Gericht | VG Cottbus 2. Kammer | Entscheidungsdatum | 21.08.2020 | |
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Aktenzeichen | 2 K 1561/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2020:0821.2K1561.16.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG, § 3 AsylVfG 1992, Art 3 MRK, § 4 AsylVfG 1992 |
Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 4, Nr. 5 und Nr. 6 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2016 zum Geschäftszeichen 6... verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des sich aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss ergebenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der am 1. Januar 1991 in Herat/Afghanistan geborene Kläger, tadschikischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 2. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 3. Dezember 2015 einen Asylantrag. Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 22. August 2016 trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er aus Angst vor den Feinden seines verstorbenen Vaters Afghanistan verlassen habe. Sein Vater sei den Märtyrertod gestorben als er, der Kläger, ungefähr ein Jahr alt gewesen sei. Der Feind seines Vaters heiße A..., sei ein einflussreicher großer Glücksspieler der in Gozara/Herat lebe und eine Bande besitze. Er habe Angst vor den Feinden seines Vaters. Diese könnten Personen beauftragen, die ihn und seine Familie suchen würden, um die Feindschaft fortzusetzen. Außerdem müssten diese Personen auch Angst haben, dass seine Familie Rache an den Feinden des Vaters nehmen würden und deren Kindern etwas antun könnten. Sie seien deshalb schon zu Taliban Zeiten in den Iran ausgereist. Das genaue Datum könne er nicht sagen. Einige Zeit später seien sie wieder nach Afghanistan zurückgekehrt; hätten dort aber aufgrund der Feindschaft nicht weiter leben können. Sie seien ungefähr im Jahr 2002/2003 nach Afghanistan zurückgekehrt und ungefähr 2005/2006 erneut ausgereist. Bis zu ihrer Ausreise hätten sie sich in Gozaza/Herat aufgehalten. Dann seien sie wieder in den Iran zurückgekehrt, weil sie von alten Bekannten erfahren hätten, dass die Feinde seines Vaters auf der Suche nach Ihnen seien, um sie zu verschleppen. Die Regierung habe nicht helfen können, da diese Leute der Polizei Geld gegeben hätten. Er habe deshalb mit zwei Brüdern illegal das Land verlassen müssen. Seine Mutter sei noch eine Weile geblieben. Er selbst sei nur etwa ein Jahr in Afghanistan gewesen; seine Mutter noch ca. zwei bis zweieinhalb Jahre. Seine Mutter habe nicht ausreisen können, weil seine Schwestern noch sehr jung gewesen seien, sodass eine illegale Ausreise nicht infrage gekommen wäre. Im Iran hätten sie in der Stadt Karaj gelebt. Sie seien nicht erneut nach Afghanistan zurückgekehrt. Nach Kabul hätten sie nicht umziehen können, weil Kabul nicht weit entfernt sei und es sich bei den Feinden seines Vaters um einflussreiche Menschen handele, die ihn und seine Familie in Kabul finden würden. Er sei verlobt gewesen. Fälschlicherweise sei zunächst verheiratet aufgenommen worden. Diese Verlobung sei mittlerweile annulliert worden. Er habe im Iran tagsüber als Bauarbeiter (Gipser) gearbeitet und sei abends zur Schule gegangen, um Lesen und Schreiben zu lernen. Die Schule habe er bis zur 3. Klasse besucht. Im Iran habe er nicht zur Schule gehen dürfen. Man habe dort auch keine vernünftigen Dokumente bekommen. Alle 2-3 Monate sei eine Duldung ausgestellt worden. Manchmal seien diese Dokumente verlängert worden, manchmal nicht. Die Ausreise habe für ihn und seine verheiratete Schwester, mit der er gemeinsam gereist sei, 7.500 € gekostet. Die Reise habe er von seinen erarbeiteten Ersparnissen finanziert.
Eine Schwester (ca. 28 Jahre) lebe in H..., eine andere Schwester (ca. 26 Jahre) in R.... Er habe zwei Brüder (ca. 31 und 33/34 Jahre), die im Iran seien. Des Weiteren habe er Onkel und Tanten in Afghanistan, die in Herat leben würden. Die wirtschaftliche Lage vor seiner Ausreise sei durchschnittlich gewesen
Mit Bescheid vom 25 August 2016 lehnte die Beklagte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie den subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) nicht zu. Auch das Vorliegen von Abschiebungsverboten wurde nicht festgestellt (Nr. 4). Der Kläger wurde zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids aufgefordert; bei Nichteinhaltung der ihm gesetzten Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Der Kläger sei kein Flüchtling. Er sei nie persönlich von den Feinden seines Vaters bedroht worden. Ihm sei es im Übrigen möglich, in Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif Schutz vor der eventuell bestehenden Bedrohung durch die Feinde seines Vaters zu suchen. Dort habe er auch die Möglichkeit, sich an die afghanische Polizei zu wenden, sollte es dort erstmals zu Bedrohungen oder Verfolgung kommen. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Es seien keinerlei Anhaltspunkte erkennbar, welche die Annahme rechtfertigen würden, dass dem Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden drohe. Abschiebungsschutz käme ebenfalls nicht in Betracht, weil die individuell vorgetragenen Gründe nicht über das Maß dessen hinausgingen, was alle Bewohner in Afghanistan, die in vergleichbaren Situationen leben, hinzunehmen hätten. Der Kläger sei erwerbsfähig. Ihm sei es bis zu seiner Ausreise gelungen, sich eine Lebensgrundlage zu schaffen. Es bestehe deshalb keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht imstande sein würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan sich eine zumindest existenzsichernde Grundlage z.B. durch Gelegenheitsarbeiten, das Sammeln und den Verkauf von Wertstoffen oder durch das soziale System im Heimatland zu schaffen. Es sei nicht erkennbar, dass der Kläger bei Rückkehr einer extremen allgemeinen Gefahr ausgesetzt sei, weil er untypisch von Hilfe und Unterstützung durch im Herkunftsland verbliebene oder sich im Ausland befindliche Verwandte ausgeschlossen sein würde.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 7. September 2016 Klage erhoben, ohne diese zu begründen.
In der mündlichen Verhandlung ist eine informatorische Anhörung des Klägers erfolgt, in der er im Wesentlichen denselben Sachverhalt schilderte, wie schon bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt. Insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des am 31.08.2016 zugestellten Bescheides vom 25.08.2016 (Az.: 6...) zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zu erkennen,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung des am 31.08.2016 zugestellten Bescheides vom 25.08.2016 (Az.: 6...) zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zu zuerkennen,
weiter hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung des am 31.08.2016 zugestellten Bescheides vom 25.08.2016 (Az.: 6...) zu verpflichten, das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 Aufenthaltsgesetz festzustellen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Klage aus den Gründen des streitgegenständlichen Bescheids entgegengetreten.
Mit Beschluss vom 7. Oktober 2016 hat die Kammer im erklärten Einverständnis der Beteiligten das Verfahren auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, die auch die Erkenntnismittel enthält, sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und das rechtskräftig abgeschlossene verwaltungsgerichtliche Verfahren der Mutter des Klägers (VG 2 K 1664/16.A) sowie die beigezogene Ausländerakte des Klägers Bezug genommen. Alle zuvor genannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Die Entscheidung konnte durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin ergehen, weil die Kammer mit Beschluss vom 7. Oktober 2016 gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen hat.
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Prozessbevollmächtigten des Klägers und einer Vertreterin der Beklagten aufgrund der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil der Prozessbevollmächtigte des Klägers sowie die Beklagte mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind, § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet und im Übrigen unbegründet.
Soweit die Klage unbegründet ist, ist der angegriffene Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO.
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 3 AsylG sowie des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Es wird hierfür in vollem Umfang auf die Gründe des angefochtenen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend gilt Folgendes:
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen im Fall des Klägers nicht vor.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3 c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3 c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3 c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3 e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Gemessen an diesen Maßstäben konnte der Kläger eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft machen. Eine asylrechtlich relevante Vorverfolgung i.S.d. §§ 3, 3b AsylG ist für den Kläger nicht festzustellen. Er beruft sich auf die vermutete Verfolgung durch die Feinde seines Vaters. Ferner hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 21. August 2020 eine undatierte Bescheinigung, Zeugenbericht vorgelegt in einer beglaubigte Übersetzung vom 12. August 2020 (überstempelt mit 21. August 2020), mit folgendem Wortlaut: „M..., Sohn von G..., Bewohner der Stadt Herat, Stadtteil Gozareh hat aufgrund der Drohungen durch die bewaffneten Staatsgegner (Opposition) das Land und verlassen und nach Deutschland ausgewandert. Als Dorfälteste bestätigen wir (hiermit) die Drohungen der Opposition gegen M... und bitten die Bundesregierung Deutschland um ihre Unterstützung in seiner Asylangelegenheiten“.
Weder aus dem Vortrag des Klägers noch aus dieser Bescheinigung, Zeugenbericht ergibt sich ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal im Sinne des § 3b AsylG. Es ist nicht ersichtlich, selbst wenn man eine Bedrohung durch die Feinde seines Vaters unterstellen würde, dass sie ihn aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bedrohen oder verfolgen oder ihm ein solches Merkmal nach § 3b Abs. 2 AsylG zuschreiben würden. Außerdem spricht nichts dafür, dass die vorgetragene Bedrohung durch die Feinde seines Vaters ihn zur Flucht nach Deutschland bewogen haben könnten. Der Kläger ist nach seinen eigenen Angaben aufgrund der angenommenen Bedrohungslage durch die Feinde seines Vaters, schon 2003/2004 gemeinsam mit seinen zwei älteren Brüdern illegal in den Iran geflohen und hat dort noch ca. 11 Jahre gelebt und gearbeitet, bevor er 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Der Echtheit und inhaltlichen Richtigkeit des Dokuments, an der angesichts der Auskunftslage (Auswärtiges Amt, Lagebericht von Juni 2020, S. 26) zu afghanischen Dokumenten erhebliche Zweifel bestehen, brauchte das Gericht deshalb nicht mehr nachzugehen.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein.
Der Vortrag des Klägers, er bzw. seine Mutter habe von alten Bekannten bzw. seinem Großcousin erfahren, dass die Feinde seines Vaters auf der Suche nach ihm bzw. seiner Familie seien und er deshalb erneut ca. 2003/2004 in den Iran geflüchtet sei, deutet nicht auf eine landesweite unmittelbare individuelle Gefahr einen ernsthaften Schaden zu erleiden hin, zumal der Kläger sich nach eigenen Angaben schon seit ca. 16 Jahren nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat. Dass ihm dadurch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, ist nicht erkennbar.
Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es für die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU (vgl. dazu näher VGH München, Urteil v. 17. Juli 2018 - 20 B 17.31659, beck-online Rn. 24; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 11. April 2018 - A 11 S 924/17- juris, m. w. N).
Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Absatz 1 S. 2 Nr. 3 AsylG zu. Ihm droht kein ernsthafter Schaden aufgrund einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Provinz Herat, auf die jedenfalls rechtlich abzustellen ist, weil der Kläger aus ihr stammt und sich vor seiner Ausreise nicht in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12, Rn. 13 f. juris), gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019). Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staatendokumentation 13.6.2019). Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger (BFA Staatendokumentation 13.6.2019). Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (AAN 11.1.2017; vgl. RUSI 16.3.2016; SAS 2.11.2018). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt (SAS 2.11.2018). Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt (UNSC 13.6.2019). Auf Seiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 2.1.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 16.12.2018). Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019).
Im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. März 2020 gab es gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) in der Provinz 43 sicherheitsrelevante Vorfälle und 61 Tote. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper, gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020). In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen (KP 16.6.2019; vgl. KP 28.9.2019, KP 29.6.2019, KP 17.6.2019, 21.5.2019). Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte (KP 16.6.2019; vgl. AN 23.6.2019). In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Talibanaufständische und ihre Führer getötet (AN 23.6.2019; vgl. KP 17.12.2018; KP 25.12.2018); vgl. zum Ganzen: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S.104 – 110).
Ausgehend von diesen Zahlen besteht für den Kläger kein relevantes Risiko einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wenn er in seine Heimatsprovinz zurückkehren würde.
Legt man 104 zu beklagende zivile Opfer (61 Tote und 43 Verletzte) in einem Zeitraum von drei Monaten (1. Januar 2020 bis 31. März 2020) für die Provinz Herat zugrunde kommt man für das gesamte Jahr 2020 hochgerechnet auf 416 zivile Opfer bei einer Bevölkerungszahl von ca. 2.095.117 Personen. Für den Kläger besteht danach das Risiko von 1:5.036 einen Schaden zu erleiden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht ist ein Risiko von jedenfalls 1:800 bezüglich eines drohenden Schadens weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 –, Rn. 23, juris). Selbst wenn man aufgrund einer gewissen „Dunkelziffer“ eine Vervielfachung dieser Opferzahlen für die Provinz Herat annehmen würde, läge diese noch weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Halbjahresbericht von UNAMA von Juli 2020. Danach wurden zwischen 1. Januar 2020 und 30. Juni 2020 insgesamt 3.458 Zivilpersonen in Afghanistan getötet (1.282) oder verletzt (2.176). Hochgerechnet auf das Jahr ergäben sich damit 6.916 zivile Opfer, so dass sich – bezogen auf die Bevölkerungszahl Afghanistans von ca. 27 Millionen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes von Juni 2020, S. 17) – ein Risiko von 1:3.904 ergeben würde, landesweit einen Schaden zu erleiden.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar entschieden, dass es neben der quantitativen Ermittlung des Risikos, in der Rückkehrprovinz verletzt oder getötet zu werden, auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung bedarf. Ist allerdings die Höhe des quantitativ festgestellten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens – wie hier – weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, vermöge sich das Unterbleiben einer wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auszuwirken. Zudem sei die wertende Gesamtbetrachtung erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte möglich (BVerwG, Urteile v. 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 - juris Rn. 24; 17. November 2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 23; 27. Oktober 2010 - 10 C 4.09 - juris Rn. 33).
Nach alledem ist es auch bei einer (wertenden) Gesamtbetrachtung aller Umstände in der Provinz Herat nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
Der streitgegenständliche Bescheid ist jedoch insoweit rechtswidrig und aufzuheben, als dass die Beklagte kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) angenommen hat (Nr. 4 des Bescheides) und den Antragsteller aufgefordert hat, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen - ihm andernfalls die Abschiebung nach Afghanistan angedroht hat - (Nr. 5 des Bescheides) und zusätzlich ein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6 des Bescheides) angenommen hat. Insoweit ist dieser Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Für den Kläger besteht in diesem konkreten Einzelfall zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) wegen der zurzeit sich deutlich verschlechternden humanitären Bedingungen durch die Corona Pandemie ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für Afghanistan.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, Urteil v. 21. November 2014 - 13a B 14.30285 juris, VG Regenburg, Urteil v. 27. September 2018 - RN 14 K 17.31619 juris), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf.
Für die Prüfung nach § 60 Abs. 5 AufenthG kommt es – anders als bei der Prüfung der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i. V. m. Art. 3 EMRK, obwohl in der Sache divergierende Bewertungen kaum möglich sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 juris Rn. 36) nicht darauf an, dass die unmenschliche oder erniedrigender Behandlung von einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG ausgeht (vgl. BVerwG, Urteil v. 13. Juni 2013 - 10 C 13/12 juris Rn. 24; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 11. April 2018 - A 11 S 924/17 juris m.w.N). § 60 Abs. 5 AufenthG kennt keine Bezugnahme auf eine dem § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG vergleichbare gesetzliche Regelung.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich, (BVerwG, Urteil v. 31. Januar 2013 - 10 C.15.12 juris; EGMR, Urteil v. 21.Januar 2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; Urteil v. 28. Juni 2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; Urteil v. 13. Oktober 2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952).
Da eine Verletzung des Art. 3 EMRK nur in außergewöhnlichen Fällen angenommen werden kann, ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ein sehr hohes Schädigungsniveau zu fordern (vgl. EGMR, Urteil v. 28. Juni 2011 - 8319/07 und 11449/07 - NVwZ 2012, 681; BVerwG, Urteil v. 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 juris; BayVGH, Urteil v. 21. November 2014 - 13a B 14.30285 juris Rn. 17). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht hat mehrfach entschieden, dass die allgemeine Lage in der Islamischen Republik Afghanistan nicht als so ernst anzusehen sei, dass eine Abschiebung dorthin ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde (vgl. EGMR, Urteile v. 11. Juli 2017 - 46051/13, 41509/12, 77691/11 und 72586/11 - und v. 5. Juli 2016 - 29094/09, v. 12. Januar 2016 - 46856/07, EGMR, Urteil v. 25. Februar 2020 - 68377/17 und 530-18 - [A.S.N. and Others vs. The Netherlands], Rn. 125 ff),).
Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht nur hypothetisch sein (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 03. November 2017 - A 11 S 1704/17 juris Rn. 185 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR). Um eine tatsächliche Gefahr und somit auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es gleichwohl keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (EGMR, Urteil v. 28. Februar 2008 - 37201/06 - [Saadi/Italien], NVwZ 2008, 1330 Rn. 140), so dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent ist. Der eindeutige, über alle Zweifel erhabenen Beweis, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, ist nicht erforderlich (EGMR, Urteil v. 09. Januar 2018 - 36417/16 - [X/Schweden] Rn. 50; vgl. zum Ganzen: VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 12. Dezember 2018 - A 11 S 316/17 juris Rn. 189, 193). Um von dem Schicksal anderer auf das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr für einen Einzelnen, im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein, zu schließen, bedarf es ähnlich wie bei dem Konzept der Gruppenverfolgung, das vom Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG entwickelt worden ist und das auch im internationalen Flüchtlingsrecht in sehr ähnlicher Weise Anwendung findet, einerseits einer Gruppe von Personen, bei denen sich ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bereits feststellen lässt, sowie andererseits der Überzeugung, dass der betroffene Einzelne mit diesen Personen die Merkmale teilt, die für den Eintritt der Umstände, die zu einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung führen, maßgeblich waren (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 12. Dezember 2018 - A 11 S 316/17 juris Rn. 195-199). Bei der Beurteilung, ob schlechte humanitäre Verhältnisse außerordentliche Umstände und damit eine Gefahrenlage im oben genannten Sinne begründen, sind eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigten, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsversorgung, adäquater Unterkunft sowie nicht zuletzt zu finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen. Dabei ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet. Dies ist hier Kabul, da dorthin seit Ende 2016 alle aus Deutschland durchgeführten Abschiebeflüge führten (vgl. VG Freiburg, Urteil v. 19. Mai 2020 - A 8 K 9604/17 juris Rn. 35 ff. m. w. N.).
Dies vorangestellt kann Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung droht. Es darf also für den Betroffenen auch keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative bestehen. Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen gewisse - dem internen Schutz nach § 3 e AsylG ähnliche Voraussetzungen - erfüllt sein. Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Es muss dort ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen möglich sein. Erforderlich ist eine Gesamtschau und eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte.
Anknüpfend hieran ergibt sich durch die derzeitige individuelle Situation des Klägers unter Berücksichtigung der aktuellen landesweiten schon seit längerem bestehenden desolaten Lebensverhältnisse in Afghanistan, die sich durch die weltweit aufgetretene Corona Pandemie nochmals erheblich verstärkt haben sowie seiner familiären Situation, auch in Ansehung der ihm möglicherweise anfänglich zu gewährenden Rückkehrhilfen, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
Das Auswärtige Amt schreibt in seinem jüngsten Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Auswärtiges Amt, Lagebericht von Juni 2020) unter IV. Rückkehrerfragen Folgendes:
„Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg ihrer Rate von 55% aus dem Jahr 2016, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die Covid-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.
Das rapide Bevölkerungswachstum von rd. 2,7 % im Jahr (d. h. Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation) bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebenserwartung ist neben der Sicherheitslage die zentrale Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes. Dieses Wachstum macht es dem afghanischen Staat nahezu unmöglich, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, bereit zu stellen. Auch die Integration der rasant wachsenden Zahl von Arbeitsmarkteinsteigern bildet eine kaum zu bewältigende Herausforderung.
Die wirtschaftliche Entwicklung bleibt geprägt von der schwierigen Sicherheitslage sowie schwacher Investitionstätigkeit. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank Covid-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der Covid-19-Pandemie wieder steigen. Laut ILO lag sie 2017 bei 11,2 %. Dabei ist zu beachten, dass der Anteil formaler Beschäftigungsverhältnisse, ähnlich wie in den benachbarten Staaten Asiens, extrem gering ist.
Die medizinische Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UN-OCHA erwartet, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden.
Dürre, Überschwemmungen oder extremer Kälteeinbruch treten regelmäßig auf. Gerade der Norden – eigentlich die „Kornkammer“ des Landes – ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt. Dürren der vergangenen Jahre haben dazu beigetragen, dass ca. zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren als akut unterernährt gelten.
Die afghanische Regierung hat 2017 mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Erste Landstücke wurden identifiziert, die Registrierung von Begünstigten hat begonnen. Angehörige, insbesondere Ehepartner oder Kinder im Dienst verstorbener Polizistinnen und Polizisten, erhalten Einmalzahlungen, aber keine staatliche Witwen- oder Waisenrente oder eine andere staatlich organisierte Unterstützung. Es gibt Nichtregierungsorganisationen, die diese Familien finanziell und durch Fortbildungen o. ä. unterstützen. Die Höhe der ausgezahlten Beträge ist dem Auswärtigen Amt nicht bekannt.
Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen. Im Bereich Säuglingssterblichkeit hat Afghanistan aber weiterhin die weltweit dritthöchste Sterblichkeitsrate.
Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet kaum bis gar nicht statt. Insbesondere im Zuge der Covid-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das bei Vorsorge (Schutzausstattung), Diagnose (Tests) sowie medizinischer Versorgung von Erkrankten akute Defizite aufwies. Nationale und internationale NROs stellen über das Weltbank-Projekt „Sehatmanti“ 90 % der primären, als auch sekundären und tertiären medizinischen Versorgung. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Berichten der WHO zufolge haben 87% der Bevölkerung Zugang zu rudimentärer medizinischer Grundversorgung innerhalb von zwei Stunden.
Gemäß Art. 52 der Verfassung ist die medizinische Grundversorgung für alle Staatsangehörigen kostenlos. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (v. a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt und deshalb ebenfalls korruptionsanfällig. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung an die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark, es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren stark und müssen von den Patienten komplett selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig.
Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. WHO und USAID zählten 2019 insgesamt 275 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, die zu Schließungen der Einrichtungen führten. Nur 34 Einrichtungen konnten zwischenzeitlich wieder öffnen. 2019 kamen es zu 20 Tötungen, 31 Verwundungen und 31 Entführungen an medizinischem Personal. Dieser Trend setzt sich 2020 fort“.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellt die aktuelle Lage in seiner Kurzinformation der Staatendokumentation COVID-19 Afghanistan, Stand: 21.7.2020 wie folgt dar:
„Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan
Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).
Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).
Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe
Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020). Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020). Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020). Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt.
Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans
Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020). Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020). In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).
Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).
Wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020)“.
Das sich aus den oben benannten, unterschiedlichen Quellen ergebende Lagebild in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung sowie in Afghanistan insgesamt, stellt sich zur Überzeugung des Gerichts so dar, dass bei der Ankunft des Klägers in Kabul angesichts der zuvor schon prekären wirtschaftlichen Lage, dem massiven wirtschaftlichen Einbruch und der bei Rückkehrern aus dem westlichen Ausland zu erwartenden Schwierigkeit, sich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für ihn eine Situation entstünde, die mit Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wäre.
Bei aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Personen sind aufgrund der aktuellen zuvor ausgeführten Situation in Afghanistan die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK in der Regel erfüllt, sofern diese Rückkehrer nicht über erhebliche eigene finanzielle Mittel verfügen oder zu erwarten ist, dass sie von Dritten erhebliche nachhaltige finanzielle oder andere materielle Unterstützung erhalten. Der spezifische Bedarf, d.h. in welcher Hinsicht und in welchem Umfang ein Rückkehrer auf Unterstützung durch ein Netzwerk angewiesen ist, kann grundsätzlich ausgehend davon bestimmt werden, welche Umstände fehlen, dass er nicht ohne Netzwerk seine Existenz zu sichern vermag. Ein spezifischer Unterstützungsbedarf kann z.B. auf Krankheit, Behinderung, hohem Alter, fehlenden Sprachkenntnissen, fehlenden Erfahrungen auf dem afghanischen Arbeitsmarkt, einer fehlenden vollständigen Sozialisation beruhen. Der so ermittelte Unterstützungsbedarf muss voraussichtlich durch ein vorfindliches Netzwerk vor Ort gedeckt werden. Die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Netzwerks sind nach den zur Verfügung stehenden sachlichen Mitteln und personalen Mitteln zu beurteilen. In Betracht kommt insbesondere, welche Unterstützungsleistungen das Netzwerk in der Vergangenheit geleistet hat und in welcher Weise sich die Ressourcen des Netzwerks verändert haben (VG Hamburg, Urteil v. 7. August 2020 – 1 A 3562/17 juris Rn. 62 f.; vgl. zum Ganzen: VG Karlsruhe, Urteil v. 15. Mai 2020 - A 19 K 16467/17 juris Rn. 107 ff. m. w. N., VG Hannover, Urteil v. 9. Juli 2020 - 19 A 11909/17 juris Rn. 44 ff. m. w. N.).
Waren Nahrungsmittel und andere Güter des Grundbedarfs, Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten bereits vor dem Auftreten der Corona Krise derart knapp und daher umkämpft, dass es Personen mit erhöhter Vulnerabilität grundsätzlich nicht zumutbar war, sich den Risiken insbesondere bei der Suche nach einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Unterkunft auszusetzen (so auch insbesondere VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 29. November 2019 - A 11 S 2376/19 juris Rn. 112), so gilt dies nunmehr aufgrund der landesweiten enormen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona Krise auch für Personen mit robuster Konstitution, sofern sie nicht auf erhebliche eigene finanzielle Ersparnisse oder vor Ort auf nachhaltige materielle Unterstützung Dritter zugreifen können. Denn es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass für einen Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne finanzielle Mittel selbst eine auch nur einfachste Lebensführung mit einer gegen Wind und Wetter schützenden Unterkunft nicht gewährleistet ist. Ist dies der Fall, besteht aber auch für Personen ohne erhöhte Vulnerabilität wie jungen, alleinstehenden und uneingeschränkt erwerbsfähigen Männern das reale Risiko, in einem kontinuierlichen Prozess zu verelenden und bleibende schwere physische und psychische Schäden davonzutragen. Aus den obigen Erkenntnismitteln ergibt sich, dass in den für die Existenzsicherung elementaren Bereichen Wohnen, Nahrungsmittelversorgung und Zugang zum Arbeitsmarkt massive Erschwernisse im Vergleich zum Lagebild in Kabul vor März 2020 hinzugekommen sind, die sich in ihren negativen Auswirkungen auf die Möglichkeit der Existenzsicherung wechselseitig verstärken. Insbesondere der Zugang zum Arbeitsmarkt – und sei es nur auf dem Tagelöhner Markt – ist angesichts der Ausgangsbeschränkungen in Kabul, die sich bereits in einem Anstieg der ohnehin hohen Arbeitslosigkeit niedergeschlagen haben, sehr viel geringer geworden. Gleichzeitig wäre ein regelmäßiges Erwerbseinkommen angesichts gestiegener Preise für Grundnahrungsmittel noch wichtiger für das Überleben als vor dem Ausbruch der Corona Krise (vgl. VG Karlsruhe, Urteil v. 15. Mai 2020 - A 19 K 16467/17 juris Rn. 108 f.).
Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aufgrund des Auftretens von Covid-19- Fällen, insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in absehbarer Zukunft andauern werden. Selbst im Falle der Aufhebung von Ausgangs- und Bewegungsbeschränkungen ist aufgrund der weitgehend ausgezehrten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes nicht damit zu rechnen, dass sich die Situation in Kabul alsbald nach Aufhebung von Beschränkungen wesentlich verbessern wird. Wann und in welchem Umfang sich eine Besserung einstellen wird, ist vielmehr zurzeit nicht absehbar und bleibt abzuwarten. Auch wenn die bevorstehende diesjährige Ernte die Nahrungsmittelversorgung in den ländlichen Gegenden möglicherweise verbessern wird, so werden die mittelfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona Virus Arbeitskräfte in städtischen Gebieten wie Tagelöhner, Beschäftigte im Dienstleistungssektor und kleine Händler besonders hart treffen. Hinzu kommt, dass die Menschen in den Städten sich nicht ausreichend selbst mit Lebensmitteln versorgen können und daher von den hohen Preisen auf dem Lebensmittelmarkt abhängig sind (vgl. zum Ganzen: VG Arnsberg, Urteil v. 2. Juli 2020 - 6 K 2576/17.A juris Rn. 48; VG Cottbus, Urteil v. 29. Mai 2020 - 3 K 633/20. A juris; VG Karlsruhe, Urteil v. 15. Mai 2020 - A 19 K 16467/17 juris Rn. 110, VG Cottbus, Urteil v. 31. Juli 2020 - 3 K 1727/16.A, n.v.).
Auch außerhalb Kabuls sind die Voraussetzungen für eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung erfüllt. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen. Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG insoweit durchaus ähnliche) Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 17. Juli 2019 - A 9 S 1566/18 juris Rn. 32). Diese Voraussetzungen liegen derzeit nicht vor.
Für die Dauer der Reisebeschränkungen ist es schon nicht möglich, legal in einen anderen Landesteil zu reisen, sodass für die Dauer dieser Beschränkungen eine Berücksichtigung solcher Reisen von Rechts wegen ausgeschlossen ist. Unabhängig davon ist angesichts der verheerenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die wirtschaftlich im Vergleich zu den übrigen Landesteilen noch relativ besser gestellte Provinz Kabul sowie angesichts des Umstands, dass nicht nur in Kabul, sondern landesweit Ausgangsbeschränkungen mit all ihren wirtschaftlichen Folgeschäden verhängt wurden, das Gericht davon überzeugt, dass sich die Situation in anderen Landesteilen nicht besser verhält als in Kabul, zumal auch die möglicherweise künftig wieder mit dem Flugzeug erreichbaren Provinzen Herat und Balkh mit ihren ansonsten wie Kabul relativ wohlhabenderen Provinzhauptstädten Herat und Mazar-e Sharif besonders von Covid-19-Fällen betroffen sind. Sollte sich aufgrund der bevorstehenden Ernte die Lebensmittelversorgung in den ländlichen Gebieten in den nächsten Monaten verbessern, so vermag auch dies nicht so ohne weiteres zu einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Kläger führen, weil jedenfalls die Nutzung der überregionalen Fernstraßen in Afghanistan nicht sicher ist, insbesondere weil Sicherheitskräfte und Aufständische Kontrollpunkte errichten, weil Sprengsätze detonieren oder Unbeteiligte von Kampfhandlungen betroffen werden können (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 16. Oktober 2017 - A 11 S 512/17 juris Rn. 320; vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 29. Oktober 2019 - A 11 S 1203/19 juris Rn. 73; vgl. zum Ganzen: VG Karlsruhe, Urteil v. 15. Mai 2020 - A 19 K 16467/17 juris Rn. 107 ff. m. w. N.).
Hinzu kommt, dass sich UNHCR zufolge 2019 etwa 72.000 ausländische Flüchtlinge – zumeist aus Pakistan – in Afghanistan aufhalten. In 2019 verließen laut UN-OCHA ca. 471.000 Menschen aufgrund des Konflikts innerhalb Afghanistan ihre Heimatregion. Insgesamt wird die Zahl der Binnenvertriebenen auf über 2,9 Millionen geschätzt (Internal Displacement Monitoring Center, Stand 31.12.2019). Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. 75% der Binnenflüchtlinge sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (Auswärtiges Amt, Lagebericht von Juni 2020, S. 22).
Zur COVID-19-Pandemie ist den Briefing Notes des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. August 2020 folgendes zu entnehmen:
„Es wird davon ausgegangen, dass der Höhepunkt der Pandemie noch nicht erreicht ist und die seit Juni 2020 stark steigende Zahl der Infizierten in den kommenden Wochen weiter ansteigen wird. Am stärksten betroffen ist nach wie vor Kabul, gefolgt von Herat, Kandahar, Balkh und Paktya (neu, vorher Nangarhar).
Trotz Bemühungen der Regierung und der internationalen Gemeinschaft (Stichwort „Humanitarian Response Plan“) ergaben Untersuchungen, dass die meisten Haushalte (74 %) in den vergangenen Wochen die Menge und Qualität der Nahrungsmittel reduziert haben. Neun von zehn Personen berichteten über negative wirtschaftliche Auswirkungen von COVID-19 wie z.B. dem Ausbleiben von Zahlungseingängen“.
Nach Lage der Dinge und unter Würdigung der einzelnen dargestellten Aspekte in einer Gesamtschau ist momentan davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer zwangsweisen Rückführung nach Afghanistan nicht in der Lage wäre, durch Gelegenheitsjobs wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen und damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Er wäre einer schleichenden Verelendung (real risk) ausgesetzt, würde er zum jetzigen Zeitpunkt nach Afghanistan zurückkehren.
Bei dem Kläger handelt es sich um einen 29-jährigen Mann, der die überwiegende Zeit seines Lebens, nämlich 26 Jahre, im Iran verbracht hat. Lediglich drei Jahre hat er im Kindesalter in Afghanistan gelebt. Zwar ist der Kläger nicht Analphabet, doch hat er nur eine ca. dreijährige Schulausbildung durchlaufen und im Iran Abendkurse besuchte, um Lesen und Schreiben in seiner Landessprache Dari zu erlernen. Im Iran hat er, gemeinsam mit seinen beiden älteren Brüdern, auf verschiedenen Baustellen als Gipser gearbeitet. In Deutschland hat er in den letzten fünf Jahren unterschiedliche Tätigkeiten ausgeübt (Kellner, Mitarbeiter in einer Bäckerei und Altenpfleger). Weder verfügt er derzeit über eigene finanzielle Mittel – die in Deutschland aus Arbeitseinkommen erzielten Ersparnisse sind durch die Corona Krise wieder aufgebraucht; die Ersparnisse aus dem Iran hat er für die Reise nach Deutschland eingesetzt - noch verfügen seine Mutter oder Geschwister über Mittel, um ihn - bei einer unterstellten Rückkehr – zukünftig in Afghanistan unterstützen zu können.
Seine Mutter ist 73 Jahre alt, krank und lebt in Deutschland von staatlicher Unterstützung. Seine beiden in Deutschland lebenden Schwestern haben jeweils eigene Familien und leben mit ihren Familien ebenfalls von staatlicher Unterstützung. Die beiden Brüder, die mit ihren Familien illegal im Iran leben, erzielen dort als Bauarbeiter nur unregelmäßige Einkommen.
Der Kläger hat keinerlei Kontakt zu seinen Verwandten in Afghanistan. Auch zu seiner Tante im Iran besteht kein Kontakt.
Auch wenn der Kläger eine rudimentäre Schulausbildung besitzt und sowohl im Iran als auch in Deutschland gearbeitet hat, kann er ohne (finanzielles – familiäres) Netzwerk, das ihm überhaupt erst Arbeitschancen eröffnen würde, als „faktischer Iraner“ im Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt landesweit in Afghanistan nicht allein bestehen.
Zusätzlich leidet der Kläger in psychischer Hinsicht, hauptsächlich durch seinen ungewissen Aufenthaltsstatus in Deutschland bedingt, wie sich aus dem ärztlichen Attest vom 17. August 2020 (Hausärztliche Praxis Dr. med. A...) ergibt. Auch wenn dieses ärztliche Attest, wonach der Kläger zurzeit psychopharmakologisch behandelt wird, erstmals in der mündlichen Verhandlung überreicht wurde und nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entspricht, so ist ihm jedoch ein gewisses Indiz dafür zu entnehmen, dass der Kläger derzeit psychische Probleme hat, die es zu bewältigen gilt und die zusätzlich in die Prognose seiner Arbeitsfähigkeit in Afghanistan mit einzustellen sind.
Die zugänglichen Rückkehrhilfen und humanitären Hilfen ermöglichen zwar regelmäßig einen gewissen zeitlichen Aufschub der zu befürchtenden Verelendung, vermindern die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts aber nur unwesentlich (ähnlich in Bezug auf die Anfang 2017 erhältlichen Unterstützungsleistungen BayVGH, Urteil v. 23. März 2017 - 13a B 17.30030 - AuAS 2017, 175, juris Ls. 3 u. Rn. 24). Sie schaffen für Gelegenheitsarbeiter - wie dem Kläger - weder einen Zugang zum Arbeitsmarkt in Afghanistan noch wird die Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkunft nachhaltig gesichert. Es ist nicht ersichtlich, dass es Unterstützungsangebote gibt, mit denen die Schwierigkeit überwunden werden kann, dass die raren Arbeitsmöglichkeiten in erster Linie über Beziehungen vergeben werden (vgl. VG Hannover, Urteil vom 9. Juli 2020 - 19 A 11909/17 juris Rn. 45 m. w. N.).
Derzeit ist auch nicht absehbar, ob NGO´s und humanitären Organisationen, Rückkehrern in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft in Afghanistan bei der Integration in die afghanische Gesellschaft beistehen können, um die durch die Pandemielage zusätzlich ausgelösten Schwierigkeiten hinreichend und nachhaltig zu beseitigen. Ein Verweis der Rückkehrer ohne tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk auf die vor der Pandemielage regelmäßig erreichbaren Hilfsprogramme z.B. der IOM und des UNHCR erscheint insoweit unzumutbar, als die Rückkehrer nicht im Einzelfall über besondere finanzielle, technische oder intellektuelle Möglichkeiten der Hilfe oder Fähigkeiten im z.B. beruflichen Bereich verfügen. Bei der vertieften Betrachtung der humanitären Gefahren spielt dabei die Ansteckung mit dem Virus und gegebenenfalls eine mögliche Erkrankung eher eine untergeordnete Rolle, weil vielmehr die Frage der sozialen Ausgrenzung von Rückkehrern und die fehlende Möglichkeit, in notwendig kurzer Zeit Obdach und Arbeit zu finden im Vordergrund stehen. Im Hinblick auf die in den Großstädten, v.a. Kabul als etwaigem Rückkehrort, überwiegend beengten Unterbringungsverhältnisse bestehen kaum Chancen auf Selbst- und Fremdschutz durch "social distancing". Insoweit wird darauf hingewiesen (Friederike Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener (27.03.2020), S. 1 f. https://www.ecoi.net/en/file/local/2027210/Stellungnahme+Corona-Risiken-Afghani-stan+27.03.2020.pdf), dass dies für eine Vielzahl von Rückkehrern - jedenfalls denjenigen ohne "Familienanschluss" - dazu führen dürfte, aus allgemeiner Angst der Bevölkerung vor Ansteckung einen sozialen Ausschluss zu erleben und damit weder Obdach noch Arbeit oder soziale Unterstützung zu erhalten. Ein Fehlen dieser Erfordernisse ist jedoch auch ohne eine akute Erkrankung lebensbedrohlich, erst recht bei Erkrankung. Der Verweis auf eine Unterbringung in sog. Teehäuser erscheint auf absehbare Zeit aber kaum mehr möglich. Es wird davon berichtet (Friederike Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener (27.03.2020), S.3, ttps://www.ecoi.net/en/file/local/2027210/Stellungnahme+Corona-Risiken+Afghanistan+27.03.2020.pdf), dass im Zuge der "measured lockdowns" die Teehäusern sukzessive geschlossen wurden, womit Betroffene auch bei externer (finanzieller) Unterstützung von Obdachlosigkeit betroffen sein werden. Die Unterstützungshilfen anbietenden NGO scheinen – aufgrund Schließung von örtlichen Büros - auch nicht mehr ohne weiteres kurzfristig Hilfe anbieten zu können. Hinzukommen die sich verstärkenden allgemeinen Schwierigkeiten bei der Sicherstellung des Unterhalts. Im Zuge der Corona-Krise sollen sich bereits Ende März 2020 die Lebensmittelpreise dramatisch erhöht haben, insbesondere für Grundnahrungsmittel. Für Kabul wird z.B. von einer Erhöhung bei Mehl um 92% und bei Tomaten um 80% berichtet; wer ohnehin schon am Rande des Existenzminimums lebt, wird angesichts dieser Preissteigerungen absehbar in lebensbedrohliche Not stürzen (Friederike Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener (27.03.2020), S. 3, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027210/Stellungnahme+Corona-Risiken+Afghanistan+27.03.2020.pdf) - vgl. VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid v. 5. Mai 2020 - 21 K 19075/17.A juris Rn. 271-278.
Letztlich entspricht die Feststellung eines Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auch der derzeit bestehenden tatsächlichen Situation. Zwar hat kein Bundesland eine Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gem. § 60a Abs. 1 AufenthG im Erlasswege angeordnet. Bekanntlich wurde aber die Durchführung von Sammelrückführungen nach Afghanistan auf Bitten der afghanischen Regierung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie vorerst ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Lagebericht von Juni 2020, S. 25).
Ein (zusätzliches) nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist jedoch im Hinblick auf den nach § 60 Abs. 5 AufenthG gewährten Abschiebungsschutz nicht gegeben. Eine eventuell durch die verfassungskonforme Auslegung zu schließende Schutzlücke besteht hier nicht (mehr). Die in diesem Einzelfall durch gesundheitliche Gründe bedingten humanitären Gefahren für den Kläger in Afghanistan wurden im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK ausreichend berücksichtigt.
Die Regelungen in Nr. 5 und Nr. 6 des Bescheides sind aufzuheben, weil mit der Feststellung des nationalen Abschiebungsverbots weder die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG noch für die eines behördlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung (BGBl. 2019 I. S. 1294, 1295) vorliegen.
Die Kostenentscheidung des nach § 83 b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.