Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Impfschaden - Masern - Hirnschädigung - Ursache

Impfschaden - Masern - Hirnschädigung - Ursache


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 29.10.2014
Aktenzeichen L 13 VJ 11/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 48 SGB 10, § 60 IfSG

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin wird zurückgewiesen, soweit das Verfahren nicht abgetrennt ist.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die im … 1987 geborene Klägerin begehrt wegen der Folgen einer Masern-Schutzimpfung einen Anspruch auf Versorgungsleistungen.

Die Klägerin, die zuvor sowohl gegen Poliomyelitis als auch gegen Masern geimpft worden war, erhielt am 10. Januar 1989 eine Auffrischungsimpfung mit Lebendviren gegen Poliomyelitis und am 17. Januar 1989 eine Boosterung gegen Masern. Beide Impfungen wurden durch die Krippenärztin vorgenommen, die für die Kinderkrippe der Klägerin zuständig war.

In der Zeit vom 13. Februar 1989 bis zum 21. Februar 1989 war die Klägerin wegen einer Mittelohrentzündung erkrankt und besuchte die Kinderkrippe nicht. Am 24. Februar trat bei der Klägerin starkes Erbrechen auf, sodass sie von ihrer Mutter aus der Kinderkrippe abgeholt werden musste. Am Folgetag erfolgte die stationäre Krankenhausaufnahme. Dabei wurde eine Enzephalitis festgestellt. Als Folge dieser Enzephalitis erlitt die Klägerin einen schweren Hirnschaden, der inzwischen zur Zuerkennung eines Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch/ Neuntes Buch (SGB IX) geführt hat.

Am 14. November 1989 erkannte die Bezirks-Hygieneinspektion des Rates des Bezirkes Schwerin für die Klägerin einen Schaden im Sinne der Zweiten Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen aufgrund der am 17. Januar 1989 durchgeführten Masern– Zweitimpfung an. Der Kausalzusammenhang zwischen der Impfung und der am 24. Februar 1989 beginnenden Enzephalitis und des sich daraus entwickelnden postencephalitischen apallischenen Syndroms sei mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Am 9. März 1990 erstattete Obermedizinalrat Prof. Dr. Dr. eine gutachterliche Stellungnahme, in der er – vor allem gestützt auf eine Literaturrecherche – den Kausalzusammenhang verneinte. Daraufhin hob der Rat des Bezirkes Schwerin am 14. Mai 1990 die Entscheidung vom 14. November 1989 auf. Das Gesundheitsministerium der DDR bestätigte dies am 27. Juni 1990.

Am 10. März 1992 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten eine Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz. Mit Bescheid vom 9. Dezember 1993 lehnte der Beklagte eine solche Versorgung, bezogen auf die Masernschutzimpfung, mit der Begründung ab, der Kausalzusammenhang sei nicht wahrscheinlich. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 1995 – bezogen auf eine Versorgung nach beiden Impfungen – zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde bestandskräftig.

Den am 18. Juni 2004 gestellten Überprüfungsantrag der Klägerin lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2006 mit der Begründung ab, der Kausalzusammenhang zwischen den Impfungen und der eingetretenen Enzephalitis sei nicht wahrscheinlich.

Die hiergegen fristgemäß erhobene Klage hat das Sozialgericht Neuruppin mit Urteil vom 19. Dezember 2009 abgewiesen: Ein Kausalzusammenhang sei weder zwischen der Poliomyelitisimpfung und der Enzephalitis noch zwischen der Masernimpfung und der Enzephalitis wahrscheinlich. Maßgebend seien die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit. Diese verlangten hinsichtlich der Masern- Boosterung ein Auftreten der Enzephalitis im Zeitraum von 7-14 Tagen nach der Impfung, im Falle der Klägerin sei jedoch ein Abstand von 53 Tagen gegeben. Hinsichtlich der Poliomyelitisimpfung sei ein ursächlicher Zusammenhang dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und dem 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen worden sei. Auch diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

Gegen dieses ihr am 22. Februar 2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 5. März 2010 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 13. Januar 2011 hat der Senat das Verfahren, soweit es die Folgen der Polio-Impfung betraf, im Einverständnis der Beteiligten abgetrennt und das abgetrennte Verfahren zum Ruhen gebracht. Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am 24. Februar 2013 der Virologe Dr. ein Sachverständigengutachten erstattet. Darin hat er die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Masern-Impfung der Klägerin und der Enzephalitis verneint. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 01. April 2014 hat er hieran festgehalten.

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 19. Dezember 2009 zu ändern sowie

1. den Bescheid des Beklagten vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2006 aufzuheben und den Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 9. Dezember 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1995 zurückzunehmen,

2. festzustellen, dass der Hirnschaden mit Störungen des Bewegungsvermögens und der geistigen Entwicklung sowie Anfallsleiden Folge der Masernschutzimpfung vom 17. Januar 1989 ist.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2006 nicht zu, gleichfalls konnte zugunsten der Klägerin auch nicht festgestellt werden, dass der Hirnschaden mit Störungen des Bewegungsvermögens und der geistigen Entwicklung sowie Anfallsleiden Folge der Masernschutzimpfung vom 17. Januar 1989 ist.

Die Klägerin stützt ihren geltend gemachten Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Aufhebung des Bescheides vom 9. Dezember 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1995 auf die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X). Hiernach gilt: Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese Voraussetzungen haben sich im vorliegenden Verfahren zugunsten der Klägerin nicht nachweisen lassen. Es hat sich nicht feststellen lassen, dass der Beklagte bei Erlass der vorgenannten Bescheide aus den Jahren 1993 und 1995 das Recht unrichtig angewandt oder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, es hat sich insbesondere nicht erweisen lassen, dass der bei der Klägerin bestehende Hirnschaden im Rechtssinne Folge der Masernschutzimpfung vom 17. Januar 1989 ist.

Zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide aus dem Jahre 1993 und 1995 wurden die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche durch § 51 Abs. 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) geregelt; mit Wirkung vom 1. Januar 2001 wurde diese Vorschrift durch § 60 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) abgelöst, die jedoch weitgehend wortlautgleich zur vorrangegangenen Vorschrift des § 51 Abs. 1 BSeuchG ist (hierzu im Einzelnen Bundessozialgericht, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VJ 1/10 R, zitiert nach juris, Randnummer 35). Hiernach werden durch das Gesetz für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen verlangt. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG – unter anderem z. B. öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde – erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine – dauerhafte – gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (im Einzelnen hierzu: BSG a. a. O., juris, Randnummer 36).

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Allein Ursächlichkeit nicht erforderlich ist (BSG a. a. O., juris, Randnummer 37).

Dabei sind die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – im sogenannten Vollbeweis – festzustellen, während allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge das Beweismaß der Wahrscheinlichkeit ausreicht (BSG a. a. O., juris, Randnummer 38). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

Vorliegend steht für den Senat zweifelsfrei fest, dass die Klägerin am 17. Januar 1989 mit Lebendviren gegen Masern geimpft wurde, dass es danach zu einer Primärschädigung in Gestalt einer Hirnhautentzündung kam und dass schließlich als Folge der Hirnhautentzündung ein Hirnschaden entstanden ist. Die Tatsache, dass hier Lebendviren verwendet wurden, ist zur Überzeugung des Senats durch die gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen Dr., insbesondere auch in seiner Rückäußerung vom 1. April 2014, erwiesen. Hier hat der Sachverständige nochmals ausdrücklich ausgeführt, dass als Impfstoffe gegen Masern seit den 1960er Jahren bis heute weltweit sogenannte Lebendimpfstoffe, d. h. abgeschwächte Masernviren verwendet wurden. Masern-Tod-Impfstoffe wurden nur in den 1960er und 1970er Jahren verwendet. Ihre Verwendung wurde jedoch in den 1970er Jahren aufgrund von nicht zufriedenstellender Effektivität und aufgrund von unerwünschten Nebenwirkungen eingestellt. Dass in der DDR im Rahmen der Masern-Impfkampagne Lebendimpfstoffe eingesetzt wurden, ist in der wissenschaftlichen Literatur dokumentiert und durch den Sachverständigen bestätigt worden.

Indessen hat sich der Kausalzusammenhang zwischen der Impfung mit Lebendviren einerseits und der späteren Hirnhautentzündung der Klägerin andererseits nicht wahrscheinlich machen. Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) anzuwenden und zu berücksichtigen (BSG a. a. O., juris, Randnummer 39). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts handelt es sich bei dem schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium erarbeiteten und ständig weiter entwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sogenannte antizipierte Sachverständigengutachten. Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm („normähnlich“). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar. Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln (BSG a. a. O., juris, Randnummer 39).

Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nummern 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilungen bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr. 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr. 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

Die AHP 1983 haben unter Nr. 57 zu 3.a betreffend die Masern-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff folgenden Wortlaut:

Übliche Impfreaktionen:

ab 7. Tag gelegentlich das Bild der Impfmasern (milde Imitation der Krankheit), ohne Infektionsgefährdung der Umgebung bis zu drei Tagen anhaltend.

Impfschäden:

Sehr selten Beteiligung des ZNS.

Die AHP 1996, 2004 und 2005 haben an derselben Stelle folgenden Wortlaut:

Übliche Impfreaktion:

ab 7. Tag gelegentlich das Bild der Impfmasern (milde Imitation der Krankheit), ohne Infektionsgefährdung der Umgebung, bis zu drei Tagen anhaltend.

Impfschäden:

akut entzündliche Erkrankungen des ZNS bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 7 bis 14 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Wenn Krampfanfälle innerhalb der ersten postvakzinalen Woche auftreten, können diese in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung stehen, da in diesem Zeitraum das Impfvirus noch zu keiner Virämie geführt hat. Sehr selten akute thrombozytopenische Purpura ohne Spätfolgen.

Nach diesen vorstehenden Kriterien kommt eine Kausalität der Impfung am 17. Januar 1989 für die spätere Hirnhautentzündung der Klägerin nicht in Betracht, weil diese spätere Entzündung erst am 38. Tag nach der Impfung und damit weit außerhalb des durch die AHP vorgenannten Zeitrahmens stattfand.

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen bei Schutzimpfungen in Nr. 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des ärztlichen Sachverständigenbeirats „Versorgungsmedizin“ beim Bundesministerium gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (vgl. BSG a. a. O., juris, Randnummer 40).

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinaus gehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Die versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr. 11 IFSG und Nr. 56 Abs. 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kann-Versorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IFSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr. 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

Die seit dem 1. Januar 2009 an die Stelle der AHP getretene Versorgungsmedizinverordnung (VersmedV) ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG a. a. O., juris, Randnummer 41). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersmedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte Fassung AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen. Hiernach hat der Senat zunächst das Epidemiologische Bulletin Nr. 25/2007 vom 22. Juni 2007 herangezogen, in dem die STIKO unter Nr. 19 (Seite 219 ff) die Lokal- und Allgemeinreaktionen und die Komplikationen sowie Krankheiten/Krankheitserscheinungen im ungeklärten ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung im Einzelnen ausgeführt hat. Im Hinblick auf die Komplikationen heißt es hierzu wörtlich:

Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind selten einmal auch zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Allergische Reaktionen (meist auch im Impfstoff enthaltene Begleitstoffe wie Gelatine oder Antibiotika) sind sehr selten; über allergische Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurde nur in Einzelfällen berichtet.

Eine Allergie gegen Hühnereiweiß ist grundsätzlich keine Gegenanzeige gegen die Impfung, da heutige auf Hühnerfibroblasten hergestellte Impfstoffe keinerlei Ovalbumien bzw. nur noch eine kaum mehr nachweisbare und damit nicht signifikante Menge Ovalbumien enthalten.

Nach Masern-Erkrankung ist die Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis (Krämpfe, Herdsymptome, Halbseitenlähmung) bei schwer Immundefizienten nicht selten. Nach Masern-Impfung sind in der Weltliteratur nur wenige Fälle beschrieben, darunter 1998 die Erkrankung eines Kindes im zeitlichen Zusammenhang mit einer Masern-Mumps-Röteln-Impfung, bei dem durch Hirnbiopsie Masern-RNA nachgewiesen wurde; die Sequenzierung gestattete die Identifikation als Impfvirus. Die Komplikation tritt fünf Wochen nach acht Monate nach der Impfung bei schwer immunsupprimierten Individuen auf und verläuft meist tödlich.

Der Senat hat unter Zugrundelegung dieser Formulierungen der STIKO durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Virologen Dr. Weißbrich weiter abgeklärt, ob die bei der Klägerin aufgetretene Hirnhautentzündung im Sinne der vorgenannten Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis abgelaufen sein könnte. Dies ist indessen nach der durchgeführten Beweisaufnahme als sehr wenig wahrscheinlich einzustufen. Wie der Sachverständige im Einzelnen ausgeführt hat, handelte es sich bei dem von der STIKO zitierten Fall um die Erkrankung eines damals 21 Monate alten Jungen, der nach einer Masern-Schutzimpfung an einer Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis erkrankte und schließlich verstarb. Bei der Obduktion wurde die Ursachenbeziehung zwischen den Impfviren und der Erkrankung sowie dem Tod des Kindes nachgewiesen; gleichzeitig wurde aber auch festgestellt, dass das Kind an einer Immunschwächeerkrankung litt, die in diesem Falle das Auftreten der Folgeerkrankung erst ermöglicht hat. Eine vergleichbare Immunschwächeerkrankung konnte der Sachverständige indessen bei der Klägerin nicht feststellen, dies lässt zugleich den Ursachenzusammenhang als sehr wenig wahrscheinlich erscheinen.

Ebenso wenig ist der Kausalzusammenhang im Hinblick auf andere mögliche Verlaufsformen der Masern-Infektion gegeben. So hat der Sachverständige ausgeführt, dass im Zusammenhang mit Masern-Wildtypvirus-Infektionen drei verschiedene Formen von Gehirnentzündungen auftreten, nämlich die akute postinfektiöse Masernvirus-Enzephalitis (APME) die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) sowie die Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis (MIBE). Die MIBE scheide aus, weil – wie bereits ausgeführt – die Klägerin nicht an einer schweren Immunsuppression gelitten habe. Aber auch die Voraussetzungen der APME und der SSPE seien nicht wahrscheinlich. Die APME trete innerhalb weniger Tage nach einer akuten Masern-Erkrankung auf, im Schnitt ca. fünf Tage und bis zu drei Wochen nach Beginn des Masern-Ausschlags. Ob es durch Masern-Impfungen zu einer der APME entsprechenden postvakzidalen Enzephalitis kommen könne, sei nicht vollständig geklärt, auf jeden Fall sei das Impfrisiko aber extrem gering. Außerdem habe es sich bei der Klägerin um eine Zweitimpfung gehandelt, bei der das Impfrisiko noch deutlich niedriger anzusetzen sei. Auch sei der zeitliche Abstand zwischen der Impfung und dem Auftreten der Erkrankung zu groß. Im Hinblick auf die SSPE bestehe nach aktuellem Kenntnisstand kein Zusammenhang zwischen einer Masern-Impfung und dem Auftreten der SSPE.

Schließlich hat der Senat auch geprüft, ob im Falle der Klägerin die Voraussetzungen der sogenannten „Kannversorgung“ gegeben sind. Diese sogenannte „Kannversorgung“ war in den AHP unter Nr. 39 geregelt und wurde nach Inkrafttreten der VersmedV und Teil C 4. der versorgungsmedizinischen Grundsätze fortgeführt. Nach C 4.bb setzt die sogenannte „Kannversorgung“ u. a. voraus, dass wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können. Ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände muss in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen werden.

Zur Klärung dieser Voraussetzungen hat der Senat wiederum auf die STIKO-Empfehlungen Nr. 19 Seite 220 bezogen auf die dort genannten Krankheiten/Krankheitserscheinungen im ungeklärten ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung zurückgegriffen. Hiernach ist die Komplikation „akute Enzephalitis“ nach natürlichen Masern unbestritten, während die Komplikation „akute Enzephalitis/Enzephalopathie“ nach Masern-Impfung noch immer kontrovers diskutiert wird. Die UK National Child Hood Encephalopathie Study fand eine erhöhte Rate von Enzephalopathie oder komplizierten Krämpfen zwischen sieben und 14 Tagen nach der Impfung ohne bleibende Schäden. Eine kürzlich veröffentliche Studie unter Einbeziehung von zwei Millionen Kindern in den USA fand kein erhöhtes Enzephalopathie-Risiko nach Masern-Mumps-Röteln-Impfung in einer umfassenden Analyse des bis 1994 vorliegenden Schrifttums sei durch die amerikanische Akademie der Wissenschaften festgestellt worden, dass die vorliegenden Daten weder die Anerkennung eines ursächlichen Zusammenhangs noch dessen Ausschluss zuließen.

Hieraus wird zugleich deutlich, dass der medizinisch-wissenschaftliche Streit nur darüber geführt wird, ob die Masern-Schutzimpfung in den ersten sieben bis 14 Tagen nach der Impfung zu Krankheitserscheinungen führt, oder ob insgesamt kein Zusammenhang zwischen Impfung und Krankheitserscheinungen besteht. Aus den vorliegenden Unterlagen, die in gleicher Weise im Hinblick auf den aktuellen Stand der Wissenschaft durch das Sachverständigengutachten bestätigt worden sind, ergeben sich keinerlei Hinweise darauf, dass in der medizinischen Wissenschaft – abgesehen von dem bereits zitierten Sonderfall der schweren Immunschwächekrankheit – ein Streit darüber besteht, ob mit erheblichem zeitlichem Abstand zur Masern-Schutzimpfung eine Hirnhautentzündung durch die Masern-Schutzimpfung hervorgerufen werden kann. Ein solcher Streit ist durch die Sachverhaltsaufklärung des Senats auch unter Berücksichtigung des Sachverständigengutachtens gerade nicht erweislich gewesen.

An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts dadurch, dass nach den vorgenannten Studien letztlich der Zusammenhang zwischen einer Masern-Schutzimpfung einerseits und einer Erkrankung des zentralen Nervensystems andererseits für möglich erachtet wird. Der Senat hält es nicht für ausgeschlossen, dass die Erkrankung der Klägerin auf die Impfung zurückzuführen sein könnte. Diese Feststellung ist jedoch keineswegs mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu treffen, sondern ist nach dem Gesamtergebnis der Sachverhaltsaufklärung als sehr wenig wahrscheinlich zu beurteilen. Sie kann nicht die Grundlage für die Feststellung eines Kausalzusammenhangs und für eine darauf beruhende Versorgung der Klägerin darstellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.