Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 22.06.2016 | |
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Aktenzeichen | L 13 VE 12/15 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 1 OEG |
1. Zur individuellen Bedeutung einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung des Vergewaltigers im späteren OEG - Verfahren
2. Zur Einholung eines aussagepsychologischen Gutachters zu einem psychisch erkrankten Verbrechensopfer
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 5. Februar 2015 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2010 verpflichtet, der Klägerin mit Wirkung ab 6. Juli 2007 wegen Folgen psychischer Traumen als Schädigungsfolgen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz, insbesondere eine Beschädigtenrente, nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 zu gewähren.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten gerichtlichen Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Das Landgericht Potsdam, große Strafkammer, verurteilte den aus Jugoslawien stammenden S am 2. Dezember 1999 wegen Vergewaltigung der Klägerin zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung und Freiheitsberaubung sowie wegen Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Dem legte das Gericht folgenden Sachverhalt zugrunde:
In der Nacht vom 27. zum 28. August 1997 gegen 02.00 Uhr beabsichtigte die zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alte R, von einer Feier in F kommend, zunächst in Begleitung eines früheren Freundes, den Heimweg anzutreten. Sie wohne zu dieser Zeit in der N Straße in F bei einem Freund ihrer Familie, dem Zeugen W G, zur Untermiete. Nachdem der Bekannte sie bis zur Hstraße/Ecke B Straße begleitet hatte, trennten sie sich und die Zeugin setzte ihren Heimweg allein fort. Als sie die Hstraße weiter entlang lief, hörte sie hinter sich eilige Schritte. Als sie sich umwandte, konnte sie jedoch im Dunkeln niemanden wahrnehmen. Die Hstraße ist an dieser Stelle an der einen Seite, auf der die Zeugin lief, weitläufig mit Einfamilienhäusern bebaut, auf der anderen Straßenseite grenzt ein kleines Waldstück an. Die Zeugin lief nunmehr mit schnelleren Schritten die Straße entlang und wurde plötzlich von hinten mit einem Arm in Brusthöhe umfasst. Mit der anderen Hand wurde ihr ein Messer, das wie ein Küchenmesser aussah, an den Hals gedrückt. Nachdem die Zeugin ihren Kopf leicht nach hinten gedreht hatte, bemerkte sie den Angeklagten, den sie zwar nur vom Sehen kannte, von dem sie aber wusste, dass es sich bei ihm um den Lebensgefährten ihrer damaligen Freundin, der Frau C G, handelt. Sie forderte den Angeklagten auf, sie loszulassen, damit sie weiter nach Hause gehen könne. Der Angeklagte lachte und sagte zu ihr, dass die C (G), eine „dumme Kuh“ sei und dass er sie (die Zeugin R) liebe. Er steckte sein Messer wieder in die Hosentasche und fing an, sich die Hose zu öffnen. Dabei schob er die Zeugin bereits vor sich her in Richtung eines kleinen Waldstückes auf der anderen Straßenseite. Die Zeugin rief um Hilfe, als sich auf der Straße ein grauer Pkw näherte. Dessen Fahrer verlangsamte zunächst seine Fahrt, fuhr aber anschließend ohne anzuhalten weiter. Die Geschädigte rief zwar weiter um Hilfe, ihre Rufe wurden jedoch nicht gehört. Der Angeklagte fasste die Zeugin nunmehr mit beiden Händen an den Armen und schob sie weiter vor sich her. In dem bezeichneten Waldstück angekommen, forderte er die Zeugin auf, sich auszuziehen. Die Zeugin weigerte sich dem nachzukommen und bat den Angeklagten weiterhin, sie nach Hause gehen zu lassen. Dieser lachte nur wieder und stieß die Zeugin, die versuchte sich loszureißen, zu Boden, so dass die Zeugin auf dem Rücken zu liegen kam. Er hockte sich seitlich neben die Zeugin und schlug ihren Rock ihres schwarzen Sommerkleides mit einer Hand nach oben. Mit der anderen Hand hielt er die Zeugin am Oberarm fest und mit einem Knie drückte er ihre Beine herunter, damit sie nicht aufstehen könne. Wechselseitig mit einer Hand zog er dann den Slip der Zeugin bis zu ihren Fußknöcheln herunter, sowie seine Hose als auch seinen Slip aus. Er legte sich sodann auf die Zeugin und versuchte, mit seinen Beinen die Beine der Zeugin zu spreizen. Hierbei hinderte ihn ihr bis zu ihren Fußknöcheln heruntergeschobener Slip, so dass der Angeklagte mehrmals versuchen musste, seinen erigierten Penis in die Vagina der Zeugin einzuführen. Dabei ging er sehr gewaltsam vor und verursachte der Zeugin im Vaginalbereich Schmerzen. Nachdem es ihm letztlich gelang, seinen Penis in die Vagina der Zeugin einzuführen, führte er mit ihr den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch. Während des gesamten Geschlechtsaktes hielt er beide Hände der Geschädigten überkreuzt über ihrem Kopf fest.
Kurzzeitig ließ er dann die Zeugin los, um aufzustehen und sich anzukleiden. Gleichfalls forderte er die Zeugin hierzu auf. Als sie sich angezogen hatte und nach Hause laufen wollte, ergriff der Angeklagte erneut mit einer Hand ihren linken Unterarm und mit seiner anderen Hand ihre Haare. Er zog sie so, entgegengesetzt ihres Heimweges, stadteinwärts mit sich. Als ihn wieder bat, sie gehen zu lassen und laut um Hilfe schrie, schlug der Angeklagte die Zeugin mehrmals mit der flachen Hand in das Gesicht und zog sie noch fester an den Haaren mit sich. Als sie in die Nähe des noch geöffneten Imbisses „G“ kamen, griff er noch fester zu und wies die Zeugin an, nicht um Hilfe zu schreien. Durch die hieraus verursachten Schmerzen und die große Angst vor dem Angeklagten unterließ die Geschädigte weiteren Widerstand. Der Angeklagte hielt sich so weit wie möglich von dem Imbissstand fern. Nach Passieren des Bahnhofes in F, der Angeklagte hielt die Zeugin noch immer fest umfasst, führte er sie zu einem Landsmann, der in der Nähe des Bahnhofes in einem Wohncontainer ein Zimmer bewohnte. Nachdem der Angeklagte sich kurz in seiner Muttersprache mit seinem Bekannten unterhalten hatte, fing die Zeugin an zu weinen und schrie, dass sie soeben vergewaltigt worden sei. Daraufhin forderte der Landsmann den Angeklagten und die Zeugin auf, sein Zimmer sofort zu verlassen. Auf der Straße schob der Angeklagte, der die Zeugin weiter festhielt, diese von der Rstraße in Richtung eines größeren unbebauten Wiesengrundstückes. Hier forderte er die Zeugin erneut auf, sich auszuziehen. Als sie sich wieder weigerte dem nachzukommen, drückte der Angeklagte sie auf den Boden, hockte sich seitlich neben sie und schlug den Rock ihres Kleides mit einer Hand hoch. Diesmal zog er der Geschädigten den Slip vollkommen aus. Dabei benutzte er wiederum nur eine Hand, um sich und die Zeugin auszuziehen, mit der anderen Hand hielt er sie weiterhin fest. Zunächst legte sich der Angeklagte auf die Zeugin und spreizte ihre Beine, indem er dies mit seinen Beinen auseinanderdrückte. Er drang mit seinem erigierten Penis in ihre Vagina ein und führte Beischlafbewegungen aus. Währenddessen hielt er die Arme der Geschädigten gekreuzt über deren Kopf mit einer Hand fest. Kurze Zeit später richtete er sich mit seinem Oberkörper auf. Mit einer Hand die Zeugin an deren Haaren ziehend, zog er auch deren Oberkörper nach oben, so dass sie letztlich auf seinem Schoß zu sitzen kam. Mit einer Hand an ihrem Becken und mit seiner anderen Hand weiterhin in den Haaren der Zeugin, drückte und zog er sie auf und nieder. Nach mehrmaligem Durchführen dieser Bewegung forderte er die Zeugin auf, sich umzudrehen und sich vor ihm hinzuknien. Die Zeugin verweigerte sich ihm, so dass er sie nach hinten stieß und sie auf ihrem Gesäß zu sitzen kam. Er richtete sich auf seine Knie und drehte die Zeugin mit beiden Händen, indem er die Zeugin am Becken fasste, gewaltsam herum, so dass sie auf ihren Knien und Ellenbogen zu liegen kam. Von hinten führte er seinen Penis nunmehr in die Vagina der Zeugin ein und führte mit ihr den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch. Danach stand er auf und zog sich an. Er nahm erneut sein Taschenmesser aus der Hosentasche und warf dieses an der Zeugin vorbei in Richtung eines Baumstammes, in dem das Messer mit der Spitze stecken blieb. Zugleich drohte er der Zeugin, dass er mit ihr dasselbe machen werde, wenn sie über die Tat reden oder gar eine Anzeige machen werde. Er zog das Messer wieder aus dem Baumstamm und verstaute es in seiner Hosentasche. Sodann lief er eiligen Schrittes davon. Die Zeugin kleidete sich wieder vollständig an und lief anschließend zu ihrer Wohnung.
Gegen 04.00 Uhr dort ankommend, sah sie durch die geöffnete Wohnzimmertür, dass der von ihr als Onkel bezeichnete Zeuge W G bereits aufgestanden war. Sie trat zu ihm in das Wohnzimmer und erzählte ihm weinend und aufgeregt, dass sie soeben von einem Ausländer vergewaltigt worden sei. Einzelne Details erzählte sie dem Zeugen nicht. Der Zeuge riet ihr anschließend selbst zu entscheiden, ob sie eine Anzeige machen will. Nachdem die Zeugin sich gesäubert und wieder etwas beruhigt hatte, ging sie zu Bett.
Die nächsten zwei bis drei Tage verließ die Zeugin R ihre Wohnung nicht. Insbesondere erstattete sie aus Angst vor der Drohung des Angeklagten zunächst keine Anzeige. Weil ihre Abwesenheit durch die Zeugin G bemerkt wurde, die sie in der Regel fast täglich am Imbissstand in F traf, rief sie bei der Geschädigten nach einigen Tagen zu Hause an. Gleich am Telefon erzählte ihr die Zeugin R, dass der Angeklagte sie vergewaltigt habe. Sofort nach Beendigung des Telefongesprächs eilte die Zeugin G zur Geschäftigen nach Hause, wobei ihr von der Zeugin R auch Einzelheiten der Vergewaltigung mitgeteilt wurden. Noch am selben Tag, dem 4. September 1997, ging die Zeugin G zur Polizei und brachte die Vergewaltigung zur Anzeige. Bereits am darauf folgenden Tag, dem 5. September 1997, wurde die Geschädigte zur Polizei vorgeladen und entschloss sich nunmehr, selbst die Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen und auszusagen.
Die Geschädigte R erlitt durch das Festhalten des Angeklagten am linken Unterarm drei kleine Hämatome. Durch die Schläge in das Gesicht erlitt sie Rötungen und leichte Schwellungen. Infolge dieser Taten traten bei der Geschädigten Angstzustände und Alpträume auf. Über einen längeren Zeitraum war sie nicht in der Lage, mit einem Partner den Geschlechtsverkehr auszuüben. Auch heute noch kommt es bei sexuellen Handlungen mit ihrem Lebenspartner gelegentlich zu Störungen.
Die Revision des S wurde von dem Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 22. Mai 2000 verworfen, weil er sie einstimmig als offensichtlich unbegründet erachtete.
Am 6. Juli 2007 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Nach Beiziehung der Ermittlungsakten und Einholung einer ärztlichen Auskunft des Arztes Dipl. med. K, der die Klägerin am 5. September 1997 behandelt hatte, lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 19. November 2007 ab. Zur Begründung führte er aus, die vorliegenden Unterlagen lieferten nicht den Nachweis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen für eine Entschädigung. Die Klägerin habe sich nicht in einer völlig hilflosen Position befunden, da es ihr noch möglich gewesen sei, sich durch Hilferufe oder Klingeln bei Anwohnern bemerkbar zu machen. Außer Hämatomen am linken Unterarm hätten keine körperlichen Anzeichen einer Vergewaltigung vorgelegen. Die zum Verlauf des Tatgeschehens vorliegenden Aussagen – die nicht näher beschrieben werden – seien widersprüchlich. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch.
Die Fachabteilung des Beklagten sah sich nicht in der Lage, dem Widerspruch abzuhelfen: Zwar sei das Strafgericht den „Einlassungen“ der Klägerin gefolgt. Ein Nachweis für die Richtigkeit ihrer Angaben habe dennoch nicht erbracht werden können, denn der Beschuldigte bestreite die Vergewaltigung. Auch hätte die Klägerin in dem Moment, als der Beschuldigte sein Messer weggesteckt und seine Hose geöffnet habe, die Flucht ergreifen können. Ein Erstarren vor Schreck sei wenig wahrscheinlich, da die Klägerin den Beschuldigten gekannt habe. Auch sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen der Beschuldigte nach der (ersten) Vergewaltigung mit seinem Opfer in eine Pension gegangen sei, um einen Landsmann aufzusuchen. Der Widerspruch wurde an die Abteilung für Rechts- und Prozessangelegenheiten abgegeben. Der dortige Dezernent S leitete die Akte im März 2009 mit dem Bemerken, dass nach Auswertung des Strafurteils die bisherige Auffassung nicht mehr aufrecht erhalten werden könne, zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an die Fachabteilung zurück, um die Schädigungsfolgen zu ermitteln und einen Abhilfebescheid zu erteilen. Dem verschloss sich die Fachabteilung. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 2010 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht bewiesen seien: Unbeteiligte Zeugen für den Angriff hätten nicht ermittelt werden können, der Beschuldigte habe den Vorgang gänzlich anders geschildert, und objektive Beweismittel für die Richtigkeit der Angaben der Klägerin lägen nicht vor.
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Potsdam hat die Klägerin Versorgung nach dem OEG begehrt. Das Sozialgericht hat die Klägerin als Beteiligte und die Zeugin C G in der mündlichen Verhandlung vom 29. August 2013 vernommen sowie neben Befundberichten die schriftliche Auskunft des Arztes Dipl. med. K vom 23. April 2012 und das aussagepsychologische Gutachten der Diplompsychologin L vom 27. November 2014 eingeholt.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 5. Februar 2015 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Es sei nicht davon überzeugt, dass gegen die Klägerin ein rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG verübt worden sei. Auch unter Anwendung des Beweismaßstabes des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) sei es nicht relativ wahrscheinlich, dass die Klägerin Opfer mehrerer Vergewaltigungen geworden sei.
Denn der die Klägerin behandelnde Arzt Dipl. med. K habe in seiner Auskunft bekräftigt, dass die Klägerin weder anlässlich der Untersuchung am 5. September 1997 noch während der späteren hausärztlichen Betreuung Angaben über eine Vergewaltigung gemacht habe, was im Hinblick auf die langjährige Arzt-Patienten-Beziehung nicht recht nachvollziehbar sei. Auch sei an dem schwarzen knöchellangen Kleid, das die Klägerin in der fraglichen Nacht getragen habe, bei der kriminaltechnischen Untersuchung weder Spermatozoen noch Plattenepithelien gefunden worden. Bei der Befragung durch die Sachverständige habe die Klägerin angegeben, der angeschuldigte Täter habe ihr die Sachen vom Leib gerissen und sie in mehreren Stellungen vergewaltigt, wobei es zum Samenerguss gekommen sei. Es sei nicht schlüssig, dass es bei einem gewaltsamen ungeschützten Geschlechtsverkehr auf einem Kleid nicht zu den genannten Anhaftungen gekommen sei. Auch habe die Klägerin in einer früheren Vernehmung angegeben, dass der angeschuldigte Täter das Kleid hochgeschoben habe. Daneben lägen weitere Widersprüche in ihren Aussagen vor, insbesondere hinsichtlich der Art ihrer Versuche, während des Geschehens Hilfe Dritter zu erlangen, der Art der Einschüchterung nach den Vergewaltigungen, ihrer Anwesenheit in der Wohnung des W G am 4. und 5. September 1997 und des genauen Zeitpunkts ihres Gesprächs mit ihm am Morgen des 28. August 1997. Eine Vernehmung des W G sei dem Gericht nicht möglich gewesen, da er verstorben sei. Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin würden auch dadurch geweckt, dass sie im Antragsverfahren angegeben habe, sie hätte nach der behaupteten Vergewaltigung massive sexuelle Probleme gehabt, und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 29. August 2013 geschildert habe, sie habe zu dem Vater ihres ersten Kindes erst Anfang 1998 sehr behutsam eine Beziehung aufbauen können. Tatsächlich müsse dieses Kind aber bereits im Oktober 1997 gezeugt worden sein. Schließlich sei die Sachverständige L zu der schlüssigen Einschätzung gelangt, dass eine Abgrenzung zwischen einer einvernehmlichen Handlung und einem unfreiwilligen Geschehen auf Grund der Detailarmut der Schilderung zu Gewalt- und Wehrmomenten nicht möglich sei. Darüber hinaus sei die Sachverständige von einer nachträglichen Bearbeitung der Aussage durch die seit 2011 stattfindenden Therapien ausgegangen.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M vom 26. September 2015.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 5. Februar 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2010 zu verpflichten, ihr mit Wirkung ab 6. Juli 2007 wegen Folgen psychischer Traumen als Schädigungsfolgen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz, insbesondere eine Beschädigtenrente, nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Diplompsychologin N L zu vernehmen,
ferner hilfsweise,
ein neues aussagepsychologisches Gutachten einzuholen,
weiter hilfsweise,
den damals behandelnden Hausarzt der Klägerin Dipl. med. K als Zeugen zu vernehmen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, da der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 19. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2010 rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Denn sie hat Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 30.
Die Klägerin erlitt eine Schädigung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person.
Nach der Überzeugung des Senats ist die Klägerin in der Nacht vom 27. zum 28. August 1997 zweimal vergewaltigt worden. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus dem Urteil des Landgerichts Potsdam vom 2. Dezember 1999, das den Täter S S u.a. wegen Vergewaltigung der Klägerin zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilte.
Die Ansicht des Beklagten, die beiden Vergewaltigungen seien nicht nachgewiesen, ist nicht nachvollziehbar. Es entbehrt jeder Grundlage, wenn der Beklagte der Klägerin im Bescheid vom 19. November 2007 vorhält, sie habe sich nicht in einer völlig hilflosen Position befunden. Denn die Klägerin war seinerzeit 17 Jahre alt und dem Täter, der sie so stark am Oberarm packte, dass die Blutergüsse noch eine Woche später deutlich zu sehen waren, sie an den Haaren zerrte, in das Gesicht schlug und mit einem Messer bedrohte, vollständig ausgeliefert. Entgegen der Ansicht des Beklagte können Zweifel an dem Tatgeschehen nicht damit begründet werden, dass außer Hämatomen am linken Unterarm keine körperlichen Anzeichen einer Vergewaltigung vorgelegen hätten, da die Klägerin erst am 5. September 1997, also mehr als eine Woche nach den Vergewaltigungen, von zwei Polizeibeamten zu einem Arzt begleitet wurde. Wenn in der Verwaltungsakte darüber hinaus die Rede davon ist, dass das Strafgericht den „Einlassungen“ der Klägerin gefolgt sei, zeugt dies von einer Einstellung, die jedenfalls von keinem Fürsorgegedanken gegenüber dem Opfer einer Straftat getragen ist, denn die Klägerin war in dem Strafprozess Zeugin und hat dort als eine solche ausgesagt; eine „Einlassung“ tätigt der Angeklagte zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Vor dem Hintergrund, dass die damalige Lebensgefährtin des Täters der Klägerin berichtet hatte, dass er sie mehrfach geschlagen habe, ist die Schlussfolgerung des Beklagten abwegig, es sei wenig wahrscheinlich, dass die Klägerin, als der Täter sie nachts auf einer einsamen Straße plötzlich von hinten packte und ein Messer an ihren Hals drückte, vor Schreck erstarrt sei, weil sie den Täter gekannt habe. Gleiches gilt für die weitere Überlegung des Sachbearbeiters des Beklagten, die Klägerin hätte in dem Moment, als der Täter sein Messer weggesteckt und seine Hose geöffnet habe, die Flucht ergreifen können. Hiermit wurde die Klägerin erneut zum Opfer, diesmal eines offensichtlich fehlgeleiteten Behördenmitarbeiters, gemacht, der einem siebzehnjährigen Mädchen, das zwei durch eine brutale Vorgehensweise des Täters und die massive Bedrohung geprägte Vergewaltigungen erlitten hat, vorwirft, sie hätte die Taten vermeiden können.
Auch aus der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2010 ergeben sich nicht ansatzweise hinreichende Gründe, die es rechtfertigten, von den Feststellungen der großen Strafkammer des Landgerichts, die in einer Besetzung von zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen nach einer mehrtägigen Verhandlung mit Vernehmungen diverser Zeugen zu der Überzeugung gelangt ist, dass S S die Klägerin zweimal vergewaltigt hatte, abzuweichen. Wenn der Beklagte anführt, dass „unbeteiligte“ Zeugen für den Angriff nicht hätten ermittelt werden können, übersieht er in tatsächlicher Hinsicht, dass es derartige Zeugen nicht gab, weil der Täter die Klägerin das erste Mal in einem Waldstück und das zweite Mal auf einem von der Straße nicht einsehbaren unbebauten Grundstück vergewaltigt hatte, und verkennt zum anderen in rechtlicher Hinsicht, dass es im aktuellen deutschen Recht keine Beweisregel gibt, die für den Vollbeweis die Aussage unbeteiligter Zeugen fordert. An der Glaubwürdigkeit der Klägerin, die im Strafverfahren als „beteiligte“ Zeugin ausgesagt hatte, bestand für das Landgericht kein Zweifel. Für den Beklagten bestand schon deshalb kein Anlass, sich über diese Entscheidung hinwegzusetzen, weil er (abgesehen von der Einholung einer ärztlichen Auskunft des die Klägerin seinerzeit behandelnden Arztes) keine eigenen Ermittlungen durchführte. Die fehlende Überzeugungskraft des Begründungselements für die Zurückweisung des Widerspruchs, der Beschuldigte habe den Vorgang gänzlich anders geschildert, wurde von dem Beklagten selbst erkannt, der im Vermerk vom 1. September 2008 zu Recht ausführte, dass in der Regel in Vergewaltigungsfällen Aussage gegen Aussage stehen wird.
Auch aus den Darlegungen des Sozialgerichts ergeben sich keine Anhaltspunkte, welche die Überzeugungskraft der strafgerichtlichen Feststellung, dass die Klägerin in der Nacht vom 27. zum 28. August 1997 zweimal vergewaltigt wurde, in Frage stellen können.
Es überzeugt nicht, wenn das Sozialgericht an den Angaben der Klägerin, vergewaltigt worden zu sein, mit der Begründung zweifelt, es sei im Hinblick auf die langjährige Arzt-Patienten-Beziehung nicht recht nachvollziehbar, dass sie – wie der Arzt Dipl. med. K in seiner schriftlichen Auskunft vom 23. April 2012 ausgesagt hat – weder anlässlich der Untersuchung am 5. September 1997 noch während der späteren hausärztlichen Betreuung Angaben über eine Vergewaltigung gemacht habe. Dieser Einschätzung vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts darf nicht in genereller Betrachtungsweise auf das Vertrauensverhältnis abgestellt werden, das sich regelmäßig zwischen Patient und Arzt bei einer langjährigen Beziehung zu entwickeln pflegt. Entscheidend ist vielmehr, welches Vertrauen die Klägerin zu ihrem Arzt tatsächlich aufgebaut hat. Abgesehen davon, dass hierzu jegliche Ermittlungen des Sozialgerichts fehlen, trägt der Umstand, dass die Klägerin die Vergewaltigung gegenüber dem behandelnden Arzt nicht erwähnte, nicht den Schluss, dass die Klägerin nicht vergewaltigt worden wäre. Es spricht mehr dafür, dass die seinerzeit siebzehnjährige Klägerin aus Scham davon absah, sich dem Dipl. med. K zu offenbaren, zumal dieser kein Gynäkologie ist, und in der Folgezeit infolge ihrer psychischen Erkrankung davon abgehalten wurde, da ein derartiges Vermeidungsverhalten, wie sich aus den Ausführungen der Sachverständigen Dr. M ergibt, aus der posttraumatischen Belastungsstörung folgt, an der die Klägerin leidet.
Zu Unrecht zieht das Sozialgericht seine Zweifel an den Angaben der Klägerin daraus, dass bei der kriminaltechnischen Untersuchung an dem schwarzen knöchellangen Kleid, das sie in der betreffenden Nacht getragen hatte, weder Spermatozoen noch Plattenepithelien gefunden wurden. Die Ansicht des Sozialgerichts, es sei nicht schlüssig, dass es „bei einem gewaltsamen ungeschützten Geschlechtsverkehr auf einem Kleid der angegebenen Länge nicht zu den oben genannten Anhaftungen“ gekommen sei, überzeugt nicht. Das Sozialgericht geht selbst davon aus, dass es zu „geschlechtlichen Handlungen“ zwischen der Klägerin und S gekommen ist, legt aber nicht dar, wie es zu der Schlussfolgerung gelangt ist, dass bei einem freiwilligen Geschlechtsverkehr keine Anhaftungen auf das Kleid kommen. Woher es seine Sachkunde ableitet, derartige kriminaltechnische Fragen beurteilen zu können, hat das Sozialgericht nicht dargelegt. Dies kann jedoch offen bleiben, da der Täter vor dem erzwungenen Geschlechtsverkehr das Kleid hochgeschoben hatte. Im Übrigen bezog sich die von dem Sozialgericht angeführte Äußerung der Klägerin gegenüber der Diplompsychologin L, der Täter habe ihr die Sachen vom Leib gerissen, nicht auf das Kleid, sondern, wie sie im selben Gespräch konkretisiert hat, auf ihre Unterwäsche, so dass insoweit kein Widerspruch vorliegt.
Vereinzelte Abweichungen in den Angaben der Klägerin bei ihrer polizeilichen Vernehmung vom 5. September 1997, in ihrer Zeugenaussage vor dem Strafgericht am 18. November 1999 (die mangels Protokollierung nur indirekt aus den Gründen des Urteils vom 2. Dezember 1999 erschlossen werden können), im Rahmen der öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts am 29. August 2013 und gegenüber der Gutachterin während der Exploration vom 22. April 2014, insbesondere hinsichtlich der Art ihrer Versuche, die Hilfe Dritter zu erlangen, während sie sich in der Gewalt des Täters befunden hatte, und der Art und Weise, wie der Täter sie nach den Vergewaltigungen eingeschüchtert hatte, sind nicht geeignet, ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen, da sie nur Details außerhalb des Kerngeschehens betreffen und (abgesehen von ihrer Aussage bei der Polizei) einen langen Zeitraum nach den Gewalttaten erfolgten. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts entstehen aus dem polizeilichen Vermerk vom 4. September 1997, dass an diesem Tag in der Wohnung niemand angetroffen worden sei, keine Ungereimtheiten dahingehend, wie lange die Klägerin ihre Wohnung nicht verlassen hat. Denn den Feststellungen im strafrechtlichen Urteil zufolge verließ sie lediglich die nächsten zwei bis drei Tage nach der Tat ihre Wohnung nicht.
Die Gewissheit des Senats, dass die Klägerin in der Nacht vom 27. zum 28. August 1997 Opfer von zwei Vergewaltigungen wurde, wird auch nicht dadurch erschüttert, dass die zeitliche Abfolge der Geschehnisse nach ihrer Rückkehr in ihre Wohnung unklar ist. Nach Auswertung der zeugenschaftlichen Vernehmung der Klägerin und des von ihr als Onkel bezeichneten W G hielt das Strafgericht fest, dass die Klägerin, zu Hause angekommen, in das Wohnzimmer getreten und dem Zeugen W G weinend erzählt hatte, vergewaltigt worden zu sein. Nachdem sie sich gesäubert hatte, war sie ins Bett gegangen. Demgegenüber hat die Klägerin im Rahmen der öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts am 29. August 2013 geschildert, sie sei gleich ins Bad gegangen und erst danach von dem Zeugen W G gefragt worden, was denn los sei. Diese Abweichungen in der chronologischen Abfolge erachtet der Senat für unerheblich, da zu seiner Überzeugung fest steht, dass sich die Klägerin – entweder vor oder nach dem Baden – gegenüber dem Zeugen W G offenbart hat. Im Übrigen ist eine Vernehmung dieses Zeugen, dessen Aussage auch in dieser Hinsicht vom Strafgericht gewürdigt worden war, nicht mehr möglich, da er verstorben ist.
Das Sozialgericht sieht schließlich einen Widerspruch in den Angaben der Klägerin im Antragsverfahren, sie hätte nach der behaupteten Vergewaltigung massive sexuelle Probleme gehabt, und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 29. August 2013, zu dem Vater ihres ersten Kindes erst Anfang 1998 sehr behutsam eine Beziehung habe aufbauen können, zu dem Umstand, dass dieses Kind – wie das Sozialgericht meint – bereits im Oktober 1997 gezeugt worden sei. Dem ist nicht zu folgen, da das Sozialgericht bei der Berechnung des Zeugungstermins einem Irrtum unterliegt. Denn das Kind war eine Frühgeburt. Aus dem Mutterpass der Klägerin, den sie auszugsweise in Kopie vorgelegt hat, ergibt sich, dass die Schwangerschaft am 5. Januar 1998 festgestellt wurde und die Klägerin sich zu diesem Zeitpunkt in der sechsten Schwangerschaftswoche befand. Eine Erörterung, in welcher Weise sich die sexuellen Probleme der Klägerin zu äußern hätten, lehnt der Senat ab, da es hierauf bei der Frage, ob die Klägerin Opfer von zwei Vergewaltigungen war, nicht ankommt.
Das von dem Sozialgericht eingeholte aussagepsychologische Gutachten der Diplompsychologin L ist ohne Wert. Die Gutachterin selbst räumt ein, dass die Frage der „relativen Wahrscheinlichkeit“ mit der derzeitigen aussagepsychologischen Methodik nicht zu beantworten ist. Abgesehen davon sind die Schlussfolgerungen der Gutachterin, die sie auf der Grundlage der von ihr eingeschätzten „Detailarmut der Schilderung zu Gewalt- und Wehrmomenten“ zieht, nicht überzeugend. Denn die Diplompsychologin L hat, worauf die Sachverständige Dr. M hingewiesen hat, hierbei die Tatsache vernachlässigt, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Auf diese psychische Erkrankung ist zurückzuführen, dass die Klägerin, die sonst „ausführlich und bereitwillig“ berichtet hat, in der Schilderung zu Gewalt- und Wehrmomenten „detailarm“ gewesen ist. Denn ein Vermeidungsverhalten ist gerade Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Über den vorliegenden Fall hinaus bestehen für den Senat deshalb Zweifel, ob aussagepsychologische Begutachtungen in den Fällen, in denen die Auskunftsperson psychisch erkrankt ist (siehe hierzu BSG, Beschluss vom 24. Mai 2012 – B 9 V 4/12 B –, SozR 4-1500 § 103 Nr. 9, SozR 4-1500 § 160a Nr. 30, juris Rn. 22), tatsächlich zielführend sind, wenn der zum Gutachter bestellte Psychologe das standardisierte Untersuchungsprogramm durchlaufen lässt und Einschätzungen zu der Glaubhaftigkeit der Aussage abgibt, obwohl ihm die notwendige Sachkunde auf psychiatrischem Fachgebiet fehlt, die Aussagetüchtigkeit, -zuverlässigkeit und -qualität vor dem Hintergrund der psychischen Erkrankung des Probanden zutreffend zu bewerten.
Nach dem Trauma in Form der beiden Vergewaltigungen bestehen bei der Klägerin „Folgen psychischer Traumen“ als Schädigungsfolgen, die einen GdS von 30 bedingen.
Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen nach Zehnergraden abgestuft zu beurteilen. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2005 und 2008, sowie ab 1. Januar 2009 die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.
Die Sachverständige Dr. M hat in ihrem Gutachten vom 26. September 2015 überzeugend dargelegt, dass die Klägerin als Folge der beiden Vergewaltigungen an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Diese Schädigungsfolge ist nach Nr. 26.3 der AHP bzw. Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV als „Folgen psychischer Traumen“ zu bezeichnen. Dem Vorschlag der Sachverständigen, hierfür einen GdS von 30 anzusetzen, da die Klägerin durch die psychische Erkrankung in der Gestaltung ihrer Beziehungen, ihres Alltags und ihrer Erlebnisfähigkeit wesentlich eingeschränkt ist, schließt sich der Senat an, weil er den genannten Vorgaben entspricht. Den Einwänden des Beklagten gegen die Höhe des GdS, die er unter Berufung auf die versorgungsärztliche Stellungnahme der Chirurgin Dr. W vom 4. Januar 2016 mit Schriftsatz vom 26. Mai 2016 erhoben hat, ergibt sich keine andere Bewertung, da die Versorgungsärztin – im Gegensatz zu der Sachverständigen – die Klägerin nicht selbst untersucht hat.
Den vor der mündlichen Verhandlung nicht angekündigten Hilfsanträgen des Beklagten war nicht zu folgen.
Mit dem (ersten) Hilfsantrag, die Diplompsychologin L zu vernehmen, bezieht sich die Beklagte offensichtlich auf das jedem Verfahrensbeteiligten eingeräumte Recht auf Befragung eines Sachverständigen, der ein schriftliches Gutachten erstattet hat (§ 116 Satz 2, § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 397, 402, 411 Abs. 4 Zivilprozessordnung (ZPO). Zwar besteht dieses Fragerecht grundsätzlich nur innerhalb desselben Rechtszugs, in dem das Gutachten eingeholt worden ist. Die Anhörung des Sachverständigen kann aber auch in der nächsten Instanz verlangt werden, wenn die Voraussetzungen für eine notwendige Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens nach § 411 Abs. 3 ZPO vorliegen und die Ablehnung des entsprechenden Antrags durch die nunmehr tätige Instanz ermessenswidrig wäre (so BSG, Beschluss vom 12. Dezember 2006 – B 13 R 427/06 B –, juris Rn. 7, unter Hinweis auf BSG, Beschluss vom 03. März 1999 – B 9 VJ 1/98 B –, SGb 2000, 269).
Den Antrag auf Anhörung der Diplompsychologin L zu dem von ihr in der ersten Instanz erstatteten Gutachten hat der Beklagte indes verspätet gestellt.
Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 411 Abs. 5 Satz 1 ZPO sind die Begutachtung betreffende Anträge und Ergänzungsfragen zu dem schriftlichen Gutachten dem Gericht innerhalb eines angemessenen Zeitraums mitzuteilen. Der Beteiligte muss die nach seiner Ansicht erläuterungsbedürftigen Punkte des schriftlichen Gutachtens dem Gericht rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung schriftlich mitteilen und rechtzeitig den Antrag stellen, den Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören, wobei er die dem Sachverständigen zu stellenden (objektiv sachdienlichen) Fragen schriftlich anzukündigen hat (BSG, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – B 9 SB 51/12 B –, juris Rn. 10; BSG, Beschluss vom 24. April 2008 – B 9 SB 58/07 B –, SozR 4-1500 § 116 Nr 2, SozR 4-1750 § 411 Nr. 4, juris Rn. 5). Diese Fragen müssen nicht formuliert werden. Es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen, z.B. auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen (vgl. BSG, Beschluss vom 24. April 2008 – B 9 SB 58/07 B –, SozR 4-1500 § 116 Nr. 2, SozR 4-1750 § 411 Nr. 4, juris Rn. 5).
Diesen Anforderungen wird der Antrag des Beklagten nicht gerecht. Bereits aus dem Umstand, dass der Senat ein psychiatrisches Sachverständigengutachten über das Vorliegen von Schädigungsfolgen und deren Umfang eingeholt hat, war für die Beteiligten ersichtlich, dass er dem Sozialgericht hinsichtlich der Würdigung des aussagepsychologischen Gutachtens nicht folgen dürfte. Dennoch hat der Beklagte davon abgesehen, die Befragung der Diplompsychologin L zu beantragen.
Auch nach Eingang des dem Beklagten am 15. Oktober 2015 übersandten Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M vom 26. September 2015, in dem die Sachverständige deutlich die Fehler in dem aussagepsychologischen Gutachten aufgezeigt hat, hat der Beklagte, obwohl er das psychiatrische Gutachten bereits im Januar 2016 durch den versorgungsärztlichen Dienst hat auswerten lassen, nicht den Antrag gestellt, die Diplompsychologin L zur Erläuterung ihres Gutachtens anzuhören.
Nachdem die für den 26. April 2016 angesetzte mündliche Verhandlung vor dem Senat wegen Verhinderung der Klägerbevollmächtigten aufgehoben worden ist, hat der Beklagte die Benachrichtigung über die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2016 laut Empfangsbekenntnis am 19. Mai 2016 erhalten. Selbst zu diesem Zeitpunkt hat er nicht zu erkennen gegeben, dass er von seinem Recht auf Anhörung der Diplompsychologin L Gebrauch machen wollte. Damit hat er verhindert, dass der Senat die Gutachterin noch zum Termin lädt, damit sie dort befragt werden kann.
Der Beklagte hat bereits vor der mündlichen Verhandlung erkannt, dass die Sachverständige Dr. M die Ergebnisse der Diplompsychologin L in Frage gestellt hat. Denn er hat im Schriftsatz vom 26. Mai 2016 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Beweisanordnung des Senats vom 10. Juli 2015 und das psychiatrische Gutachten seine Auffassung bekräftigt, dass der Nachweis der mehrfachen Vergewaltigungen nicht erbracht sei. Dennoch hat der Beklagte den Antrag erst in der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 2016 gestellt. Abgesehen davor, dass dieser Antrag den oben dargelegten Anforderungen nicht genügt, weil der Beklagte weder die der Sachverständigen zu stellenden Fragen genannt noch die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret bezeichnet hat, ist dieser Antrag nicht „innerhalb eines angemessenen Zeitraums“ gestellt worden. Ob der Beklagte hierbei in der Absicht gehandelt hat, eine Entscheidung des Senats zu verschleppen, wofür sein Verhalten sprechen könnte, die versorgungsärztliche Stellungnahme, die bereits am 4. Januar 2015 erstellt worden ist, erst am 1. Juni 2016, also drei Wochen vor dem Termin, dem Gericht zukommen zu lassen, kann offen bleiben, da es darauf nicht ankommt. Im Übrigen erkennt der Senat keinen Grund, der Klägerin, die ihren Antrag auf Beschädigtenversorgung bei dem Beklagten vor nunmehr neun Jahren gestellt hatte, eine zweitinstanzliche Entscheidung noch länger vorzuenthalten, nachdem der Beklagte – dessen Ermittlungen sich darauf beschränkten, die Ermittlungsakte beizuziehen und eine ärztliche Auskunft einzuholen – das Verwaltungsverfahren erst nach drei Jahren abgeschlossen hatte.
Auch von Amts wegen sieht der Senat sich nicht gehalten, die Diplompsychologin L zur Erläuterung ihres Gutachtens anzuhören, da deren Gutachten nicht einzelne Ungereimtheiten oder Widersprüche aufweist, sondern – wie oben dargelegt – mangels Berücksichtigung der psychischen Erkrankung der Klägerin strukturell verfehlt ist.
Auf den (zweiten) Hilfsantrag des Beklagten, ein neues aussagepsychologisches Gutachten einzuholen, fühlt sich der Senat nicht gedrängt, die beantragte Beweiserhebung durchzuführen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird eine aussagepsychologische Begutachtung insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl. BSG, Beschluss vom 24. Mai 2012 – B 9 V 4/12 B –, SozR 4-1500 § 103 Nr. 9, SozR 4-1500 § 160a Nr .30, juris Rn. 22, mit Hinweis auf den Beschluss vom 7. April 2011 – B 9 VG 15/10 B – juris). Eine solche Fallgestaltung liegt hier ersichtlich nicht vor. Denn vorliegend zweifelt der Beklagte nicht die Glaubhaftigkeit der jetzigen Schilderung des Geschehens durch die Klägerin mit der Begründung an, dass deren Vorbringen durch eine psychische Erkrankung bzw. durch therapeutische Einflüsse kontaminiert sei, sondern zieht die Glaubwürdigkeit der Klägerin insgesamt in Zweifel. Die Beantwortung dieser Frage obliegt allein dem Gericht. Zudem ergibt sich aus dem Antrag des Beklagten, ein „neues“ aussagepsychologisches Gutachten einzuholen, mangels anderer Anhaltspunkte, dass er – der ursprünglichen Beweisanordnung des Sozialgerichts vom 7. Januar 2014 entsprechend – die Frage geklärt haben mochte, ob die Angaben der Klägerin mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können. Um den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung nach § 15 Satz 1 KOVVfG, bei dem darauf abgestellt wird, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können (siehe BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 3/12 R –, juris Rn. 56), geht es vorliegend nicht.
Auch sieht der Senat keinen Anlass, dem (dritten) Hilfsantrag zu folgen und den Arzt Dipl. med. K als Zeugen zu vernehmen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der durch einen Volljuristen, den Dezernatsleiter Soziales Entschädigungsrecht Potsdam V W, vertretene Beklagte hierzu kein Beweisthema genannt. Es ist für den Senat nicht ersichtlich, welche Angaben des die Klägerin seinerzeit behandelnden Arztes, die über den im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen erstatteten Untersuchungsbefund vom 5. September 1997, die im Verwaltungsverfahren eingeholte ärztliche Auskunft vom August 1997 und die an das Sozialgericht gerichtete schriftliche Mitteilung vom 23. April 2012 hinausgingen, zur Sachverhaltsaufklärung beitragen könnten. Die Aussage des Arztes Dipl. med. K, dass die Klägerin ihm gegenüber keine Angaben über eine Vergewaltigung gemacht habe, hat der Senat als wahr unterstellt.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.