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Aromatische Amine - Dosis-Wirkungs-Beziehung - Blasenkarzinom - Rauchgewohnheiten


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 31. Senat Entscheidungsdatum 24.02.2011
Aktenzeichen L 31 U 339/08 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 9 SGB 7, Nr 1301 BKVO

Leitsatz

1. Das Fehlen einer Dosis-Wirkung-Beziehung führt nicht dazu, dass auch geringe Expositionsmengen als wesentliche Teilursache eines Blasenkarzinoms anerkannt werden können.

2. Hat sich ein Versicherter ein Vielfaches der beruflich aufgenommenen Schadstoffe durch das Rauchen von Zigaretten selbst zugeführt, kann der berufliche Anteil nicht als wesentlich i. S. der im Sozialrecht geltenden Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung angesehen werden. Ein wesentlicher Anteil der beruflichen Ursache ergibt sich in dieser Fallgestaltung auch nicht dadurch, dass angesichts einer fehlenden Dosis-Wirkungs-Beziehung zweifelhaft ist, ob die außerberuflich aufgenommene Schadstoffmenge allein ausgreicht hätte, eine Krebserkrankung zu verursachen.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 2005 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung einer Harnblasenkarzinomerkrankung als Berufskrankheit (BK) Nr. 1301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV - Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine).

Die 1961 geborene Klägerin war beruflich - soweit im Hinblick auf den Umgang mit Gefahrstoffen relevant - nach einer entsprechenden, in der Zeit von September 1979 bis März 1983 absolvierten Ausbildung in den Chemischen Werken H ab Dezember 1987 als Chemielaborantin in der Abteilung Toxikologie des früheren B Landesinstituts für Lebensmittel, Arzneimittel und Tierseuchen (jetzt B Betriebe für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben) tätig. Dabei arbeitete sie in der Zeit von Dezember 1987 bis Dezember 1988 30 Stunden die Woche, von Januar 1989 bis Oktober 1989 38,5 Stunden wöchentlich, von Oktober 1989 bis Oktober 1990 und ab Mai 1995 halbtags, wobei sie ab April 1997 lediglich noch Aufgaben im Sekretariatsbereich erledigte. Von März 1993 bis Mai 1995 sowie ab Juli 1997 befand sich die Klägerin jeweils im Mutterschutz bzw. Erziehungsurlaub. Nach dem letztgenannten Erziehungsurlaub schied sie bei Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente aus dem Berufsleben aus.

Im Oktober 1999 wurde bei der Klägerin ein infiltrierendes Blasenkarzinom entdeckt. Es erfolgten im U-Krankenhaus eine Totalresektion der Harnblase und nachfolgend in der Universitätsklinik M die Anlage einer Sigma-Rektum-Blase.

Mit Schreiben vom 28. Februar 2001 wandte sich die Klägerin an die Beklagte und zeigte unter Hinweis auf ihre Karzinomerkrankung das mögliche Bestehen einer BK an. Sie sei bei dem senatseigenen Landesuntersuchungsinstitut für Lebensmittel, Arzneimittel und Tierseuchen im Fachbereich Toxikologie in einem Bereich, den es heute in dieser Form und mit der seinerzeit üblichen Arbeitsmethodik nicht mehr gebe, tätig gewesen und habe hierbei u. a. Kontakt mit größeren Mengen organischer Lösungsmittel gehabt. Die Beklagte befragte die Klägerin zu ihrem Krankheitsverlauf und zu ihrem beruflichen Lebenslauf. Sie holte eine Krankheitsauskunft der Dr. K, Krankenhaus M gGmbH, vom 02. Mai 2001 ein, die u. a. angab, dass typische Beschwerden im Sinne der Krebserkrankung wie Pollakisurie und Erythrozyturie zirka drei Jahre vor Feststellung der Erkrankung aufgetreten seien. Das behandelnde U-Krankenhaus teilte am 02. Mai 2001 mit, dass bei der Klägerin ein muskelinvasives, fortgeschrittenes Urothel-Karzinom der Harnblase vorgelegen habe. Nach Angaben der Klägerin bestünden bei dieser u. a. seit der Kindheit eine neurogene Blasenentleerungsstörung sowie ein Nikotinabusus. Die Beklagte befragte ferner den Arbeitgeber der Klägerin, der eine Gefährdungsanalyse übersandte und mit Schreiben vom 07. Mai 2001 mitteilte, dass ihm gefährdende Tätigkeiten der Klägerin nicht bekannt seien.

Der von der Beklagten sodann gehörte Facharzt für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin Dr. R teilte mit erstem Untersuchungsbefund und Stellungnahme vom 11. Juni 2001 mit, dass eine weitere Überprüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen insbesondere zu möglichen kanzerogenen Arbeitsstoffen erforderlich sei. Die erfragte spezielle Krankheitsvorgeschichte gab er dahin wieder, dass die Klägerin bereits seit Jahren Probleme mit Restharnmengen gehabt habe, sie habe sich ab zirka 1987/88 zweimal täglich katheterisiert, ab zirka 1989 habe ständig Katheterbedarf bestanden. Die Ursachen seien letztlich nicht geklärt. Die Klägerin habe angegeben, von 1980 bis 2000 zirka zehn bis 15 Zigaretten täglich geraucht zu haben, zwischenzeitlich Nichtraucherin gewesen zu sein und jetzt wieder zirka fünf Zigaretten täglich zu rauchen. Beigebracht wurden ferner pathologische Untersuchungsergebnisse und der Entlassungsbericht der J-Universität M vom 14. Dezember 1999 über die Behandlung der Klägerin vom 03. November bis 29. November 1999. Hier ist zur Anamnese ausgeführt, dass seit mehreren Jahren rezidivierende Harnwegsinfektionen und hohe Restharnmengen bestanden hätten, seit zehn Jahren werde die Blase mittels CIC entleert (Clean Intermittent Catheterisation, intermittierender Einmalkatheterismus). Beigebracht wurden ferner Berichte des U-Krankenhauses über die Weiterbehandlung der Klägerin mittels Chemotherapie sowie weitere Untersuchungsbefunde.

Zur Ermittlung der arbeitstechnischen Belastung der Klägerin holte die Beklagte sodann eine Stellungnahme ihrer Abteilung Prävention ein, für die am 13. November und 20. Dezember 2001 Frau B und Frau G nach einem Gespräch mit der Klägerin und mit dem Leiter Forensische Toxikologie des früheren Arbeitgebers der Klägerin, Dr. R, sowie einer Besichtigung vor Ort zu dem Ergebnis kamen, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit Kontakt mit krebserzeugenden Arbeitsstoffen in geringem Umfang gehabt habe, als relevante Noxen kämen 2-Naphthylamin und N-(1-Naphthyl)-ethylendiamindihydrochlorid in Betracht. Denn die Klägerin habe wöchentlich drei Dünnschichtplatten mit einer Lösung besprüht, die nach den Angaben des Herstellers M mit ≤ 0,01 % 2-Naphthylamin verunreinigt gewesen sei. Beigefügt waren eine Stellungnahme der Klägerin vom 27. November 2001, die Produktauskunft der Firma M über den von der Klägerin verwandten Stoff sowie eine schriftliche Stellungnahme des Dr. R vom 14. Dezember 2001, der u. a. ausführte, dass die Mitarbeiter des Fachbereiches aufgrund einer Arbeitsplatzrotation nicht dauerhaft an einem Arbeitsplatz tätig gewesen seien; die Klägerin dürfte das Besprühen von Dünnschichtplatten insgesamt in etwa zwei bis drei Monaten pro Jahr durchgeführt und hierbei wöchentlich im Mittel zirka drei Dünnschichtplatten besprüht haben, dies sei grundsätzlich in einem Abzug geschehen. Für den früheren Ausbildungsbetrieb der Klägerin, die Chemischen Werke H, beantwortete die I am 19. Februar 2002 eine Arbeitgeberanfrage, in deren Auswertung die insoweit zuständige Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie am 10./19. April 2002 mitteilte, dass in allen drei Bereichen, in denen die Klägerin während der Ausbildung tätig gewesen sei, kein bestimmungsgemäßer Umgang mit krebserzeugenden Gefahrstoffen bestanden habe. Es bestehe allerdings grundsätzlich die Möglichkeit, dass in einzelnen Laboratorien übliche Kleinstmengen für bestimmte Einsätze bereitgehalten worden seien, die Krebs erzeugend seien, ohne dass ein solcher Einsatz im Einzelnen bekannt sei; auch ein Umgang mit diesen zu Lehrzwecken könne nicht ausgeschlossen werden.

Die Beklagte holte sodann ein arbeitsmedizinisches Gutachten des Dr. K vom 10. Juni 2003 ein, der ausführte, dass die minimale Verunreinigung des bei der von der Klägerin durchgeführten Dünnschichtchromatographie eingesetzten Detektorprodukts mit 0,01 % 2-Naphthylamin die einzige Substanz sei, für welche Kanzerogenität für die Harnblase nachgewiesen sei. Verwendete Mengen des Präparates und äußerst geringe Kontaktzeiten im Rahmen der Teiltätigkeit der Klägerin schlössen jedoch den ursächlichen Zusammenhang zwischen Tätigkeit und Exposition im Falle der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit aus, weil das denkbare Zeit-Intensitäts-Produkt viel zu gering sei. Zur Induktion beruflich verursachter Harnblasenkrebse seien offenbar sehr lange Expositions- und Latenzzeiten erforderlich, für beide Größen werde mit durchschnittlich 20 bis 25 Jahren unter industriellen Bedingungen bei Vollbeschäftigung gerechnet. Expositionszeiten unter zehn Jahren seien nur bei extrem ungünstigen arbeitstechnischen Bedingungen diskussionsfähig, wie sie unter Laborbedingungen nicht bekannt seien.

Nach Einholung einer Stellungnahme des Gewerbearztes Dr. S vom Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Berlin vom 18. Juli 2003, der die Anerkennung einer BK Nr. 1301 nicht vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 03. September 2003 die Anerkennung des Bestehens einer BK 1301 der Anlage zur BKV sowie die Gewährung von Leistungen ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin, mit dem diese ausführte, dass vorhandene Absaugvorrichtungen nicht immer ordnungsgemäß funktioniert hätten, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2004 zurück.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 26. April 2005 unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. K abgewiesen.

Gegen dieses ihr am 31. August 2005 zugegangene Urteil richtet sich die am 28. September 2005 eingegangene Berufung der Klägerin. Die Klägerin ist weiterhin der Auffassung, dass es des Nachweises einer Mindestdosis für die schädlichen Einwirkungen bei der BK 1301 nicht bedürfe. Die Einwirkungszeit sei auch größer als von Dr. R eingeschätzt gewesen. Sie sei zwar in der Tat aufgrund der Arbeitsplatzrotation nicht dauerhaft an dem Arbeitsplatz tätig gewesen, an dem die Dünnschichtplatten zu besprühen gewesen seien, tatsächlich habe sie sich in dem entsprechenden Arbeitsraum jedoch jährlich über sechs Monate aufgehalten, da in diesem Raum neben dem Ansprühen der Dünnschichtplatten mindestens zwei weitere Tätigkeiten ausgeübt worden seien, wie die Prüfung auf Cannabis, die Vorbereitung der Radio-Immuno-Essays und zeitweise die Aufarbeitung von Leichenmaterial. Außerdem habe sich ihr Schreibtisch in diesem Arbeitsraum befunden. Auch habe die Arbeit zwar nur im Abzug durchgeführt werden dürfen, dieser Abzug habe jedoch sehr oft nicht funktioniert, mit der Folge, dass das vom Abzug nicht aufgenommene Sprühmaterial als Aerosol in den Arbeitsraum eingetreten sei. Ferner seien zu den regelmäßigen Arbeiten mit dem Besprühen der Dünnschichtplatten zusätzliche Schnellfälle, die Leichenaufarbeitung und auch der Spätdienst hinzugetreten. Ihr Nikotinkonsum sei recht gering und sporadisch gewesen. Selbst bei Einräumung einer Teilursächlichkeit im Hinblick auf das inhalative Zigarettenrauchen komme der arbeitstechnischen Exposition gegenüber aromatischen Aminen (2-Naphthylamin) jedenfalls eine wesentliche, teilursächliche Bedeutung zu. Einen Dauerkatheter habe sie nur für zwei Monate getragen. Insbesondere ihr junges Alter im Zeitpunkt der Karzinomerkrankung spreche für eine berufliche Verursachung, da das Blasenkarzinom ein Tumor des Alters sei. Die überwiegend monokausal geprägte Bewertung in den einzelnen Gutachten sei untauglich. Denn eine Bewertung der verschiedenen Ursachen habe nach dem Prinzip der so genannten „Synkanzerogenese“ zu erfolgen, wobei einzelne Krebsrisiken in ihrer möglichen Kombination zusammenfassend zu bewerten seien. Diesbezüglich verweist die Klägerin auf ein Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) vom 31. Oktober 2003 (Az.: L 11/3 U 740/02 ZVW). Eine derartige Bewertung, wie sie hier vorgenommen worden sei, müsse auch in ihrem Falle erfolgen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 03. September 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2004 aufzuheben, festzustellen, dass sie an einer Berufskrankheit nach der Nr. 1301 der Anlage zur BKV erkrankt ist, und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Verletztenteilrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von mindestens 80 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, dass rein rechnerisch lediglich eine vollschichtige Belastung der Klägerin von zirka sechs Jahren vorgelegen habe, wobei Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen Kur, Erkrankung oder Erkrankung des Kindes noch nicht einmal berücksichtigt worden seien; dies ergebe sich, wenn man aus dem Tätigkeitszeitraum von Dezember 1987 bis Oktober 1999 die Zeiten von Mutterschutz und Erziehungsurlaub, die Zeiten einer reinen Bürotätigkeit sowie die Zeiten geringerer Belastung aufgrund einer Teilzeittätigkeit in Anrechnung bringe. Auch seien bereits drei Jahre vor der Krebsdiagnose hierfür typische Symptome aufgetreten. Ferner hätten nur sehr geringe Einwirkungen bestanden. Messungen der Raumluft seien zwar nicht möglich gewesen, weil es den seinerzeitigen Arbeitsbereich bereits im Zeitpunkt der erstmaligen Anzeige einer möglichen BK nicht mehr gegeben habe. Von Mengen wie unter industriellen Bedingungen könne jedoch keine Rede sein.

Die Beklagte verweist weiter auf eine von ihr beigebrachte Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin Prof. Dr. B Diplom-Chemikers Dr. W vom 17. Juli 2008, die u. a. ausführten, dass Rauchen heute das Hauptrisiko für eine Harnblasenkarzinombildung darstelle. Etwa 50 bis 70 % dieser Karzinome würden durch Rauchen verursacht, wobei längerer Abusus und eine erhöhte Rauchmenge das Risiko erhöhten. Aufgrund der Angaben der Klägerin gegenüber Dr. R am 05. Juni 2001 sei von zirka 9,9 bis 14,9 Packungsjahren im Zeitpunkt der Diagnose der Krebserkrankung auszugehen, aufgrund der späteren, im Juli 2006, mitgeteilten Rauchmengen von zirka 6,6 bis 9,9 Packungsjahren. Durch ihren Tabakkonsum zwischen 6,6 und 14,9 Packungsjahren habe die Klägerin kumulativ human kanzerogene aromatische Amine äquivalent zu einer Höhe zwischen 2,65 und 5,96 mg 2-Naphthylamin aufgenommen.

Unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin, mehr als die doppelte Arbeitszeit als vom Leiter der Forensischen Toxikologie Dr. R geschätzt, pro Jahr im Mittel mit zirka drei zu besprühenden Dünnschichtplatten wöchentlich beschäftigt gewesen zu sein, und unter Zugrundelegung der Worst-case-Annahme, dass dies sogar zweimal täglich durchgeführt worden sei, habe die Klägerin kumulativ während ihrer gesamten Beschäftigungsdauer etwa 500 µg (0,5 mg) aufnehmen können. Bystander-Expositionen (z. B. der Schreibtisch im Labor) führten in der Regel zu deutlich darunter liegenden Expositionen, zumal sich entsprechende Aerosole vergleichsweise schnell absetzten und eine vergleichsweise geringe Reichweite besäßen und 2-Naphthylamin kaum flüchtig sei. Auch bei Zugrundelegung der Worst-Case-Abschätzung zeige sich, dass die berufliche Exposition alleinig nicht ausreichend gewesen sei. Die kumulative Höhe der Exposition über das Tabakrauchen liege mindestens um den Faktor 5 höher als die berufliche Exposition. Vor diesem Hintergrund trete die über das Worst-Case-Szenario abgeschätzte kumulative berufliche Belastung gegenüber 2-Naphthylamin mit 0,5 mg deutlich in den Hintergrund und angesichts der zusätzlichen Disposition der Klägerin allenfalls in den Bereich einer Gelegenheitsursache. Eine Diskussion der vergleichsweise kurzen Latenzzeit erübrige sich daher, ebenso wie eine Diskussion des jungen Erkrankungsalters der Klägerin. Es sei davon auszugehen, dass Urothelkarzinome der Harnblase durch erhöhte Proliferatonsraten aufgrund chronischer Blasenentzündungen bzw. jahrelanger Katheterisierung in ihrer Entstehung begünstigt würden.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes zunächst den früheren Arbeitgeber der Klägerin zu den genauen Zeiten und dem Umfang der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit um Auskunft gebeten, diesbezüglich wird auf das Antwortschreiben vom 06. März 2007 und die sich hieraus ergebenden, bereits genannten Zeiten Bezug genommen.

Das Gericht hat sodann ein Gutachten des Facharztes für Arbeitsmedizin, Praktischen Arztes/Umweltmedizin Dr. W vom 30. September 2007 eingeholt, der ausführte, dass die Klägerin an einem Harnblasenkarzinom mit teils papillärer Tumorformation gelitten habe, welches den Kriterien zur BK 1301 entspreche. Die Erkrankung sei im Sinne der wesentlichen Verschlimmerung eines berufsunabhängigen Leidens ursächlich auf die Tätigkeit der Klägerin als Chemielaborantin mit aromatischen Aminen zurückzuführen. Die expositionelle Belastung am Arbeitsplatz müsse als wesentlicher Einfluss auf die Entwicklung der chronisch-entzündlichen Harnwegserkrankung zu einer bösartigen Erkrankung gewertet werden. Entzündliche Veränderungen der Harnwege könnten Vorboten einer bösartigen Erkrankung sein. Lang anhaltende Stauungen im Harnabfluss seien als ungünstig zu betrachten.

Die Expositionsbewertung im Falle der Klägerin ergebe, dass für ihr Krankheitsbild die betriebliche Tätigkeit mit 2-Naphthylamin als ausschlaggebend angesehen werden müsse. Im Hinblick auf eine Schwellendosis befinde man sich zwar mehrheitlich im Stadium der Hypothesen und die Datenlage reiche nicht aus, um Grenzwerte festzulegen. Da man nicht in der Lage sei, Expositionsgrenzen zu bestimmen, müsse man immer noch vom „Alles-oder-nichts“ bei der Verursachung eines Krebses ausgehen. Auch wenn die Klägerin nicht zu den in typischen Tätigkeitsbereichen für die Verursachung von Harnblasenkarzinomen Tätigen gehört habe, sei doch ihre Exposition gegenüber einer sicher human kanzerogen wirkenden Substanz nachgewiesen und stelle mehr als eine Gelegenheitsursache dar. Für die außerberuflichen Faktoren werde keine Mitbeteiligung gesehen. Rauchen werde zwar als wichtigster außerberuflicher Risikofaktor angesehen. Die Rauchgewohnheit der Klägerin liege nach ihren Angaben bei 14 Raucherjahren und sei als mittelhoch zu bewerten. Möglicherweise sei die nur geringe berufliche Belastung aufgrund eines überadditiven Synergismus bei dem Kombinationseffekt Nikotinabusus und berufliche Exposition wesentlich verstärkt worden. Auch seien aromatische Aminoverbindungen seit über 100 Jahren vielfältig genutzte Chemikalien für unterschiedlichste chemische Produkte, so dass es nicht verwundere, dass auch bei biologischen Monitorings der Allgemeinbevölkerung Belastungen gefunden worden seien. Als Expositionsquellen seien angeführt worden: Rauchen, Pharmaka, Pestizidrückstände, Kosmetika, Kugelschreiberminen, Lebensmittelfarbstoffe, schwarzer Tee, Wasser und Lederprodukte. Dennoch müsse die berufliche Tätigkeit als ausschlaggebend angesehen werden. Die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 80 v. H. Beigefügt waren Befundberichte der Dipl.-Med. W vom 10. September 2007 sowie der Fachärztin für Psychosomatische Medizin Dr. W vom 14. September 2007.

Auf Einwände der Beklagten und die bereits genannte Stellungnahme des Prof. Dr. B vom 17. Juli 2008 hielt Dr. W in einer Rückäußerung vom 26. Oktober 2008 an seiner Einschätzung fest. Der Diskussion über die Konkurrenznoxe Rauchen solle gar nicht widersprochen werden. Allerdings sei das Blasenkarzinom ein Tumor des fortgeschrittenen Alters, die Erstdiagnose werde in der Regel in der Altersspanne von 65 bis 70 Jahren gestellt. Die Klägerin sei zum Zeitpunkt der Erstbeschreibung ihrer Erkrankung im Jahr 1999 erst 38 Jahre als gewesen, zudem sei sie keine starke Raucherin und zeitweise Nichtraucherin gewesen. Er habe auch nie behauptet, dass die Arbeitsbedingungen allein ursächlich für die Entwicklung des Krebses gewesen seien, Krebs sei ein multikausales Geschehen. Die berufliche Exposition sei hierbei mehr als eine Gelegenheitsursache gewesen.

Das Gericht hat sodann ein weiteres Gutachten des Prof. Dr. F, V-Klinikum N, erstellt unter Mitwirkung des Arztes D, vom 09. Juli 2009, eingeholt, der zu dem Ergebnis kam, dass das Harnblasenkarzinom nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die berufliche Exposition zum kanzerogenen aromatischen Amin 2-Naphthylamin zurückzuführen sei. Der entscheidende Punkt sei wie bei allen Intoxikationen die Dosis. Viele Untersuchungen und Erfahrungen hätten gezeigt, dass eine Induktion beruflich bedingter Harnblasenkarzinome eine sehr lange Expositionszeit unter industriellen Bedingungen bei Vollzeitbeschäftigungen sowie eine lange Latenzzeit von mindestens 20 Jahren voraussetze. Expositionszeiten von weniger als 50 % der genannten Dauer seien nur bei äußerst ungünstigen Arbeitsbedingungen denkbar, nicht jedoch unter den in einem Labor anzunehmenden Konditionen. Im Falle der Klägerin hätten ferner eine Vielzahl von Risikofaktoren für ein Harnblasenkarzinom bestanden, wenngleich in unterschiedlichen Gewichtungen. Als wichtiger Faktor sei der Nikotinkonsum zu bemerken, welcher im Falle der Klägerin als mittelstark einzuschätzen sei, wenngleich auch ein Harnblasenkarzinom erst in höherem Lebensalter zu erwarten gewesen wäre. Als hauptursächlich für die Entstehung des Karzinoms sei im Falle der Klägerin die langzeitig bestehende Harnblasenentleerungsstörung anzusehen, durch welche kanzerogene Noxen länger in der Blase verweilten mit der Folge einer höheren neoplastischen Entartungstendenz des Urothels. Der Nikotinkonsum sowie die berufliche Exposition seien begünstigend in überadditiv-synkanzerogener Wirkung hinzugekommen. Der berufliche Umgang mit Aminen habe eine nur untergeordnete Rolle gespielt.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Gericht sodann ein Gutachten der Fachärztin für Arbeitsmedizin/Umweltmedizin Dr. B, Universitätsklinikum H, vom 26. März 2010 eingeholt, die zu dem Ergebnis kam, dass zwar mit ausreichender Sicherheit eine Exposition gegenüber 2-Naphthylamin bestanden habe, dass unter Zugrundelegung einer Verdoppelungsdosis als Richtwert für die Anerkennung von kumulativen 6 mg auch bei Zugrundelegung der von der Klägerin gemachten Angaben zu einer Beschäftigung in dem Laborraum im Umfang von sechs Monaten jährlich sie von dem Wert, ab dem die Wahrscheinlichkeit für eine berufliche Verursachung anzunehmen sei, sehr weit entfernt sei. Unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin zum Umfang ihrer beruflichen Exposition errechne sich eine kumulative Belastung von zirka 0,9 mg über das gesamte Berufsleben. Die „Verdoppelungsdosis“ als Richtwert für die Anerkennung erfordere bei 2-Naphthylamin als grobem Orientierungswert eine lebenslange Belastung von kumulativ 6 mg. Von diesem Wert sei die Exposition der Klägerin sehr weit entfernt. Relevante außerberufliche Risikofaktoren seien der Zigarettenkonsum und die chronische Erkrankung der Harnblase. Möglicherweise habe die Exposition gegenüber aromatischen Aminen im Zusammenspiel mit den außerberuflichen Faktoren die Tumorentstehung beschleunigt, möglicherweise lägen auch noch genetische, bislang unbekannte Faktoren vor. Die Möglichkeit allein sei jedoch nicht ausreichend für den Nachweis des Zusammenhanges, eine wesentliche Teilursache sei in der beruflichen Exposition nicht zu sehen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Anerkennung ihrer Harnblasenkrebserkrankung als BK 1301. Das erstinstanzliche Urteil und der angefochtene Bescheid der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV sind Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine eine BK.

Voraussetzung für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als Berufskrankheit ist, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität), ferner müssen die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Lediglich für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits und zwischen der schädigenden Einwirkung und der eingetretenen Erkrankung andererseits reicht die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus. Nach der im Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit der Ursache ist maßgebend, dass es mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben kann. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis bzw. die schädigende Einwirkung wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. „Wesentlich“ ist nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Eine Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als „wesentlich“ anzusehen ist und damit als Ursache ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als „Gelegenheitsursache“ oder „Auslöser“ bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden muss und dass es keine Beweisregel gibt, wonach bei fehlender Alternativursache die naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist. Für die Feststellung dieses Ursachenzusammenhangs genügt dann die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernsthafte Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (so insgesamt BSG, Urteil vom 09. Mai 2006, Az.: B 2 U 1/05 R, und Urteil vom 02. April 2009, Az. B 2 U 9/08 R, m. w. N., zitiert nach juris.de).

Vorliegend sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 1301 im Sinne einer Exposition gegenüber 2-Naphthylamin als aromatischem Amin nachgewiesen. Auch handelt es sich bei dem bei der Klägerin aufgetretenen Harnblasenkarzinom um ein Krankheitsbild im Sinne einer BK 1301. Der geltend gemachte Anspruch auf Anerkennung einer BK 1301 scheitert jedoch daran, dass die Erkrankung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die berufliche Exposition rückführbar ist.

Es ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Harnblasenerkrankung durch die berufliche Exposition gegenüber 2-Naphthylamin verursacht worden ist. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der Ausführungen der Gutachter Prof. Dr. F in dessen Gutachten vom 09. Juli 2009, Prof. Dr. B in dessen Stellungnahme vom 17. Juli 2008 und Prof. Dr. K in dessen Gutachten vom 10. Juni 2003, die jedenfalls im Ergebnis übereinstimmend eine hinreichend wahrscheinliche Verursachung nicht feststellen konnten. Die im Berufungsverfahren auf Antrag der Klägerin nach § 109 gehörte Frau Dr. B hat mit ihrem Gutachten vom 26. März 2010 dieses Ergebnis in jeder Hinsicht bestätigt.

Während Prof. Dr. K eine mögliche Verursachung der Erkrankung durch die berufliche Exposition bereits allein aufgrund der nur geringen Exposition der Klägerin „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ sogar ausschloss, haben Prof. Dr. F und Prof. Dr. B, für den Senat überzeugend, die Expositionen der Klägerin gegenüber 2-Naphthylamin auf der einen Seite und die bei der Klägerin bestehenden besonderen Risiko- und außerberuflichen Verursachungsfaktoren auf der anderen Seite gegeneinander abgewogen und sind aufgrund dessen übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass die sehr geringe Exposition der Klägerin gegenüber dem kanzerogenen 2-Naphthylamin gegenüber den anderen Risikofaktoren deutlich zurücktritt und daher nicht wahrscheinlich ursächlich für die Erkrankung war. Diesen Feststellungen schließt sich das Gericht an. Zunächst einmal begegnet es keinen Bedenken, dass die Gutachter die Höhe der beruflich bedingten Exposition in ihre Erwägungen einfließen ließen, auch wenn eine exakte Dosis-Wirkungsbeziehung nicht medizinisch-wissenschaftlich begründet feststeht. Im Merkblatt zur BK 1301 (Bek. des BMA vom 12. Juni 1963, BArbBl. Fachteil Arbeitsschutz 1964, 129 f., zitiert nach Mehrtens/Brandenburg, die Berufskrankheitenverordnung) ist zur erforderlichen Dosis der Einwirkung zwar noch formuliert, dass Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege im Allgemeinen „nach mehrjähriger, gelegentlich auch mehrmonatiger Exposition mit aromatischen Aminen“ entstehen können. Allerdings können derartige Merkblätter nur dann für die Beurteilung herangezogen werden, wenn sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind und sich auf dem neuesten Stand befinden (BSG; Urteil vom 27. Juni 2006, Az. B 2 U 13/05 R, zitiert nach juris.de); davon kann im vorliegenden Fall wegen des Alters des Merkblattes nicht mehr ausgegangen werden. Es ist daher davon auszugehen, dass über die Anforderung einer Mindestdosis für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung der Belastung mit aromatischen Aminen derzeit noch kein Konsens besteht. Dies hat Dr. Win seinem Gutachtenvom 30. September 2007 ausgeführt. Etwas anderes ist auch der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur nicht zu entnehmen (vgl. etwa Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, Seite 1122; ebenso unter Auswertung weiterer Veröffentlichungen LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 07. September 2010, Az. L 1 U 2869/09, zitiert nach juris.de, m. w. N.). Dies führt jedoch weder dazu, dass auf die Überprüfung einer arbeitstechnischen Exposition verzichtet werden könnte, noch dazu, dass bereits jede minimale Exposition als wesentlicher Verursachungsfaktor im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre anerkannt werden könnte (so bereits LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. Januar 2011, Az. L 2 U 324/08). Die beruflich bedingte Exposition der Klägerin hat Prof. Dr. B unter Zugrundelegung ihrer Angaben mit höchstens 0,5 mg 2-Naphthylamin kumulativ während der gesamten Beschäftigungsdauer errechnet. Die auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG gehörte Dr. B kam in ihrem Gutachten vom 26. März 2010 auf eine kumulative Belastung über das gesamte Berufsleben von zirka 0,9 mg, also eine Belastung in einer nicht wesentlich abweichenden Höhe. Übereinstimmend haben Prof. Dr. B, Prof. Dr. F und Dr. Bdiese Belastung jedenfalls nicht für ausreichend gehalten.

Prof. Dr. F hat mit hoher Wahrscheinlichkeit die Harnblasenentleerungsstörung als Hauptursache für das Krankheitsgeschehen angesehen. Die hierfür gegebene Begründung überzeugte, zumal dies grundsätzlich auch von den anderen Gutachtern so gesehen wurde. So hat auch der vom Gericht gehörte Gutachter Dr. W in seinem Gutachten vom 30. September 2007 beschrieben, dass in der Blasenentleerungsstörung grundsätzlich ein Risikofaktor zu sehen ist, als er ausführte, dass lang anhaltende Stauungen im Harnabfluss als ungünstig zu betrachten seien. Denn infolge der Blasenentleerungsstörung verweilen kanzerogene Noxen länger in der Blase mit der Folge einer höheren neoplastischen Entartungstendenz des Urothels. Eine derartige Blasenentleerungsstörung besteht nach den Angaben der Klägerin gegenüber dem ihre Krebserkrankung behandelnden U-Krankenhaus ausweislich des Krankheitsberichtes vom 02. Mai 2001 bereits seit ihrer Kindheit. Prof. Dr. F sah deshalb in dieser Vorerkrankung die wesentliche Ursache für die Entstehung des Urothelkarzinoms.

Im Hinblick auf die Bewertung des Rauchverhaltens der Klägerin sind sich sämtliche Gutachter zunächst einmal dahin einig gewesen, dass Rauchen grundsätzlich ein erheblicher Risikofaktor für die Ausbildung eines Harnblasenkarzinoms ist. Die Gutachter haben hierbei die von der Klägerin zu ihrem Rauchverhalten gemachten unterschiedlichen Angaben berücksichtigt, die von zehn bis 15 Zigaretten täglich über einen Zeitraum von 20 Jahren (von 1980 bis 2000) entsprechend den Angaben der Klägerin gegenüber Dr. R zu Beginn des Verwaltungsverfahrens, über 10 bis 15 Zigaretten täglich für die Zeit von 1980 bis 1993, fünf bis zehn Zigaretten im Jahre 1996 und Nichtraucherin ab 1997 gegenüber Dr. W reichten, ohne dass für die abweichenden Angaben Begründungen genannt worden wären. Prof. Dr. B hat insoweit überzeugend die bereits genannte Exposition gegenüber 2-Naphthylamin aufgrund der beruflichen Tätigkeit und die gegenüber aromatischen Aminen aufgrund der Rauchergewohnheiten gegenübergestellt und ist hierbei zu dem Ergebnis gekommen, dass die kumulative Höhe der Exposition über das Tabakrauchen mindestens um den Faktor 5 höher liegt als die berufliche Exposition, und zwar selbst dann, wenn man die Angaben der Klägerin sowohl zu ihrer höheren beruflichen Belastung, auch soweit sie vom Arbeitgeber bzw. Dr. R nicht bestätigt worden sind, und auch die erst im Berufungsverfahren gemachten Angaben der Klägerin zu ihrem geringeren Rauchverhalten zugrunde legt, obgleich nach Einschätzung des Gerichtes Angaben in einem frühen Stadium des Verfahrens grundsätzlich glaubhafter sind als später gemachte Angaben.

Übereinstimmend kamen die Gutachter Prof. Dr. F und Prof. Dr. B nach einer Abwägung der möglichen Verursachungsfaktoren sodann zu dem Ergebnis, dass die von sämtlichen Gutachtern nur als sehr gering angesehene Exposition aufgrund ihrer Tätigkeit im Labor gegenüber den anderen Risikofaktoren bzw. Expositionen weit zurücktritt, dies war überzeugend. Eine weit zurücktretende Ursache ist jedoch nicht mehr teilursächlich im Sinne der Wesentlichkeitstheorie.

Die Ausführungen des Gutachters Dr. W in dessen Gutachten vom 30. September 2007 zur Kausalität überzeugten hingegen nicht. Zunächst einmal ging Dr. W davon aus, dass wegen des Fehlens einer medizinisch-wissenschaftlich anerkannten Dosiswirkungsbeziehung von einem „Alles-oder-nichts“-Prinzip auszugehen sei und dass für die Ablehnung einer BK gegenwärtig keine genügend gesicherten Erkenntnisse bestünden. Dieser Ausgangspunkt des Gutachters entspricht nicht der ständigen Rechtsprechung in der gesetzlichen Unfallversicherung, wonach die wahrscheinliche Verursachung positiv festgestellt werden muss und es nicht Aufgabe der Beklagten oder des Gerichts ist, vom Bestehen einer BK ausgehend die Ablehnung der Anerkennung einer BK besonders zu begründen. Ferner führt - wie bereits dargelegt - das Fehlen einer anerkannten Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht per se dazu, dass bereits eine minimale Exposition als wesentlicher Verursachungsfaktor im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre anerkannt werden könnte (so wohl Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 7. September 2010, Az. L 1 U 2869/09, zitiert nach juris.de). Es ist wissenschaftlich nicht umstritten, dass aromatische Amine nicht nur in Stoffen vorkommen, mit denen Versicherte beruflich Umgang haben. Dr. W beschrieb dies dahin, dass aromatische Aminoverbindungen seit über 100 Jahren vielfältig genutzte Chemikalien für unterschiedlichste chemische Produkte sind. Krebserzeugende aromatische Amine finden sich ubiquitär in der Umwelt. Sie finden sich in Nahrungsmitteln wie gegrilltem Fleisch, als Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln, gelangen als Gummiabrieb von Reifen in die Umwelt, finden Verwendung in der Lokalanästhesie, stellen Verunreinigungen von Haarfärbemitteln dar und sind Bestandteil des Tabakrauches (vgl. Weiß, Hennig, Brüning, Arbeitsmed.Sozialmed.Umweltmed. 45, 5, 2010, mit Hinweis auf die einschlägigen wissenschaftlichen Studien). Dr. W nannte zusätzlich noch Pharmaka, Pestizidrückstände, Kosmetika, Kugelschreiberminen, Lebensmittelfarbstoffe, schwarzen Tee, Wasser und Lederprodukte. Wenn jede Exposition gegenüber aromatischen Aminen, die größer als null ist, ausreichen soll für die Verursachung einer Krebserkrankung der Harnwege, so ist nicht nachvollziehbar, weshalb ausgerechnet eine auch noch so geringe berufliche Exposition für die Erkrankung wesentlich ursächlich gewesen sein soll, während die sonstigen, nach den Ausführungen des Gutachters vielfältigen anderen Nutzungen der Chemikalie nicht in die Abwägung einbezogen werden und insbesondere auch der nicht unerhebliche Zigarettenkonsum, der – wie von Prof. Dr. B dargelegt - vom Umfang her die berufliche Exposition um eine Vielfaches übersteigt, nicht relevant gewesen sein soll. Will man geringste berufliche Einwirkungen als wesentlichen Verursachungsfaktor ausreichen lassen, lässt sich wissenschaftlich nicht mehr erklären, warum die übrigen beispielhaft genannten nicht-beruflichen Expositionsquellen, die ebenfalls geringfügige Einwirkungen verursachen, nicht auch Verursachungsfaktoren sein sollten. Dass nur eine dieser Geringfügigkeiten – nämlich die berufliche - dann wesentlich sein soll, ist nachvollziehbar nicht mehr zu begründen. Letztlich begründete Dr. W auch für den Fall der Klägerin nicht nachvollziehbar, weshalb hinter den auch von ihm als nur sehr geringfügig angesehenen beruflichen Expositionen der Klägerin die übrigen Expositionen und ihre erheblichen Risikofaktoren derart zurücktreten sollten, dass nach wie vor die geringfügige Exposition aufgrund der beruflichen Tätigkeit als wesentlich ursächlich anzusehen sein soll.

Auch die Einwände der Klägerin überzeugten nicht. Ob ihren Angaben zu einer gegenüber den arbeitgeberseitig gemachten Ausführungen erhöhten beruflichen Exposition oder zu einem geringeren Rauchverhalten als zunächst etwa gegenüber Dr. R angegeben zu folgen ist, kann dahinstehen, da der Kausalitätsbetrachtung jeweils die der Klägerin günstigsten Werte zugrunde gelegt worden sind. Die von der Klägerin beschriebenen Bystander-Expositionen aufgrund des Umstandes, dass sie sich aus verschiedenen Gründen auch dann in dem Raum aufhielt, in dem mit mit 2-Naphtylamin verunreinigtem Material gearbeitet wurde, wurde von Prof. Dr. B mit oben dargelegter überzeugender Begründung als nicht relevant eingestuft. Die zeitliche Länge der Dauerkatherisierung spielte bei sämtlichen vom Gericht gehörten Gutachtern keine Rolle, so dass es auch hierauf nicht ankam. Zuletzt führte die Klägerin aus, dass eine Bewertung der verschiedenen Ursachen nach dem Prinzip der Synkanzerogenese zu erfolgen habe und dass dies die Gutachter verkannt hätte. Unter dem Gesichtspunkt einer Synkanzerogenese ist das Einwirken von Arbeitsstoffen mehrerer Listen-BKs zu verstehen, die im Zusammenwirken eine Krebserkrankung verursachen können (BSG, Urteil vom 12. Januar 2010, Az.: B 2 U 5/08 R, zitiert nach juris.de). Vorliegend ist das Zusammenwirken verschiedener Arbeitsstoffe jedoch in keiner Weise streitig. Sämtliche Gutachter sind vielmehr davon ausgegangen, dass im Falle der Klägerin lediglich ein einziger Stoff kanzerogen wirksam gewesen sein kann, nämlich 2-Naphthylamin. Jedenfalls in einem derartigen Fall ist es unabdingbar zu prüfen, ob dieser einzige in Betracht kommende Arbeitsstoff nach der Theorie der wesentlichen Bedingung ursächlich zumindest im Sinne einer wesentlichen Teilursache war. Dies ist aus den genannten Gründen vorliegend nicht der Fall gewesen. Soweit die Klägerin gemeint haben könnte, dass die von den Gutachtern als möglich beschriebene überadditive Wirkung von Zigarettenrauch einerseits und beruflicher Exposition andererseits stärker berücksichtigt werden müsste, führt dies ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Falle der Klägerin ist gesichert, dass die Exposition gegenüber dem Zigarettenrauch um ein Vielfaches höher als die aus der beruflichen Exposition folgende Belastung war, wie dies überzeugend insbesondere Prof. Dr. B dargestellt hat. Auch Dr. W hat dies offensichtlich so gesehen, als er formulierte, dass sich die „möglicherweise nur geringe berufliche Belastung“ durch den Nikotinabusus wesentlich verstärkt habe. Jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die berufliche Exposition gegenüber außerberuflichen Verursachungsfaktoren deutlich zurücktritt, kann ein - zudem nur als möglich bezeichneter - überadditiver Mechanismus nicht dazu führen, dass die eigentlich nicht wesentliche berufliche Exposition deswegen als wesentlich anzuerkennen wäre.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist auch den Ausführungen des Hessischen LSG in dem von ihr zitierten Urteil nichts anderes zu entnehmen. Hier ging es um die Wechselwirkung mit einer anderen Noxe aufgrund von mehreren beruflich bedingten Einwirkungen, die zudem zu Recht lediglich im Rahmen einer - vorliegend nicht streitgegenständlichen - so genannten Wie-BK im Sinne des § 9 Abs. 2 SGG überprüft worden ist, also um einen mit dem vorliegenden nicht vergleichbaren Fall. Im Hinblick auf den Zigarettenkonsum hat auch das LSG Hessen im Anschluss an die gutachterlichen Feststellungen die kumulativen Dosen aufgrund des Zigarettenkonsums des Klägers den arbeitsbedingt verursachten Einwirkungen gegenübergestellt und für diesen Fall eine arbeitsbedingt zirka 15-fach höhere Einwirkung der aus beruflicher Exposition aufgenommenen krebserzeugenden Noxe angenommen. Genau diese Abwägung hat vorliegend Prof. Dr. B ebenfalls vorgenommen, lediglich ist sie im Falle der Klägerin eindeutig zu ihren Lasten ausgefallen.

Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG bestanden nicht.Urteil: