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Türkei; Kindernachzug; türkisches Amtsgericht; Personensorge; ausländische gerichtliche Sorgerechtsentscheidung; Übertragung auf den im Bundesgebiet lebenden Vater; Anerkennung; verfahrensrechtlicher ordre public; Kindeswohl; Anhörung des Kindes


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat Entscheidungsdatum 29.09.2010
Aktenzeichen OVG 12 B 21.09 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 32 Abs 3 AufenthG, § 159 FamFG, Art 7 EuSorgeRÜbk, Art 10 Abs 1a EuSorgeRÜbk, Art 7 MSAG, Art 16 MSAG

Leitsatz

1. Es verstößt gegen den verfahrensrechtlichen deutschen ordre public, wenn ein minderjähriges Kind nicht angehört wird, bevor das zuständige ausländische Gericht die Personensorge von der im Heimatland lebenden Mutter auf den im Bundesgebiet lebenden Vater überträgt.

2. Eine derartige gerichtliche Entscheidung braucht im Visumsverfahren von Behörden der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkannt zu werden. Sie begründet keine alleinige Personensorge im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG.

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. April 2009 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger bzw. die Beklagte dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweils Andere zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der am ... Mai 1994 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er begehrt ein Visum zur Familienzusammenführung mit seinem im Bundesgebiet lebenden Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist.

Der Kläger lebt in der Südosttürkei gemeinsam mit seinen beiden 1997 und 2003 geborenen Geschwistern im Haushalt der Mutter, die mit dem Vater der Kinder zu keinem Zeitpunkt in Zivilehe verheiratet war und zunächst das Sorgerecht für den Kläger und seine Geschwister innehatte. Mit Urteil des Amtsgerichts B... vom 3. März 2008 wurde das Sorgerecht für den Kläger und seine Geschwister im Einvernehmen der Eltern auf deren Vater übertragen. Das Familiengericht kam nach Anhörung der Mutter des Klägers und seines Großvaters mütterlicherseits zu dem Ergebnis, dass der Vater aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation dem Kläger eine bessere Zukunft bieten könne als die Mutter. Der Kläger wurde nicht persönlich angehört. Dem Urteil zufolge ist der Antrag auf Übertragung des Sorgerechts am 29. Februar 2008, einem Freitag, gestellt worden („Klagedatum“). Das Urteil erging am Montag, dem 3. März 2008.

Die deutsche Botschaft der Beklagten in Ankara lehnte den Visumsantrag nach Versagung der Zustimmung durch den Beigeladenen mit Bescheid vom 10. November 2008 ab, weil der Lebensunterhalt des Klägers im Bundesgebiet nicht gesichert sei und die Sorgerechtsübertragung wegen Verstoßes gegen den ordre public nicht anerkannt werden könne.

Der hiergegen gerichteten Klage gab das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 6. April 2009 statt und verpflichtete die Beklagte zur Erteilung des begehrten Visums. Der Vater des Klägers sei aufgrund der türkischen Sorgerechtsentscheidung allein personensorgeberechtigt im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG. Ein Verstoß gegen den ordre public liege nicht vor. Das Amtsgericht Birecik habe das Kindeswohl berücksichtigt, weil es nicht allein auf die finanziellen Mittel des Vaters, sondern auch auf die besseren Ausbildungsmöglichkeiten des Klägers im Bundesgebiet abgestellt habe. Es schade nicht, dass die Eltern des Klägers mit der Sorgerechtsübertragung primär das Ziel verfolgt hätten, die gesetzlichen Nachzugsvoraussetzungen zu erfüllen. Der Lebensunterhalt sei gesichert.

Mit der von dem Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Berufung macht die Beklagte im Wesentlichen folgendes geltend: Die türkische Sorgerechtsentscheidung sei entgegen Art. 7 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961 (MSA) wegen des in Art. 18 MSA normierten ordre-public-Vorbehaltes aufgrund gravierender Mängel nicht anzuerkennen. Das Urteil des Amtsgerichts Bircek nenne keine zutreffende Rechtsgrundlage für die erfolgte Sorgerechtsübertragung, weil eine solche gar nicht existiere. Das türkische Recht sehe eine Übertragung der alleinigen Personensorge auf den Vater eines Kindes, mit dessen lediger Mutter er nicht verheiratet (gewesen) sei, grundsätzlich nur vor, wenn der Mutter das Sorgerecht aus besonderen, hier nicht gegebenen Umständen entzogen werde.

Das Amtsgericht B... habe die auch nach türkischem Recht erforderliche Anhörung des Klägers unterlassen und keine Stellungnahme einer sachverständigen Stelle eingeholt. Die Sorgerechtsübertragung widerspreche dem Kindeswohl. Der Verweis auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Vaters, der die Familie ohne weiteres auch von Deutschland aus unterstützen könne, genüge nicht. Der Vater lebe seit 1998 im Bundesgebiet und verfüge über keine enge Bindung zu dem Kläger. Dieser spreche kein Deutsch und habe seine entscheidende Prägung im Haushalt der Mutter erfahren. Die Integrationsprognose falle negativ aus. Es sei nicht glaubhaft, dass sich der Vater tatsächlich um den Kläger kümmern könne und werde. Im Übrigen habe der Vater des Klägers das Sorgerecht seit der Übertragung nicht ausgeübt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. April 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und widerspricht dem Vorbringen der Beklagten. Das türkische Familiengericht habe die maßgeblichen Vorschriften des türkischen Zivilgesetzbuches angewandt und zutreffend entschieden. Zu den sozialen Verhältnissen des Klägers sei dessen Großvater gehört worden. Das Gericht habe die Sorgerechtsübertragung nicht nur mit den besseren finanziellen Mitteln des Kindesvaters begründet, sondern festgestellt, dass der Vater dem Kläger in Deutschland eine bessere Zukunft bieten könne. In der Türkei habe der Kläger, der die neunte Klasse besuche, keine Möglichkeit zu einer weiteren Schulbildung.

Anlässlich seiner Befragung im Verwaltungsverfahren habe der Kläger angegeben, dass er bei seinem Vater leben wolle. Zu ihm bestehe eine intensive Beziehung. Der Vater besuche seine Kinder jährlich in der Türkei und telefoniere wöchentlich ein- bis zweimal mit ihnen. Für die Betreuung des Klägers im Bundesgebiet sei gesorgt. Es lebten neben dem Vater noch weitere Verwandte in Berlin.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Hinsichtlich der bislang nicht getroffenen Ermessensentscheidung gemäß § 104 Abs. 3 AufentG, § 20 Abs. 3 AuslG hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zugesichert, dass sie diese nachholen werde, falls der Senat im Berufungsverfahren zu dem Ergebnis komme, dass die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 AufenthG nicht vorlägen. Insoweit haben die Beteiligten den Rechtsstreit gemäß § 161 Abs. 2 AufenthG übereinstimmend für erledigt erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streitakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (1 Hefter) und des Beigeladenen (2 Bände Ausländerakten) Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit nicht in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist die Berufung der Beklagten begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage insoweit zu Unrecht stattgegeben. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung mit seinem Vater, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Nach § 6 Abs. 4 AufenthG in Verbindung mit § 32 Abs. 3 AufenthG ist dem minderjährigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis als Visum zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen. Der Kläger erfüllt zwar die gesetzliche Altersgrenze, weil er bei Beantragung des Visums erst 14 Jahre alt war (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, BVerwGE 133, 329, 332 Rn. 10; BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 2009, Buchholz 402.242 § 32 AufenthG Nr. 5). Sein Vater verfügt auch über eine Niederlassungserlaubnis. Dieser ist jedoch nicht allein personensorgeberechtigt im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG, weil die Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts Birecik vom 3. März 2008, mit der das Sorgerecht von der Mutter des Klägers auf dessen Vater übertragen worden ist, von Behörden und Gerichten im Bundesgebiet nicht anerkannt werden muss.

Die Voraussetzungen, unter denen eine in der Türkei ergangene Sorgerechtsentscheidung in der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen ist, richten sich nach dem Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961 – MSA - (BGBl II S: 217), das für die Bundesrepublik Deutschland am 17. September 1971 (BGBl II S. 1150) und im Verhältnis der Bundesrepublik zur Türkei am 16. April 1984 (BGBl. II S. 460) in Kraft getreten ist, bzw. nach dem Europäischen Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses vom 20. Mai 1980 – ESÜ - (BGBl II 1990, 220), das für die Bundesrepublik Deutschland seit dem 1. Februar 1991 (BGBl. II S. 392) und im Verhältnis zur Türkei seit dem 1. Juni 2000 (BGBl II S. 1207) in Kraft ist. Welches der beiden Übereinkommen vorrangig anzuwenden ist (vgl. dazu Art. 18 Abs. 2 MSA, Art. 19 ESÜ) kann offen bleiben, weil die jeweiligen Reglungen, die die Anerkennung ausländischer Sorgerechtsentscheidungen betreffen, hier zu identischen Ergebnissen führen.

Beide völkerrechtliche Vereinbarungen mit dem formalen Rang eines Bundesgesetzes haben grundsätzlich Vorrang vor §§ 108, 109 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit – FamFG – vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586), die ebenfalls die Anerkennung ausländischer Entscheidungen sowie Anerkennungshindernisse normieren und die die bis zum 31. August 2009 gültige entsprechende Regelung in § 16 a des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit – FGG – abgelöst haben. Gleiches gilt in Bezug auf § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, der in Fällen wie dem vorliegenden als allgemeine zivilprozessuale Vorschrift nicht mehr anwendbar ist, seitdem speziellere Vorschriften auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit bzw. in Familiensachen bestehen (a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 – OVG 7 B 24.05 -, juris Rn. 39). Schließlich erfordert die Anerkennung ausländischer Gerichtsentscheidungen auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit auch kein besonderes Anerkennungsverfahren (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 1988, FamRZ 1989, 378, 389).

Nach Art. 7 Satz 1 MSA sind Maßnahmen, die die gemäß Art. 1 bis 6 MSA zuständigen Gerichte oder Verwaltungsbehörden nach innerstaatlichem Recht getroffen haben und zu denen auch die Übertragung der Personensorge für ein minderjähriges Kind zählt, in allen Vertragsstaaten anzuerkennen. Diese Regelung darf in den Mitgliedstaaten nur dann unbeachtet bleiben, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist (Art. 16 MSA). Vergleichbare Vorschriften enthalten Art. 7 ESÜ (Anerkennung in einem Vertragsstaat ergangener Sorgerechtsentscheidungen) und Art. 10 Abs. 1 a) ESÜ. Danach können Anerkennung und Vollstreckung einer Sorgerechtsentscheidung versagt werden, wenn die Wirkungen der Entscheidung mit den Grundwerten des Familien- und Kindschaftsrechts im ersuchten Staat offensichtlich unvereinbar sind.

Aus den angeführten Regelungen ergibt sich, dass ausländische Sorgerechtsentscheidungen wie die des Amtsgerichts B... vom 3. März 2008 grundsätzlich im Bundesgebiet anerkannt werden müssen (vgl. auch VGH München, Beschluss vom 3. Juni 1996 – 10 CS 98.1074 -, juris Rn. 10). Die Vorbehaltsklausel des ordre public kommt nur im Ausnahmefall zum Tragen, sodass bei der Prüfung, ob ein derartiger Ausnahmefall vorliegt, Zurückhaltung geboten ist. Ein Anerkennungshindernis wegen Verstoßes gegen den ordre public kann danach nicht schon dann angenommen werden, wenn die ausländische Entscheidung nicht überzeugend erscheint oder ein deutsches Gericht nach deutschem Recht anders entschieden hätte.

Das Erfordernis einer „offensichtlichen Unvereinbarkeit“ schließt es ferner grundsätzlich aus, dass Gerichte oder Behörden eines Vertragsstaates die ausländische Entscheidung auf ihre materielle Richtigkeit hin („révision au fond“) überprüfen. Ein im Sinne der deutschen oder auch ausländischen Rechtsordnung „falsches“ Ergebnis führt für sich genommen noch nicht zum Verstoß gegen den Vorbehalt des ordre public (daher zweifelhaft VG Berlin, Urteil vom 23. September 2009 – VG 9 K 135.09 V -, juris, und VG Berlin, Urteil vom 1. September 2009 – VG 21 K 126.09 V -, FamRZ 2010, 681, die die ausländische Sorgerechtsentscheidung einer umfassenden inhaltlichen Richtigkeitskontrolle unterziehen).

Nach alledem liegt ein Verstoß gegen den deutschen ordre public erst vor, wenn das Ergebnis in einem so starken Widerspruch zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen steht, dass es nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheint (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1986 - 1 B 20/86 -, juris Rn. 6 ff. = FamRZ 1986, 351; BGH, Beschluss vom 18. September 2001, NJW 2002, 960, 961; BGH, Urteil vom 21. April 1998, BGHZ 138, 331, 334; Bumiller/Harders, Freiwillige Gerichtsbarkeit FamFG, 9. Aufl., § 109 Rn. 9).

Eine offensichtliche Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts kommt sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht in Betracht. Aus verfahrensrechtlichen Gründen kann einer ausländischen Entscheidung die Anerkennung dann zu versagen sein, wenn das Verfahren von den Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maße abweicht, dass nach der deutschen Rechtsordnung nicht mehr von einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren ausgegangen werden kann (vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 1986 - 1 B 20/86 -, juris Rn. 10 m.w.N. = FamRZ 1986, 381). In materiell-rechtlicher Hinsicht ist zu prüfen, ob die Entscheidung in der Sache selbst gegen rechtliche Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung verstößt. Prüfungsmaßstab sind in beiden Fällen vor allem auch die Grundrechte.

Überträgt man dies auf ausländische Sorgerechtsentscheidungen, so kann ein Verstoß gegen den ordre public insbesondere dann gegeben sein, wenn das Ergebnis der ausländischen Sorgerechtsentscheidung mit den Grundwerten des deutschen Kindschaftsrechts offensichtlich unvereinbar ist. Hierzu zählt vor allem das Wohl des Kindes, dessen Beachtung einen wesentlichen und unverzichtbaren Grundsatz des deutschen Familien- und Kindschaftsrechts bei allen Entscheidungen über das Sorgerecht darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. September 2006 – 2 BvR 2216/05 -, juris Rn. 15; BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2010 - 1 BvR 374/09 – NJW 2010, 2333 ff.; s. z.B. auch §§ 1626 Abs. 3, 1666, 1696 Abs. 1, 1697 a BGB).

Insoweit handelt es sich im Übrigen nicht nur um einen wesentlichen Grundsatz der deutschen Rechtsordnung, sondern zugleich um ein im Völkervertragsrecht verankertes Prinzip. So gingen z.B. die Konventionsstaaten des ESÜ davon aus, dass ein Anerkennungshindernis im Sinne von Art. 10 Abs. 1 a) ESÜ vor allem dann angenommen werden kann, wenn die Sorgerechtsentscheidung das Wohl des Kindes offensichtlich verletzt (vgl. Erläuternder Bericht zum Europäischen Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses, BT-Drs. 11/5314, S. 65 Rn. 47). Schließlich ist die Berücksichtigung des Kindeswohls im Aufenthaltsrecht auch gemeinschaftsrechtlich geboten. Die Regelungen zum Kindernachzug in Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl L 251/12) stellen ausdrücklich und maßgeblich hierauf ab (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006 - Rs. C-540/03 - NVwZ 2006, 1033).

Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs bedeutet es entgegen der Ansicht der Beklagten für sich genommen noch keinen Verstoß gegen den Vorbehalt des ordre public, wenn nach türkischem Recht eine Sorgerechtsübertragung auf den mit der Kindesmutter nicht verheirateten Vater gar nicht möglich sein sollte. Es kommt nicht darauf an, ob das Amtsgericht B... das türkische Recht zutreffend angewandt hat, sondern allein auf die Unangemessenheit des Ergebnisses der Entscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles (vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 20. Juli 2010 – 29 K 154.10 V -, juris Rn. 18). Soweit die Beklagte die Vorgehensweise des türkischen Gerichts als Indiz für eine fehlende Kindeswohlprüfung ansieht, lässt sich damit eine Ausnahme von der grundsätzlich bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Anerkennung türkischer Sorgerechtsentscheidungen nicht begründen.

Abgesehen davon könnte man, wenn das Sorgerecht nicht auf den Vater übertragen worden wäre und ein Verbleib des Sorgerechts bei der Kindesmutter dem Kindeswohl widerspräche, einen Verstoß gegen den ordre public im Sinne von Art. 16 MSA, Art. 10 Abs. 1 a) ESÜ gerade darin sehen, dass das türkische Recht im Falle lediger Eltern keine Sorgerechtsübertragung auf den Vater kennt. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom 3. Dezember 2009 (NJW 2010, 501 ff.) die Regelungen in §§ 1672 Abs. 1, 1626 a BGB, wonach die Sorgerechtsübertragung auf den von der Mutter getrennt lebenden ledigen Vater deren Zustimmung bedarf, für menschenrechtswidrig gehalten (vgl. jetzt auch BVerfG, Beschluss vom 21. Juli 2010, NJW 2010, 3008 ff.).

Das Ergebnis der türkischen Sorgerechtsentscheidung ist jedoch unter ordre-public-Gesichtspunkten deshalb greifbar unangemessen, weil sie das Wohl des Klägers in einer Art und Weise übergeht, die mit einem tragenden Verfahrensgrundsatz des deutschen Kindschaftsrechts nicht einmal ansatzweise vereinbar ist. Das deutsche Recht sieht in § 159 FamFG (bis zum 31. August 2009 in § 50 b FGG) grundsätzlich eine obligatorische Anhörung des Kindes im gerichtlichen Sorgerechtsverfahren vor. Hierbei handelt es sich um einen Verfahrensgrundsatz mit Verfassungsrang, der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Zivilgerichte der Absicherung des Kindeswohles dient und die Stellung des Kindes als Subjekt im Verfahren, seine Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 GG sowie seinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) schützt (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 1968, BVerfGE 24, 119, 144; BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007, BVerfGK 10, 519, 522 f.; BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1998, BVerfGE 99, 145, 156, 163 f.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 6. Juli 2009, FamRZ 2010, 44). Danach ist es von Verfassungs wegen geboten, den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit dies mit seinem Wohl vereinbar ist (BGH, Beschluss vom 14. Oktober 1992, BGHZ 120, 29, 35).

Im Einzelnen sehen die deutschen Verfahrensvorschriften folgendes vor: Grundsätzlich ist ein Kind, das das 14. Lebensjahr vollendet hat, vor Erlass einer Sorgerechtsentscheidung anzuhören, es sei denn, dass schwerwiegende Gründe gegen eine Anhörung sprechen (§ 159 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 FamFG). Hat das Kind das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet, ist es persönlich anzuhören, wenn die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind, oder wenn eine persönliche Anhörung aus sonstigen Gründen angezeigt ist (§ 159 Abs. 2 FamFG). Auch insoweit kann von der Anhörung nur aus schwerwiegenden Gründen abgesehen werden (§ 159 Abs. 3 FamFG). Unterbleibt die Anhörung nur wegen Gefahr im Verzug, so ist sie unverzüglich nachzuholen (§ 159 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Die besondere Bedeutung der Anhörung manifestiert sich schließlich auch darin, dass die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung bei gebotener Tatsachenermittlung eine persönliche Anhörung vor dem beauftragten Richter nicht für ausreichend hält, weil sich der gesamte Spruchkörper einen entsprechenden Eindruck verschaffen müsse (BGH, Beschluss vom 28. April 2010, FamRZ 2010, 1060, 1064). Entsprechendes galt nach § 50 b FGG.

Nichts anderes ergibt sich für die deutsche Rechtsordnung aus einschlägigen materiell-rechtlichen Vorschriften. Zwar regelt beispielsweise § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB, dass einem Antrag auf Sorgerechtsübertragung bei Zustimmung des anderen Elternteils stattzugeben ist, wenn nicht das Kind, sofern es das 14. Lebensjahr vollendet hat, widerspricht. Diese Vorschrift greift aber nur, wenn den Eltern – anders als hier - das Sorgerecht gemeinsam zusteht. Hinzu kommt, dass auch die Sorgerechtsübertragung bei elterlichem Einvernehmen gemäß § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB unter dem Vorbehalt des § 1671 Abs. 3 BGB steht, wonach das Kindeswohl eine abweichende Entscheidung gebieten kann. Im Übrigen muss das Kind wegen der es selbst betreffenden (Grund-)rechte auch dann im gerichtlichen Verfahren angehört werden, wenn sich die Eltern einig sind (vgl. z.B. OLG Rostock, Beschluss vom 9. Dezember 2005, FamRZ 2007, 1835; OLG Oldenburg, Beschluss vom 6. Juli 2009, FamRZ 2010, 44; s. auch Finger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl., § 1671 Rn. 148).

Gemessen daran hat das Amtsgericht B... den nach deutschem Recht erforderlichen verfahrensrechtlichen Mindeststandard, der eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung garantieren soll, nicht einmal im Ansatz eingehalten. Es hat das Sorgerecht von der Mutter auf den Vater des Klägers innerhalb kürzester Zeit – nämlich binnen zwei Werktagen - übertragen, ohne den damals fast vierzehnjährigen Kläger persönlich anzuhören. Es ist auch nicht ersichtlich, dass dessen Anhörung vor einer anderen sachkundigen zuständigen Stelle erfolgt ist oder ausnahmsweise (z.B. im Hinblick auf sein geringes Alter) entbehrlich gewesen wäre. Ganz im Gegenteil erscheint hier – unter Berücksichtigung von § 50 b FGG bzw. § 159 FamFG - eine persönliche Anhörung geradezu unabdingbar, weil der fast vierzehnjährige Kläger, der zuvor stets mit seiner Mutter und den Geschwistern in seiner Heimat gelebt hatte und dort erzogen und geprägt worden war, nun ohne die restliche Kernfamilie in ein fremdes Land zu dem ihm weniger bekannten Vater übersiedeln sollte, der wiederum die türkische Heimat bereits vier Jahre nach der Geburt des Klägers (1998) verlassen hatte. Statt des Klägers waren bei der gerichtlichen Anhörung nur die Mutter und der Großvater mütterlicherseits persönlich anwesend. Deren Aussagen, wonach dem Kläger bei seinem Vater im Bundesgebiet eine – vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht - bessere Zukunft geboten werden könne, wurden der Sorgerechtsentscheidung unbesehen zugrunde gelegt.

Anders als der Kläger meint, wird seine fehlende Anhörung nicht durch seine Äußerungen gegenüber Mitarbeitern der Botschaft der Beklagten in Ankara kompensiert. Abgesehen davon, dass es sich nicht um eine sachkundige Stelle mit entsprechend ausgebildetem Personal handelt, war das Sorgerecht zu diesem Zeitpunkt bereits auf den Vater übertragen. Die Anhörung muss jedoch, wenn sie die Rechte des Kindes wahren soll, vor einer Entscheidung über das Sorgerecht stattfinden. Aus demselben Grund reicht auch die nachträgliche Befragung des Kindes durch das Verwaltungsgericht im Visumsverfahren nicht aus (a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005 – OVG 7 B 24.05 -, juris, Rn. 29).

Da bereits der gravierende Verstoß gegen den deutschen verfahrensrechtlichen ordre public zu einem Anerkennungshindernis führt, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Entscheidung des Amtsgerichts B... in materiell-rechtlicher Hinsicht mit dem Kindeswohl vereinbar sein kann. Anders läge es nur dann, wenn das türkische Gericht den Kläger angehört und anschließend dem Vater das Sorgerecht mit derselben Begründung wie in der Entscheidung vom 3. März 2008 übertragen hätte. In einem solchen Fall mag die Entscheidung zwar inhaltlich zweifelhaft sein, darin läge aber noch kein Verstoß gegen den (deutschen) ordre public (vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 3. Juni 1998 – 10 CS 98.1074 -, juris; VGH Mannheim, Beschluss vom 14. Juni 1996, NJW 1997, 270 – Übertragung des Sorgerechts aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht unhaltbar).

Dass die Anhörung des Kindes nicht nur im deutschen Sorgerechtsverfahren eine elementare Verfahrensgarantie darstellt, deren Nichteinhaltung ein Anerkennungshindernis begründet, zeigen auch weitere völkerrechtliche bzw. gemeinschaftsrechtliche Regelungen. So normiert die – allerdings nur EU-Mitgliedstaaten (bis auf Dänemark) bindende - Verordnung (EG) Nr. 201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338/1 vom 23. Dezember 2003) - so genannte Brüssel-II-a-VO - in ihrem Art. 23 b), dass die Entscheidung über die elterliche Verantwortung nicht anerkannt wird, wenn sie - ausgenommen in dringenden Fällen - ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden. Wie sich aus Erwägungsgrund 19 der Verordnung ergibt, soll die Anhörung allerdings nicht zum Ziel haben, die diesbezüglich geltenden nationalen Verfahren zur ändern. Damit würde wohl auch eine Anhörung vor einer Verwaltungsbehörde oder einer sonstigen kompetenten Stelle ausreichen.

Eine fast wortgleiche Regelung wie die Brüssel-II-a-VO enthält Art. 23 Abs. 2b) des Haager Übereinkommens vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutze von Kindern (HÜK). Das HÜK, das das MSA ablösen soll, ist von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet und nach Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG als Gesetz verabschiedet (BGBl 2009 II S. 602), allerdings noch nicht ratifiziert worden. Wie der erläuternde Bericht zu dem Übereinkommen verdeutlicht, beruht der Versagungsgrund mangelnder Anhörung des Kindes auf Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes. Danach wird dem Kind entsprechend seinem Alter und seiner Reife insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen es berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder durch eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden. Der erläuternde Bericht stellt zutreffend fest, dass es sich der Sache nach um eine Spezialvorschrift des verfahrensrechtlichen ordre public handelt (BT-Drs. 16/12068, S. 62 Rn. 123).

2. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums nach § 32 Abs. 4 AufenthG bzw. nach § 20 Abs. 4 AuslG, § 104 Abs. 3 AufenthG zu. Danach kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es aufgrund der Umstände des Einzelfalles zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist (§ 20 Abs. 4 Nr. 2 AuslG, § 32 Abs. 4 AufenthG) bzw. wenn das Kind die deutsche Sprache beherrscht oder gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (§ 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG). Die Annahme einer besonderen Härte ist vor allem dann gerechtfertigt, wenn sich die Lebensumstände des Kindes nach der Ausreise der Eltern oder des Elternteils geändert haben, ohne dass dies zuvor absehbar war. Von Bedeutung ist ferner, ob nur der im Bundesgebiet wohnende Elternteil zur Betreuung des Kindes in der Lage ist (BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 1994 - 1 B 181.93 -, juris Rn. 3; BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 1996 - 1 B 180.96 -, juris Rn. 5).

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes stellt es für den Kläger keine besondere Härte dar, wenn seine Mutter ihn – wie seit der Ausreise seines Vaters – weiterhin zusammen mit seinen beiden jüngeren Geschwistern in der Türkei betreut. Der Umstand, dass der Vater des Klägers über umfangreichere finanzielle Mittel verfügt als die Mutter und dass der Besuch einer weiterführenden Schule in der Türkei aus der Sicht des Klägers mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, begründet noch keine besondere Härte. Es handelt sich um Lebensumstände, deren Entwicklung seit der Ausreise des Vaters absehbar war und denen der Vater des Klägers im Übrigen ggf. durch finanzielle Zuwendungen begegnen kann. Ebenso wenig ist ersichtlich oder nachgewiesen, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG erfüllt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, sind die Kosten der Beklagten aufzuerlegen. Sie hat die nach § 104 Abs. 3 AufenthG, § 20 Abs. 3 AuslG gebotene Ermessensentscheidung bislang nicht getroffen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision ist zuzulassen, weil der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 VwGO zukommt.