für eine vitale Bedrohung gefunden worden.
Am 17. November 2020 hat die Klägerin Klage erhoben.
Sie trägt vor, dass vor Absetzen des Notrufes die Zeugin völlig unerwartet und ohne Vorankündigung in sich zusammengeklappt sei und auf dem Fußboden in der Küche gelegen habe. Auch mehrmalige Versuche, insbesondere durch sie, die Klägerin, die Zeugin zum Aufwecken zu bewegen, seien erfolglos geblieben. Insofern habe sich für die Klägerin die Situation so dargestellt, dass die Zeugin bewusstlos gewesen sei und zumindest eine schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung gegeben sei. Nur aufgrund dieser Anknüpfungstatsachen habe sich die Klägerin zur Vermeidung erheblicher gesundheitlicher Nachteile veranlasst gesehen, den Notdienst zu rufen. Hinzu komme, dass sie die Zeugin zum damaligen Zeitpunkt noch nicht lange gekannt habe. Somit sei ihr auch nicht bekannt gewesen, dass es aufgrund der bestehenden Diabeteserkrankung bei der Zeugin des Öfteren in der Vergangenheit vorkam, dass diese bewusstlos geworden sei. Dies habe ihr die Zeugin erst nach dem streitgegenständlichen Vorfall mitgeteilt. Erst im zeitlichen Zusammenhang mit dem Eintreffen des Rettungswagens und des Notarztfahrzeuges sei die Zeugin wieder zu Bewusstsein gekommen. Die Klägerin habe aufgrund des beschriebenen Zustandes der Zeugin Angst empfunden, wobei sie, die Klägerin, auch nicht mehr in der Lage gewesen sei, selbst Erste Hilfe zu leisten. Es könne somit dahinstehen, ob sie aufgrund erheblichen Alkoholkonsums Äußerungen getätigt habe, wonach sie die Zeugin sinngemäß aus der Wohnung habe entfernen lassen wollen.
Die Klägerin beantragt,
- den Gebührenbescheid vom 2. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2020 aufzuheben,
- die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er wiederholt und vertieft seine Ausführungen aus dem Widerspruchsbescheid.
Das Gericht hat die Klägerin zu der Frage, ob sich in der Nacht vom 21. zum 22. August 2020 in der Wohnung der Klägerin ein die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes rechtfertigender Notfall ereignete, persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin E_____ sowie der Zeugen P_____ und M_____. Des Weiteren hat das Gericht durch eine akustische Inaugenscheinnahme eines Tonträgers mit der digitalen Aufzeichnung des verfahrensgegenständlichen Notrufgespräches zwischen der Klägerin und einem Leitstellenmitarbeiter Beweis erhoben.
Bezüglich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll und den beigezogenen Tonträger (Beiakte II) Bezug genommen.
Ferner wird hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und des Vortrages der Beteiligten im Übrigen auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang (1 Heft) Bezug genommen.
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Der Gebührenbescheid des Beklagten vom 2. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin deshalb in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Rechtsgrundlage für die Gebührenerhebung ist die auf Grundlage des § 17 Absatz 1 des Brandenburgischen Rettungsdienstgesetzes (BbgRettG) erlassene Gebührensatzung des Landkreises Elbe-Elster für den Rettungsdienst und qualifizierten Krankentransport in der Fassung vom 3. Dezember 2019 (nachfolgend: RDGebS LEE 2019).
Der Gebührenbescheid des Beklagten vom 2. September 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2020 ist materiell rechtswidrig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Satzung liegen nicht vor.
Gemäß § 1 Abs. 1 RDGebS LEE 2019 werden für die Inanspruchnahme von Leistungen des Rettungsdienstes Benutzungsgebühren erhoben. Gebühren entstehen gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 und 2 der Satzung grundsätzlich für die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes, wobei Gebührenschuldner gemäß § 3 Nr. 1 und 2 RDGebS LEE 2019 in diesen Fällen die transportierte oder behandelte Person ist. Handelt es sich jedoch, wie vorliegend vom Beklagten angenommen, um einen Missbrauch, löst gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 3 der Satzung das Ausrücken des Rettungsdienstes die Gebührenpflicht aus. Gemäß § 3 Nr. 3 RDGebS LEE 2019 ist in diesem Fall die Person Gebührenschuldner, die den Rettungsdienst anfordert, obwohl sie weiß oder wissen muss, dass ein rechtfertigender Notfall nicht vorliegt (Missbrauch). Die jeweilige Gebührenhöhe richtet sich nach § 2 RDGebS LEE 2019.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer Situation als Missbrauch ist gemäß § 3 Nr. 3 RDGebS LEE 2019 das Anfordern der Einsatzkräfte, wobei die Gebühr gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 3 der Satzung erst mit dem eigentlichen Ausrücken entsteht.
Eine andere Beurteilung des maßgeblichen Zeitpunktes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Berlin-Brandenburg zum Berliner Rettungsdienstgesetzes (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. Juni 2016 – OVG 1 B 2.12 –, juris, Rn. 155). Das Oberverwaltungsgericht hatte in Bezug auf das Entstehen der Kostenpflicht des Krankenversicherungsträgers gegenüber der Feuerwehr dargelegt, dass es für die Beurteilung des Vorliegens eines Notfallpatienten auf die Einschätzung der Rettungskräfte beim Eintreffen beim Betroffenen ankommt und nicht darauf, wie die Leitstelle die Situation zum Zeitpunkt der Alarmierung einschätzt. Die zitierte Entscheidung lässt sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen, weil die Gebühr nach dem Berliner Rettungsdienstgesetzes (RDG Bln) erst für den tatsächlichen Transport eines objektiven Notfallpatienten entsteht (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 RDG Bln) und nicht wie im hiesigen Verfahren durch das auf Grund der missbräuchlichen Alarmierung ausgelöste Ausrücken der Rettungskräfte.
Der Missbrauchstatbestand ist in § 3 Nr. 3 RDGebS LEE 2019 legal definiert: Die Person muss während des Anforderns des Rettungsdienstes wissen oder wissen müssen, dass kein Notfall vorliegt.
Das Anfordern ist vorliegend im Telefonat der Klägerin mit der Leitstelle um 2.12 Uhr zu sehen, in welchem sie eine Notsituation schildert, die die Leitstelle zur Entsendung der oben genannten Rettungskräfte veranlasst.
Über das Vorliegen der übrigen Tatbestandsmerke besteht zwischen den Beteiligten Streit und deren Vorliegen ist nach Ansicht des Gerichts nicht erwiesen, §§ 96, 98 VwGO; 371; 373 ZPO.
Im Anfechtungsrechtsstreit trägt die Behörde die Beweislast für die Tatsachen, die nach der zugrundeliegenden Norm Voraussetzung für die von dem Verwaltungsakt angeordnete belastende Rechtsfolge sind (Schoch/Schneider/Dawin, 45. EL Januar 2024, VwGO § 108 Rn. 102, beck-online). Dies zugrunde gelegt, sind die Tatbestandsmerkmale nur dann als erfüllt anzusehen, wenn das Gericht nach dem Ergebnis der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt ist, dass die Tatbestandsmerkmale vorgelegen haben. Bei dem ersten Merkmal handelt es sich um ein negatives Tatbestandsmerkmal, nämlich dem Nichtvorliegen eines Notfalles. Es müsste also erwiesen sein, dass kein rechtfertigender Notfall vorgelegen hat. Des Weiteren müsste die Klägerin vom Nichtvorliegen dieses Notfalles gewusst haben oder wissen hätte müssen.
Bereits an der ersten Voraussetzung fehlt es vorliegend, weil das Nichtvorliegen eines Notfalls nicht zur Überzeugung der Kammer erwiesen ist.
Der Begriff des rechtfertigenden Notfalls ist weder im Rettungsdienstgesetz noch in der Satzung des Landkreises genauer erläutert. Allerdings kann mithilfe der Begriffsbestimmungen zum Notfallpatienten und zum qualifizierten Krankentransport in § 3 BbgRettG indirekt ermittelt werden, welche Voraussetzungen für einen Notfall vorliegen müssen. Gemäß § 3 Abs. 1 BbgRettG handelt es sich bei Notfallpatientinnen und Notfallpatienten um verletzte und erkrankte Personen, die sich in Lebensgefahr befinden, sowie um Personen, bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht unverzüglich medizinische Hilfe erhalten. Diese werden mit der Notfallrettung behandelt und transportiert (Absatz 2 und 3). Demgegenüber genügt ein qualifizierter Krankentransport nach § 3 Abs. 4 BbgRettG bei sonstigen kranken, verletzten oder hilfsbedürftigen Personen, die keine Notfallpatientinnen oder Notfallpatienten sind.
In diesem Sinne kann von einem – die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes – rechtfertigenden Notfall ausgegangen werden, wenn sich eine Person in Lebensgefahr befindet oder ihr, wenn sie nicht unverzüglich medizinische Hilfe erhält, schwere gesundheitliche Schäden drohen. Im Falle einer Bewusstlosigkeit ist von einer Lebensgefahr auszugehen, da hier natürliche Schutzreflexe wie beispielsweise der Schluck- oder Hustenreflex ausgeschaltet sind (vgl. https://www.drk.de/hilfe-in-deutschland/erste-hilfe/bewusstlosigkeit/, letzter Abruf: 20. August 2024). Ob die Zeugin bewusstlos war, ist zwischen den Beteiligten streitig.
Nach Auffassung der Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Bewusstlosigkeit der Zeugin nicht ausgeschlossen, sodass gerade nicht bewiesen ist, dass es an einem Notfall fehlte.
Die Kammer stützt sich dabei in erster Linie auf die Inaugenscheinnahme der Mitschnitte der Telefonate der Klägerin mit der Leitstelle, die dem Gericht in Form zweier Audio-Dateien vorliegen.
Der erste Mitschnitt hat eine Länge von 4 Minuten und 26 Sekunden und beginnt mit der Anrufentgegennahme eines Leitstellendisponenten der Leitstelle Lausitz. Die Stimme der Klägerin klingt verwaschen und die Geschwindigkeit ihrer Ausführungen ist langsam und schleppend. Die Stimmlage der Klägerin klingt ernst und besorgt. Die Klägerin teilt mit, dass die Zeugin nicht ansprechbar sei. Auf Nachfrage gibt sie an, dass diese nicht atme. Der Disponent teilt mit, dass eine Telefonreanimation notwendig sei. Die Klägerin erwidert, dass sie nicht wisse, was zu tun sei und bittet darum, angeleitet zu werden. Sie erkundigt sich, ob ein Rettungsdienst entsendet worden sei. Der Disponent bejaht dies. Er fordert die Klägerin auf, sich hinzuknien, was diese mit der Aussage kommentiert, bereits zu knien. Sie solle das Telefon laut stellen, was sie mit einiger Verzögerung tut. Die Klägerin solle kraftvoll auf den Brustkorb der Zeugin zu drücken. Die Klägerin spricht die Zeugin mehrfach namentlich an, ohne dass eine Antwort zu vernehmen ist. Der Disponent zählt ihr einen Rhythmus vor, in dem die Klägerin den Brustkorb der Zeugin drücken soll. Nach kurzer Zeit teilt die Klägerin mit, dass die Zeugin nunmehr bei Bewusstsein sei und sie ihre Atmung „merke“. Auf der Aufnahme ist im Hintergrund kurz eine leise, gleichmäßige und mit deutlicher Aussprache sprechende Frauenstimme zu hören. Einzig verständliches Wort ist „reanimiert“. Anschließend wird die Klägerin gebeten, bei der Zeugin einen Schmerzreiz zu setzen, indem sie diese ins Ohrläppchen kneifen solle. Auf der Aufnahme ist zu hören, wie die Klägerin– vermutlich die Zeugin – fragt, ob sie „das“ spüre. Plötzlich teilt die Klägerin dem Leitstellendisponenten mit, dass sie „eine geklatscht“ bekommen habe. Anschließend ist neben der Stimme der Klägerin eine zweite weibliche Stimme im Hintergrund zu hören, die Klägerin redet mit dieser Person, die ebenfalls eine sehr verwaschene Aussprache aufweist. Die beiden Personen geraten in einen Streit, wobei die Klägerin mehrfach vorwurfsvoll sagt, dass sie sich Sorgen gemacht habe. Das Telefonat endet abrupt.
Im zweiten Mitschnitt, der eine Länge von 1 Minute 41 Sekunden aufweist, ruft der Leitstellendisponent die Klägerin zurück und erkundigt sich nach dem Gesundheitszustand der Zeugin. Daraufhin teilt die Klägerin mit, dass diese bei Bewusstsein sei. Auf Nachfrage gibt die Klägerin an „ein bisschen“ Alkohol getrunken zu haben. Im Hintergrund kann man die zweite Stimme hören, die ruft: „Mehr wie ich“. Die Klägerin teilt erneut mit, dass die Frau, „die hier liegt“, dringend Hilfe brauche.
Das Beweismittel gibt Auskunft über den Ablauf des maßgeblichen Telefonats zwischen der Klägerin und der Leitstelle. Der Anruf selbst, die Schilderung des Zustandes der Zeugin, die Bitte um Hilfestellung sowie die Erkundigungen der Klägerin, ob Hilfe unterwegs sei, erzeugen das plastische Bild einer (aus Sicht der Klägerin) nicht ansprechbaren Zeugin, die auch auf die Interaktion mit der Klägerin nicht reagiert. Die Klägerin schildert mehrfach, dass sich die Zeugin auf dem Boden befinde, was für einen Zusammenbruch der Zeugin spricht. Insbesondere die Tatsache, dass die Stimme der Zeugin auf der Aufnahme längere Zeit nicht zu vernehmen ist, sondern erst, nachdem der Schmerzreiz gesetzt worden ist, stellt ein wichtiges Indiz dafür dar, dass die Zeugin tatsächlich zuvor nicht ansprechbar war. Die Herkunft der leisen Stimme im Hintergrund lässt sich nicht restlos aufklären. Nicht ausgeschlossen ist, dass es sich hierbei um Hintergrundgeräusche der Leitstelle handelte. Insbesondere deuten keinerlei Anhaltspunkte darauf hin, dass die Klägerin sich gemeinsam mit der Zeugin einen Scherz erlaubt haben könnte. Hiergegen spricht schon die durchgehend besorgte Stimmlage der Klägerin. Entgegen der Ausführungen des Beklagten im Widerspruchsbescheid ist auch kein Lachen im Hintergrund hörbar.
Dem schriftlichen Einsatzbericht der Leitstelle und dem Gedächtnisprotokoll des Disponenten vom 30. September 2020 lassen sich keine zusätzlichen oder korrigierenden Erkenntnisse über den Vorfall entnehmen. Insbesondere enthält das Gedächtnisprotokoll, das der Beklagte aber offensichtlich seiner Entscheidung ohne Kenntnis der Aufzeichnung des Notrufes zugrunde gelegt hat, eine nur ungenaue und in Einzelheiten unzutreffende Schilderung der Telefonate, was gegen seine Verwertbarkeit spricht. So wird darin etwa beschrieben, dass die Klägerin vor Beginn der Telefonreanimation aufgefordert worden sei, bei der Zeugin einen Schmerzreiz zu setzen, auf den die Zeugin nicht reagiert habe. Die akustische Inaugenscheinnahme der Aufzeichnung der Telefonate belegt jedoch zum einen, dass die Aufforderung zum Setzen eines Schmerzreizes erst erfolgte, nachdem die Klägerin mitgeteilt hatte, dass die Zeugin im Zuge der Reanimation zu sich komme, und zum anderen, dass die Zeugin durchaus – nämlich mit einer Ohrfeige – auf den Schmerzreiz reagierte. Auch die wiedergegebene Erklärung der Klägerin, es handele sich nicht um eine Reanimation, sie brauche nur Hilfe, damit die Zeugin aus der Wohnung entfernt werde, ist in dieser Form durch die Aufzeichnung nicht dokumentiert.
Dieses Ergebnis wird auch durch die informatorische Befragung der Klägerin gestützt. Diese war zwar aufgrund der von dieser eingestandenen – mutmaßlich auf den Alkoholkonsum an dem in Rede stehenden Abend zurückgehenden – Erinnerungslücken weitgehend unergiebig, wobei sie zumindest das Kerngeschehen, also das Zusammenbrechen der Zeugin und den Anruf beim Rettungsdienst, benennen konnte. Sie erweckte aber jedenfalls den Eindruck einer von dem Vorfall tief beeindruckten und im Hinblick auf ihren damaligen Zustand beschämten Person und wirkte aufrichtig bemüht, zumindest ihre vorhandenen Erinnerungen wahrheitsgemäß zu schildern.
Die Aussagen der vom Gericht vernommenen Zeugin und der Rettungskräfte sind nicht geeignet, den durch die akustische Inaugenscheinnahme der Aufzeichnung des Notrufes gewonnenen Eindruck durchgreifend in Zweifel zu ziehen.
Die Zeugin schildert zwar detailreich und überzeugend den anfänglichen Verlauf des Nachmittags und Abends und auch die starke Alkoholisierung der Klägerin und der übrigen Personen. An das Kerngeschehen kann sie sich dagegen ersichtlich nicht erinnern. Zwar hat sie angegeben, den ganzen Abend über bei Bewusstsein gewesen zu sein und zuletzt am Küchentisch gesessen zu haben. Ihre Aussage, dass die Klägerin „auf einmal“ bzw. „plötzlich“ telefoniert habe, spricht allerdings dafür, dass sie das Geschehen nicht durchgängig wahrgenommen hat, ohne dass ihr das augenscheinlich selbst bewusst ist. So hatte sie insbesondere ersichtlich nicht mitbekommen, wie die Klägerin zum Telefon gegriffen und den Anruf begonnen hat. Zudem hat sie nur von einem einzelnen Telefonat berichtet, bei dem das Telefon darüber hinaus nicht laut gestellt war, auch zu dem Drücken ihres Brustkorbes und dem Schmerzreiz, den ihr die Klägerin gesetzt hatte, sowie der darauffolgenden Ohrfeige konnte sie keine Angaben machen. Letzteres belegt, dass auch die Zeugin Erinnerungslücken aufweist.
Unter Würdigung dieser Umstände spricht nach Überzeugung der Kammer Überwiegendes dafür, dass die Zeugin in der fraglichen Nacht tatsächlich vorübergehend nicht ansprechbar gewesen ist. Offenkundig ist sie erst infolge der Reanimationsversuche der Klägerin wieder zu sich gekommen, wofür auch spricht, dass erst ab diesem Zeitpunkt, dann aber gleichsam durchgängig auch ihre Stimme in der Aufzeichnung des Notrufes zu vernehmen ist. Ob die Zeugin lediglich infolge des Alkoholkonsums tief geschlafen hat oder tatsächlich bewusstlos war, lässt sich nicht mit Sicherheit aufklären. Nach Wahrnehmung der Klägerin, die diese gegenüber dem Disponenten der Leitstelle geäußert hat, konnte sie jedenfalls kein Heben und Senken des Brustkorbes der Zeugin beobachten, so dass sich eine Bewusstlosigkeit jedenfalls nicht mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausschließen lässt.
Die Aussagen der Rettungskräfte können die Überzeugung des Gerichts ebenfalls nicht erschüttern. Diese teilten zwar übereinstimmend und überzeugend mit, dass beide Frauen bei ihrem Eintreffen einen gesundheitlich stabilen Eindruck erweckten und die spätere Blutzuckeruntersuchung bei der Zeugin keine Auffälligkeiten ergab. Der Zeuge M_____ teilte zudem mit, dass nach seiner Einschätzung eine Person nach einer Bewusstlosigkeit nicht so schnell wieder aktiv sein könne, wie die Zeugin es gewesen sei. Die Aussagen sind jedoch nicht geeignet, eine Bewusstlosigkeit der Zeugin überzeugend auszuschließen. Zum einen waren die Rettungskräfte erst zu einem späteren Zeitpunkt vor Ort, sodass sie nur sekundäre Eindrücke gewinnen konnten. Dies gilt im Übrigen auch für den Notarzt, der die Zeugin erst vor dem Haus der Klägerin angetroffen hat. Zum anderen bezieht sich die Einschätzung des Zeugen M_____ lediglich auf eine diabetesausgelöste Bewusstlosigkeit, für deren Vorliegen die festgestellten Blutzuckerwerte der Zeugin aber gerade nichts hergaben.
Selbst wenn sich – was aber nach dem oben Gesagten nicht der Fall ist – unterstellen ließe, dass die Zeugin lediglich tief geschlafen hat, kann darüber hinaus zur Überzeugung der Kammer nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin dies gewusst hat oder erkennen hätte müssen. Für einen medizinischen Laien ist die Einschätzung, ob ein Notfall vorliegt, im Falle einer stark alkoholisierten und nicht mehr ansprechbaren Person regelmäßig schwierig zu treffen, zumal die Klägerin hier – wie bereits dargelegt – kein Heben und Senken des Brustkorbs der Zeugin wahrnehmen konnte.
Nach Überzeugung des Gerichts lässt sich zudem aus der Stimmlage und den Äußerungen der Klägerin im Gespräch mit der Leitstelle ableiten, dass diese ernstlich besorgt um die Zeugin war und die erbetene medizinische Hilfe für dringend notwendig hielt, was sich ursprünglich nach Aktenlage für die Beklagte anders dargestellt haben dürfte.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1; 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 Abs. 1, Abs. 2; 708 Nr. 11, 709, 711 Satz 1 der Zivilprozessordnung.
Rechtsmittelbelehrung: