Gericht | ArbG Cottbus 2. Kammer | Entscheidungsdatum | 19.09.2012 | |
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Aktenzeichen | 2 Ca 498/12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 1 KSchG, § 23 KSchG, § 125 Abs 1 S 1 Ziff 2 InsO, § 113 InsO, § 111 BetrVG |
Eine Sozialauswahl ist grob fehlerhaft im Sinne des § 125 InsO, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich eine Ausgewogenheit vermissen lässt.
Das ist der Fall, wenn eine Abweichung von 8 Sozialpunkten gegeben ist und der Arbeitgeber dies lediglich - ohne nähere weitere Begründung - mit einer ausgewogenen Personalstruktur begründet.
Gerade wenn viele Arbeitnehmer ähnlich viele Sozialpunkte aufweisen, ist eine Abweichung von 8 Punkten groß.
Der Arbeitgeber hat hierfür Gründe darzulegen.
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 28.03.2012 aufgelöst wird.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu ¾ zu tragen und die Klägerin zu ¼.
4. Der Streitwert wird festgesetzt auf 10.613, 20 Euro.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier ordentlicher betriebsbedingter Kündigungen des beklagten Insolvenzverwalters.
Die am Geburtsdatum geborene, verheiratete und drei Kindern gegenüber unterhaltsverpflichtete Klägerin war bei der Insolvenzschuldnerin, einem ehemals bundesweit tätigen Drogeriemarktunternehmen, als Verkaufsstellenleiterin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 36 Stunden beschäftigt. Der Beginn des Arbeitsverhältnisses war am 01.01.1995.
Die Klägerin war zuletzt in der Verkaufsstelle in A.xxx eingesetzt. Das durchschnittliche Bruttomonatseinkommen betrug 2.472,70 Euro.
Die Struktur der Arbeitnehmervertretungen für die Insolvenzschuldnerin ist durch einen Tarifvertrag gemäß § 3 Absatz 1 Ziffer 3 BetrVG geregelt. Danach werden die Betriebsräte bezirksbezogen errichtet. Die einzelnen Betriebsratsgremien entsenden Vertreter in sogenannten Regionalkonferenzen, die wiederum Vertreter in den Gesamtbetriebsrat entsenden. Die Wahl der Betriebsräte erfolgte unternehmensübergreifend für die Insolvenzschuldnerin und die weitere Insolvenzschuldnerin, die Firma B.xxx. Für den Betriebsratsbezirk, in dem die Filiale liegt, in der die Klägerin beschäftigt war, ist ein Betriebsrat gebildet.
Mit Schreiben vom 20. März 2012 hörte der Beklagte den örtlichen Betriebsrat zu den geplanten Kündigungen an und übersandte zwei Listen in denen jeweils die zu kündigenden Arbeitnehmer und die weiter zu beschäftigenden Arbeitnehmer mit ihren Sozialdaten aufgeführt waren. Der Betriebsrat hat zu den Kündigungen keine Stellungnahmen abgegeben.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Ulm vom 23. Januar 2012 wurde der Beklagte zum vorläufigen Insolvenzverwalter über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin berufen. Mit weiterem Beschluss vom 28. März 2012 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.
Am 28. März 2012 unterzeichneten der Insolvenzverwalter und der Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste. Die Klägerin befindet sich auf der Namensliste.
Am selben Tage reichte der Beklagte bei der Agentur für Arbeit in Ulm eine Massenentlassungsanzeige ein.
Mit Schreiben vom 28. März 2012, der Klägerin am 31. März 2012 zugegangen, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 30. Juni 2012 und stellte die Klägerin von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung frei.
Zur zweiten Kündigung vom 12.07.2012 wurde ebenfalls ein Interessenausgleich mit dem Gesamtbetriebsrat geschlossen. Dieser war am 28.06.2012 zustande gekommen und galt zugleich als Stellungnahme des Gesamtbetriebsrats nach § 17 KSchG.
Der Betriebsrat wurde mit Schreiben vom 02.07.2012 zu den beabsichtigten Kündigungen angehört. Es wurde dem Betriebsrat die vollständigen Personaldaten mitgeteilt.
Am 29.06.2012 reichte der Beklagte Massenentlassungsanzeigen bei der Agentur für Arbeit Ulm als auch bei der Agentur für Arbeit Cottbus ein.
Die Klägerin wendet sich mit der Klage gegen die beiden ausgesprochene Kündigungen. Sie ist der Auffassung, die erste Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die Klägerin rügt dazu die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats und die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats für den Interessenausgleich. Auch bestreitet die Klägerin mit Nichtwissen, dass der Interessenausgleich mit der Namensliste eine feste Einheit bilde.
Die Sozialauswahl sei grob fehlerhaft erfolgt, weil bereits der in Bezug genommene Personenkreis nicht richtig sei. Die Klägerin sei auch mit Arbeitnehmern in T.xxx vergleichbar. Außerdem sei die Klägerin sozial schutzbedürftiger als die Arbeitnehmerinnen: C.xxx, D.xxx, E.xxx, F.xxx, und U.xxx.
Der pauschale Vortrag, wonach der Beklagte eine ausgewogene Personalstruktur habe schaffen wollen, sei nicht nachvollziehbar und nicht substantiiert.
Zur zweiten Kündigung trägt die Klägerin vor, dass die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestritten werde. Auch die Wirksamkeit des Interessenausgleichs werde gerügt. Die Klägerin bestreitet mit Nichtwissen, das die Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß und rechtzeitig erfolgt sei.
Die Klägerin beantragt,
1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28. März 2012 nicht aufgelöst worden ist.
2. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch durch die Kündigung vom 27.07.2012 nicht aufgelöst werden wird.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte behauptet zur ersten Kündigung, der Interessenausgleich sei mit der Namensliste fest verbunden und stelle eine Einheit dar. Das Gesamtwerk sei auch verleimt und durch Vertreter auf jeder einzelnen Seite paraphiert worden.
Die Sozialauswahl sei ordnungsgemäß entsprechend § 125 InsO erfolgt. Sie sei über den jeweiligen Betriebsratsbezirk erstreckt worden und habe, da die Insolvenzschuldnerin und die weitere Insolvenzschuldnerin, die Firma B.xxx einen gemeinsamen Betrieb bildeten, unternehmensübergreifend stattgefunden. Es seien die Verkäuferinnen, die Verkaufsstellenverwalterinnen und Stundenkräfte sowie geringfügig Beschäftigte in Vergleichsgruppen geteilt worden. Die Sozialdaten seien in der Weise gewichtet worden, als pro Beschäftigungsjahr und Lebensalter je einen Punkt und für jede Unterhaltspflicht 4 Punkte vergeben wurden. Die Klägerin hätte dabei einen Punktestand von 74 Punkten erreicht.
Der Beklagte trägt zur Folgekündigung vor, dass hier eine Sozialauswahl entbehrlich sei, weil nunmehr allen Arbeitnehmern gekündigt worden sei.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
A) Die Klage ist zum Teil begründet. Die Kündigung des Beklagten vom 28. März 2012 ist unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst. Die Kündigung ist sozialwidrig nach § 1 KSchG, § 125 InsO. Die zweite Kündigung vom 12.07.2012 ist dagegen wirksam und hat das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 31.10.2012 aufgelöst.
I. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet das Kündigungsschutzgesetz Anwendung. Die Klägerin ist länger als 6 Monate bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt gewesen. Der Beklagte beschäftigt auch mehr als zehn Arbeitnehmer, vergleiche §§ 1, 23 KSchG. Die Klägerin hat die Klage auch innerhalb von 3 Wochen nach Zugang der Kündigung, nämlich am 13. April 2012, beim Arbeitsgericht Cottbus erhoben.
II. Die erste Kündigung ist nicht durch dringende betriebliche Gründe gerechtfertigt. Denn die Sozialauswahl war grob fehlerhaft im Sinne des § 125 Absatz 1 Satz 1 Ziffer 2 InsO.
1. Da § 113 InsO keinen selbständigen Kündigungsgrund der Insolvenz enthält, verbleibt es dabei, dass das Kündigungsschutzgesetz auch bei der Kündigung nach § 113 InsO zu beachten ist. Bei einem wirksamen Zustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste zwischen dem Insolvenzverwalter und der zuständigen Arbeitnehmervertretung wird gemäß § 125 Absatz 1 Satz 1 Ziffer 1 InsO vermutet, dass die Kündigung der in der Namensliste bezeichneten Arbeitnehmer auf Grund einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 KSchG bedingt ist.
2. Nach § 125 Absatz 1 Satz 1 Ziffer 2 InsO kann die soziale Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer im Falle eines wirksamen Interessenausgleichs mit Namensliste nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten und auch insoweit nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden; sie ist nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird. Die gesetzliche Regelung reduziert den Umfang der gerichtlichen Überprüfung einer vom Insolvenzverwalter erklärten betriebsbedingten Kündigung. Mit der Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf grobe Fehler wird zugleich der Prüfungsmaßstab gesenkt und der Beurteilungsspielraum des Arbeitgebers bei der sozialen Auswahl zugunsten einer vom Insolvenzverwalter und der zuständigen Arbeitnehmervertretung vereinbarten betrieblichen Gesamtlösung erweitert. Grob fehlerhaft im Sinne des § 125 InsO ist eine soziale Auswahl nur, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich, insbesondere bei der Gewichtung der Auswahlkriterien jede Ausgewogenheit vermissen lässt, BAG vom 20. 9. 2006 – 6 AZR 249/05, Juris. Grobe Fehlerhaftigkeit ist nach der Rechtsprechung des BAG insbesondere auch dann gegeben, wenn der Arbeitgeber bei der Anwendung des Ausnahmetatbestandes des § 1 Absatz 3 Satz 2 KSchG seine betrieblichen Interessen offensichtlich überdehnt hat oder der Arbeitgeber die sozialen Belange des zu kündigenden Arbeitnehmers überhaupt nicht abgewogen hat, vergleiche BAG vom 12.4.2002 – 2 AZR 706/00, AP Nr. 56 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl.
Gemessen an diesen Grundsätzen ist die vorliegende Sozialauswahl des Beklagten mit dem Gesamtbetriebsrat als grob fehlerhaft einzustufen. Vorliegend haben die Betriebsparteien entschieden, Frau E.xxx und Frau F.xxx nicht zu kündigen. Frau E.xxx ist jedoch etwa gleich alt wie die Klägerin (Jahrgang 19xx). Sie ist auch vier Jahre länger im Betrieb als die Klägerin. Frau E.xxx hat jedoch keinerlei Unterhaltsverpflichtung. Die Klägerin dagegen ist drei Kindern gegenüber unterhaltsverpflichtet. Offensichtlich haben die Betriebsparteien die Interessen der beiden Arbeitnehmer nicht abgewogen. Welche Erwägungen für den Verbleib der Arbeitnehmerin E.xxx sprachen, hat der Arbeitgeber nicht dargelegt. Die einzige Erwägung, die der Beklagte für seine Sozialauswahlentscheidung anführt, ist die ausgewogene Personalstruktur. Da aber beide Arbeitnehmerinnen nahezu gleich alt sind (2 Jahre), liegen diese Erwägungen hier offensichtlich nicht vor. Die Unterhaltsverpflichtungen der Klägerin dagegen wiegen enorm.
Bisher hat das BAG lediglich zu einer Abweichung von einem Sozialpunkt oder 1,5 Sozialpunkten Stellung genommen und ausgeführt, dass diese Abweichung jedenfalls noch nicht grob fehlerhaft sei, vergleiche BAG vom 12. 3. 2009 – 2 AZR 418/07, Juris. Vorliegend ist jedoch eine Abweichung von 8 Punkten gegeben, die der Arbeitgeber jedenfalls nicht mit der ausgewogenen Personalstruktur zu begründen vermag. Die Klägerin hat zu 74 Punkte nach der Sozialauswahl, während Frau E.xxx lediglich 63 Punkte hat.
Legt man diese Grundsätze zugrunde, ist die streitgegenständliche Kündigung schon deswegen als sozialwidrig und damit unwirksam anzusehen, weil der Beklagte nicht erklärt hat, aus welchen Gründen heraus, die Arbeitnehmerin E.xxx weiterbeschäftigt werden soll, während die Klägerin gekündigt wird. Berücksichtigt werden muss dabei auch, dass sämtliche Arbeitnehmerinnen zwischen 78 und 28 Sozialpunkte hatten. Die große Masse der Arbeitnehmerinnen hatte Sozialpunkte zwischen 60 – 70 Punkten. Hierbei fällt eine Differenz von 8 Punkten stark ins Gewicht.
III. Die Kammer brauchte keine Entscheidung darüber zu treffen, ob die Kündigung wegen einer nicht korrekt erfolgten Massenentlassungsanzeige oder wegen eines nicht ordnungsgemäß zustande gekommenen Interessenausgleichs unwirksam ist.
IV. Die Folgekündigung vom 12.07.2012 hat dagegen das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgelöst.
1) Die Kündigung ist der Klägerin am 31.07.2012 zugegangen. Die Klägerin hat Klage rechtzeitig innerhalb von drei Wochen erhoben.
2) Die Kündigung ist durch dringende betriebliche Gründe bedingt und deshalb wirksam.
Der Beklagte hat den Betriebsrat vor Ausspruch der zweiten Kündigung gehört. Der Beklagte hat die dazu erforderlichen Unterlagen dem Betriebsrat zur Verfügung gestellt. Der Beklagte hat auch mit dem Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich vor Ausspruch der Kündigungen geschlossen.
Auch hat der Beklagte die nach § 17 KSchG erforderlichen Massenentlassungsanzeigen bei der Bundesagentur für Arbeit Cottbus erhoben. Diesen gesamten Vortrag des Beklagten hat die Klägerseite auch nicht weiter gerügt.
Dem Klägervertreter war es in der Kammerverhandlung vom 19.09.2012 lediglich wichtig mitzuteilen, dass er den gegnerischen Schriftsatz erst kurzfristig erhalten habe.
B) Die Kosten waren nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens zwischen den Parteien aufzuteilen. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits nach §§ 46 Absatz 2 ArbGG, 91 Absatz 1 Satz 1 ZPO zu 3/4 zu tragen, da die erste Kündigung unwirksam war. Die Klägerin trägt Kosten zu ¼, da die Folgekündigung das Arbeitsverhältnis aufgelöst hat. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes ergibt sich aus §§ 61 Absatz 1 ArbGG, 3 ZPO. 42 Absatz 3 Satz 1 GKG. Demgemäß war ein dreifaches Bruttomonatsentgelt der Klägerin als Streitwert zugrunde zu legen.