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Kinder und Jugendhilfe sowie Jugendförderungsrecht


Metadaten

Gericht VG Cottbus 5. Kammer Entscheidungsdatum 30.08.2013
Aktenzeichen 5 K 263/11 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 42 Abs 1 SGB 8, § 8a Abs 3 SGB 8

Tenor

Der Heranziehungsbescheid des Beklagten vom 2. Dezember 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2011 wird aufgehoben.

Die Zuziehung des Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Beklagte.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Erhebung eines Kostenbeitrages für die Inobhutnahme ihrer Tochter durch den Beklagten.

Die Klägerin ist Mutter der 2000 geborenen Nicole A. sowie weiterer sechs Kinder. Der Beklagte, in dessen Zuständigkeitsbereich die Klägerin seinerzeit lebte, leistete zuletzt seit 2006 Hilfe zur Erziehung insbesondere in Form sozialpädagogischer Familienhilfe.

Am 30. August 2010 nahm der Beklagte Nicole in Obhut, worüber er die Klägerin noch am selben Tag telephonisch sowie mit Bescheid vom 31. August 2010 in Kenntnis setzte. Zur Begründung gab der Beklagte an, dass die Inobhutnahme wegen einer chronischen Kindeswohlgefährdung erfolgt sei, welche die Klägerin innerhalb der ihr zuletzt gesetzten Frist bis zum 30. August 2010 nicht abgewendet habe.

Die Klägerin erklärte noch mit Schreiben vom 31. August 2010, dass sie mit der Inobhutnahme nicht einverstanden sei und die umgehende Rückgabe des Kindes erbitte. Mit Schreiben vom 1. September 2010 beantragte sie beim Familiengericht die Herausgabe ihrer Tochter. Der Beklagte beantragte ebenfalls mit Schreiben vom 1. September 2010 beim Familiengericht, den Kindeseltern die Personensorge für Nicole zu entziehen und diese auf ihn zu übertragen. Den mit Schreiben vom 7. September 2010 von der Klägerin gegen die Inobhutnahme erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2011 mit der Begründung zurück, dass dieser sich erledigt habe, nachdem die Inobhutnahme mit Bescheid vom 7. Dezember 2010 mit Wirkung zum 17. Oktober 2010 beendet worden sei und Nicole seit dem 18. Oktober 2010 Hilfe zur Erziehung in Form von Heimerziehung erhalte. Zuvor hatte das Familiengericht den Kindeseltern mit Beschluss vom 24. September 2010, Az. 52 F 260/10, die Personensorge für Nicole entzogen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos.

Bereits mit Schreiben vom 9. September 2010, der Klägerin zugestellt am 11. September 2010, wies der Beklagte die Klägerin auf die Kostenbeitragspflicht hinsichtlich der Inobhutnahme hin, klärte diese über die Folgen für ihre Unterhaltspflicht auf und erbat Auskünfte zum Einkommen der Klägerin. Mit Bescheid vom 2. Dezember 2010 setzte er sodann einen Kostenbeitrag in Höhe von monatlich 190 Euro fest, den die Klägerin ab dem 11. September 2010 zu leisten habe. Bei dem festgesetzten Betrag handele es sich um einen Mindestkostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes.

Am 4. Januar 2011 erhob die Klägerin hiergegen Widerspruch, zu dessen Begründung sie die Auffassung vertrat, dass die ohne ihr Einverständnis erfolgte Inobhutnahme mangels Dringlichkeit nicht erforderlich gewesen sei. Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. März 2011 unter Hinweis auf den Beschluss des Familiengerichtes vom 24. September 2010 zurück.

Am 25. März 2011 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sie auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug nimmt.

Die Klägerin beantragt,

den Heranziehungsbescheid des Beklagten vom 2. Dezember 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2011 aufzuheben,
die Hinzuziehung ihres Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, im Falle Nicoles habe eine Kindeswohlgefährdung in Form einer psychischen Misshandlung durch die entwürdigenden Erziehungsmethoden der Klägerin vorgelegen. Unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei der Klägerin aber zunächst Gelegenheit gegeben worden, ihr Verhalten zu ändern und damit die Kindeswohlgefährdung selbst zu beenden. Diesem Ziel habe auch die unter Fristsetzung bis zum 30. August b2010 erfolgte Ankündigung der Inobhutnahme gedient. Eine Verhaltensänderung sei jedoch nicht eingetreten. Das Familiengericht sei unverzüglich nach der Inobhutnahme angerufen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs (2 Hefte) ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Ermächtigungsgrundlage der Heranziehung ist § 91 Abs. 1 Nr. 7 i. V. m. § 42 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII. Hiernach werden zu Maßnahmen der Inobhutnahme Kostenbeiträge erhoben; die Klägerin als Mutter ist gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII grundsätzlich kostenbeitragspflichtig.

Die Heranziehung der Klägerin ist rechtswidrig, da die dem Heranziehungsbescheid zu Grunde liegende Inobhutnahme nicht in Übereinstimmung mit den Vorschriften des SGB VIII erfolgte. Die Rechtmäßigkeit der Jugendhilfemaßnahme ist aber Voraussetzung für die Heranziehung der Eltern zu deren Kosten (vgl. ebenso Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. Juni 2008 – 12 A 144/06 -, zitiert nach juris, dort Rdn. 37 m. w. N.).

Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, u. a. wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert (Nr. 2) und die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen (lit. a) oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (lit. b). Da die Klägerin hier mit der Inobhutnahme nicht einverstanden war, konnte diese – das Vorliegen einer dringenden Kindeswohlgefährdung vorausgesetzt - also rechtmäßig nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.

Daran aber fehlt es hier. Der Beklagte hat die vorherige Anrufung des Familiengerichtes vielmehr unterlassen, ohne dass die vorliegenden Unterlagen Anhaltspunkte dafür erkennen lassen, dass die Herausnahme des Kindes keinen Aufschub bis zu dessen Entscheidung geduldet hätte.

Kinderpflege und -erziehung sind das natürliche und in Art 6 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes geschützte Recht der Eltern und die ihnen obliegende Pflicht. Zum Schutz der Kinder wacht die staatliche Gemeinschaft über ihre Betätigung. Die Wegnahme eines Kindes stellt einen erheblichen Eingriff in dieses Grundrecht dar, der der gesetzlichen Legitimation bedarf und dementsprechend regelmäßig eine entsprechende Entscheidung des Familiengerichtes gemäß §§ 1666. 1666 a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) erfordert. Liegen dem Jugendamt in Ausübung seines staatlichen Wächteramtes gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, ermächtigt und verpflichtet § 8 a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, das Familiengericht anzurufen, wenn dessen Tätigwerden i. S. d. §§ 1666, 1666 a BGB erforderlich erscheint. Nur in Eil- und Notfällen, in denen die dringende Gefahr für das Kindeswohl so akut ist, dass eine Entscheidung des Gerichtes nicht abgewartet werden kann, ist das Jugendamt zur Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet, §§ 8 a Abs. 3 Satz 2, 42 Abs. 1 SGB VIII. Die Inobhutnahme stellt also eine zeitlich begrenzte Krisenintervention dar, die dem Jugendamt in unaufschiebbaren Situationen die Befugnis zum elternunabhängigen unmittelbaren Handeln einräumt, um eine akute Gefahr vorläufig abzuwenden, bis eine Entscheidung des Familiengerichtes ergeht. Sie gibt dem Jugendamt nicht das Recht, sich unter Umgehung des Familiengerichtes mit hoheitlichen Mitteln an Elternstelle zu setzen, wenn nach Lage der Dinge dessen vorherige Entscheidung eingeholt und abgewartet werden kann.

So lag der Fall aber hier. Der Beklagte hat die Familie der Klägerin bereits über Jahre begleitet und betreut. Ausweislich der vorliegenden Unterlagen verdichteten sich bereits im Mai 2010 die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung Nicoles, da die Klägerin ihr eine Art Sündenbockfunktion innerhalb der Familie zugewiesen zu haben schien, sie abwertete und ablehnte und ihr jegliche Anerkennung, Respekt und emotionale Zuwendung versagte. Hierauf wies der Beklagte die Klägerin in mehreren Gesprächen hin und kündigte ihr dabei wiederholt die Inobhutnahme Nicoles an, wenn die Klägerin ihr Verhalten nicht ändere. Zuletzt setze er der Klägerin im Rahmen des Hilfeplangespräches am 16. August 2010 eine Frist bis zum 30. August 2010 mit der Ankündigung, dass er ohne maßgebliche Veränderung bis zu diesem Zeitpunkt Nicole in Obhut nehmen werde. Dass Veränderungen ausblieben, offenbaren die letzten Aufzeichnungen der beiden Familienhelferinnen aus dem Zeitraum vom 20. bis zum 24. August 2010. Bereits mit Datum vom 20. und 26. August 2010 finden sich zudem interne Vermerke zur Durchführung der Inobhutnahme.

Ausschlaggebend für die Inobhutnahme war demnach die Feststellung des Beklagten, dass die Klägerin auch mit Ablauf der von ihm gesetzten Frist ihr Verhalten gegenüber Nicole nicht geändert hat, sondern die festgestellte Situation der Kindeswohlgefährdung unverändert fortbesteht. Dies hat der Beklagte auch im Termin zur mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich bestätigt. Anhaltspunkte dafür, dass die Situation etwa eskaliert wäre oder konkrete Umstände hinzugetreten wären, die zu einer akuten Krise geführt und ein weiteres Zuwarten nicht erlaubt hätten, sind nicht ersichtlich. Allein der Ablauf der von dem Beklagten gesetzten Frist vermag jedoch nicht das Vorliegen eines Not- oder Eilfalles zu begründen, andernfalls hätte es der Beklagte in der Hand, die in Fällen der Kindeswohlgefährdung gesetzlich als Regelfall vorausgesetzte vorherige Entscheidung des Familiengerichtes regelmäßig zu umgehen, indem er Eilfälle mehr oder weniger willkürlich durch Fristsetzung selbst herbeiführt. Es ist vielmehr nicht ersichtlich, weshalb der Beklagte am 30. August 2010 nicht zunächst eine familiengerichtliche Entscheidung auf Grundlage der §§ 1666, 1666 a BGB herbeigeführt hat. § 157 Abs. 3 FamFG verpflichtet das Familiengericht in den Verfahren nach §§ 1666, 1666 a BGB von Amts wegen unverzüglich den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen. Dies wäre vorliegend gegenüber dem direkten behördlichen Eingriff in das Elternrecht in jedem Fall das mildere Mittel gewesen. Dafür, dass aufgrund konkreter Umstände eine derartige Entscheidung hier nicht abgewartet hätte werden können, hat der Beklagte nichts vorgetragen und ist auch sonst nichts ersichtlich.

Die Zuziehung eines Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren war für notwendig zu erklären, weil es der Klägerin aus der Sicht einer verständigen, nicht rechtskundigen Partei nicht zuzumuten war, den Rechtsstreit ohne anwaltliche Hilfe zu führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.