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Kinder- und Jugendhilfe- sowie Jugendförderungsrecht


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 6. Kammer Entscheidungsdatum 06.05.2015
Aktenzeichen VG 6 K 710/13 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt der Beklagte.

Gründe

Nachdem der Kläger und der Beklagte den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - einzustellen und gemäß § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden.

Hiernach sind die Kosten des Verfahrens dem Beklagten aufzuerlegen. Dieser hat die ablehnenden Bescheide im Erörterungstermin vom 29. April 2015 aufgehoben und damit selbst Zweifel an deren Rechtmäßigkeit erkennen lassen. Darüber hinaus wäre die Klage voraussichtlich auch erfolgreich gewesen. Es spricht alles dafür, dass der Kläger gegen den Beklagten jedenfalls einen Anspruch auf Neubescheidung des Hilfeantrags vom 3. September 2012 gehabt hat.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für eine Lerntherapie ist § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Die Bestimmung lautet: "Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und

2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist."

Die ablehnenden Bescheide des Beklagten erweisen sich schon deshalb als rechtswidrig, weil das in § 35a Abs. 1a SGB VIII geregelte Verfahren zur Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit nicht beachtet worden ist. Danach hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme eines nach Maßgabe des Abs. 1a Satz 1 Nrn. 1 - 3 qualifizierten Arztes oder Psychotherapeuten einzuholen, die auf Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10) erstellt ist und darlegt, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Auch müssen Feststellungen über Breite, Tiefe und Dauer der Störung getroffen werden (vgl. Kunkel, Das Verfahren zur Gewährung einer Hilfe nach § 35a SGB VIII, JAmt 2007, S. 18). Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut ist es Sache des Jugendamtes, eine den Anforderungen des § 35a Abs. 1a SGB VIII genügende Stellungnahme einzuholen (ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. Januar 2010 – OVG 6 S 26.09 –, S. 2 EA). Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn – wie hier – von den Kindeseltern und der Schule konkrete Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit des Kindes (nämlich manifeste Versagensängste und eine allgemeine Verunsicherung) vorgetragen werden. Die wiederholt festzustellende Praxis des Beklagten, von der Einholung einer solchen Stellungnahme abzusehen oder dies als Obliegenheit des jeweiligen Antragstellers anzusehen, ist deshalb handgreiflich rechtswidrig.

Vorliegend war die Anforderung einer Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII auch nicht im Hinblick auf die vom Kläger eingereichten Berichte des Helios-Klinikums Berlin entbehrlich. Diese dürften nicht den vorgenannten Anforderungen an eine Stellungnahme nach Abs. 1a entsprechen, zumal sie ersichtlich nicht zu dem Zweck erstellt worden sind, eine Abweichung der seelischen Gesundheit festzustellen. Die Berichte beschränken sich im Wesentlichen auf die Diagnostik einer Sprachentwicklungsstörung und einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, die für sich allein noch keine seelische Störung begründen. Auf etwaige Sekundärfolgen im seelischen Bereich gehen die Berichte nicht näher ein.

Dementsprechend lässt sich den angegriffenen Bescheiden auch nicht entnehmen, dass der Beklagte hier von einer bestimmten seelischen Störung des Klägers ausgegangen ist. Vielmehr hat er ohne ordnungsgemäße Feststellung der seelischen Gesundheit des Klägers das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung verneint. Auch dieses Vorgehen ist offenkundig rechtswidrig gewesen. Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII hat der Beklagte zu prüfen, ob infolge (“daher”) einer festgestellten seelischen Störung die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Anknüpfungspunkt dieser Prüfung müssen die Feststellungen einer hierfür qualifizierten Person zum Vorliegen einer seelischen Störung sein (§ 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 1a SGB VIII) sein. Unterlässt das Jugendamt – wie hier – die Einholung einer entsprechenden Stellungnahme, dann geht die Prüfung einer etwaigen Teilhabebeeinträchtigung von vornherein ins Leere.

Darüber hinaus stehen die Ausführungen des Beklagten zur fehlenden Teilhabebeeinträchtigung des Klägers im Gegensatz zur gefestigten Rechtsprechung der Kammer. Im Rahmen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist die selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den zentralen Lebensbereichen Familie, Schule und Freizeit zu beurteilen. Dabei setzt die Vorschrift keine besonders gravierende Intensität der (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung voraus. Die Beeinträchtigung der Teilhabe genügt nach dem Wortlaut der Bestimmung, das Teilhabevermögen muss nicht gestört oder gar ganz entfallen sein. An die Prognose, ob eine Eingliederungsstörung droht, dürfen deshalb nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden. Es liegt auf der Hand, dass ausgeprägte Teilleistungsstörungen, die schon zu einer seelischen Störung geführt haben, eine angemessene Schulbildung gefährden (vgl. § 35a Abs. 3 SGB VIII i. V. m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII) und die selbstbewusste soziale Kooperation im schulischen Bereich erheblich beeinträchtigen. Bei der im Rahmen des § 35a SGB VIII anzustellenden Prognose wird in diesen Fällen eine Teilhabebeeinträchtigung regelmäßig zu erwarten sein (vgl. etwa Urteil der Kammer vom 3. Dezember 2010 – VG 6 K 624/10 –, juris; ferner Beschlüsse vom 4. Oktober 2010 – VG 6 L 272/10 – und vom 1. Juli 2009 – VG 6 K 50/05 –, juris; vgl. auch OVG Bautzen, Beschluss vom 8. Juni 2009 – 1 B 288/09 –, juris („sekundäre seelische Probleme führen ... regelmäßig in der Folge zu einer Teilhabebeeinträchtigung“); ebenso VGH Kassel, Urteil vom 20. August 2009 – 10 A 1874/08 –, und OVG Münster, Beschluss vom 28. Februar 2007 – 12 A 1472/05 –, jeweils juris). Zudem reicht es aus, wenn die Teilhabebeeinträchtigung in einem der zentralen Lebensbereiche gegeben ist (vgl. neben den vorgenannten Kammerentscheidungen auch Kunkel, a. a. O., S. 18 und VG Hannover, a. a. O.; vgl. ferner BT-Ds. 14/5074, S. 98). Die offenbar auch vom Beklagten angenommene Teilhabebeeinträchtigung im schulischen Bereich (vgl. S. 3 des Widerspruchsbescheids vom 6. Mai 2013 ) genügt deshalb, um einen Hilfeanspruch zu begründen. Denn die weitere sinngemäße Annahme des Beklagten, die schulischen Probleme könnten „bei einer Gesamtbetrachtung“ dadurch kompensiert werden, dass in anderen Lebensbereichen (noch) keine Teilhabebeeinträchtigung festzustellen sei, erscheint nicht nur lebensfremd, sondern läuft auch wesentlichen Zielen der Eingliederungshilfe zuwider. Für eine derartige „Saldierung“ der zentralen Lebensbereiche des Kindes gibt es weder eine fachliche noch eine rechtliche Grundlage. Eine angemessene Schulbildung wird nicht schon dadurch gewährleistet, dass der Kläger – wie der Beklagte im Widerspruchsbescheid festgestellt hat – in Familie und Fußballverein gut integriert ist. Entsprechendes gilt für den vom Beklagten hervorgehobenen Umstand, es sei während einer Hospitation in der Schule zu beobachten gewesen, dass der Kläger sich in der Pause mit mehreren Klassenkameraden in entspannter Atmosphäre unterhalten habe. Es entbehrt jeder sachlichen Rechtfertigung und wäre u. a. mit dem gesetzlich eingeräumten Anspruch auf Hilfe zur Erlangung einer angemessenen Schulbildung (§ 35a Abs. 3 SGB VIII i. V. m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII) nicht vereinbar, die Hilfe nur solchen Kindern zu gewähren, die in der Schulpause keine (entspannten) Gespräche mit Klassenkameraden führen. Solche Gespräche ersetzen eine angemessene Schulbildung nicht.

Schließlich ist nichts dafür ersichtlich, dass die Leistungspflicht des Beklagten hier gemäß § 10 Abs. 1 S. 1 SGB VIII hinter der Leistungspflicht des Schulträgers zurücktreten würde. Dass dem Kläger hier schulische Fördermaßnahmen zur Verfügung stehen, die geeignet sind, der Ursache der geltend gemachten seelischen Beeinträchtigung wirkungsvoll zu begegnen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, a. a. O., S. 4 EA) ist weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 92 Abs. 3 Satz 2, 158 Abs. 2 der VwGO).