Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 16.01.2014 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 51/12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 145 SGB 9, § 146 SGB 9 |
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Februar 2012 geändert.
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 13. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. Juli 2008 in der Fassung des Bescheides vom 07. Dezember 2009 und des Bescheides vom 22. Dezember 2010 verpflichtet, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab dem 01. August 2009 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G.
Mit Bescheid vom 13. Juli 2007 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von weniger als 20 fest, mit Widerspruchsbescheid vom 08. Juli 2008 erkannte der Beklagte einen GdB von 40 zu. Die Zuerkennung des Merkzeichens G wurde jeweils abgelehnt. Während des anschließenden Verfahrens vor dem Sozialgericht Berlin hat der Beklagte durch Bescheid vom 07. Dezember 2009 einen GdB in Höhe von 50 für die Zeit ab August 2009 und schließlich durch Bescheid vom 22. Dezember 2010 einen GdB in Höhe von 60 ab Oktober 2010 festgestellt, die Voraussetzungen des Merkzeichens G jedoch jeweils abgelehnt.
Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am 27. April 2010 der Facharzt für Orthopädie Dr. W ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin bestehe eine Funktionsbehinderung der Hals- und Lendenwirbelsäule, die mit einem GdB von 30 zu bemessen sei, Depressionen (ebenfalls GdB von 30) und Funktionsbehinderungen beider Kniegelenke (GdB 20). Auf die Gehfähigkeit der Klägerin wirkten sich die Kniegelenksarthrosen beidseits und in geringem Maß die Abnutzungserscheinungen der unteren Lendenwirbelsäule aus. Es liege weder eine orthopädische Problematik, ein Herzschaden, eine Atembehinderung noch eine chronische Insuffizienz/hirnorganisches Anfallsleiden vor, welches die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen könnte. Jedoch solle eine weitere fachärztliche Abklärung hinsichtlich des Schwindels erfolgen.
Ebenfalls aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat sodann am 20. Juni 2011 die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist sie ebenfalls zu der Einschätzung gelangt, die Gehfähigkeit der Klägerin sei nicht erheblich beeinträchtigt. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 19. Dezember 2011 hat die Sachverständige an ihrer Einschätzung festgehalten.
Durch Urteil vom 17. Februar 2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G lägen nicht vor. Der mobilitätsbedingte Grad der Behinderung sei zu niedrig. Es könne auch keine Gleichstellung etwa mit hirnorganischen Anfällen erfolgen, zumal der Schwindel nicht organisch, sondern wohl rein psychisch bedingt sei.
Gegen dieses ihr am 25. Februar 2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin fristgemäß Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Sie hält die Voraussetzungen des Merkzeichens G weiterhin für gegeben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Februar 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 13. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. Juli 2008 in der Fassung des Bescheides vom 07. Dezember 2009 und des Bescheides vom 22. Dezember 2010 zu verpflichten, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G mit Wirkung vom 01. August 2009 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat im Berufungsverfahren zwei weitere medizinische Sachverständigengutachten eingeholt. In seinem Gutachten vom 10. September 2012 ist der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. M zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin bestehe eine Funktionsbehinderung der Hals- und Lendenwirbelsäule, eine Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, eine Labyrinthschädigung und eine Hörstörung. Außerdem sei eine so genannte isolierte Phobie gegeben. Die durch diese Erkrankung bedingte Funktionsbeeinträchtigung sei wegen der erheblichen Verdeutlichungs- und Aggravationstendenzen der Klägerin nicht sicher zu quantifizieren. Es sei aber eine weitere Abklärung hinsichtlich der behaupteten Stürze und Sturzneigungen erforderlich.
Sodann ist die Klägerin von dem Facharzt für Neurologie Dr. P nach stationärer Begutachtung in der Zeit vom 27. Mai bis zum 30. Mai 2013 erneut eingeschätzt worden. In seinem Gutachten vom 04. Juni 2013 ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin bestehe im Unterschied zu den vorangegangenen Gutachten keine Depression und auch keine somatoforme autonome Funktionsstörung. Der bei der Klägerin festzustellende Schwindel sei keine autonome Funktionsstörung, sondern psychisch bedingt. Ob die psychogene Gangstörung als isolierte Phobie oder als dissoziative Störung einzuordnen sei, sei letzten Endes sekundär und auch von psychiatrischer Seite aus nicht eindeutig festzulegen. Bei der Klägerin bestehe eine psychogene Gangstörung, in Begleitung sei sie in der Lage, Gehstrecken zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden könnten.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie hat in der Sache auch Erfolg. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts war aufzuheben, die angefochtenen Bescheide des Beklagten zu ändern, denn der Klägerin steht ab dem 1. August 2009 ein Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G zu.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Die Versorgungsmedizinverordnung (VersmedV) beschreibt dazu in Teil d 1.d-f Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, juris, Randnummer 12).
Die VersmedV gibt an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist“. Damit trägt die VersmedV dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtert die VersmedV all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (Bundessozialgericht a. a. O. mit weiteren Nachweisen).
Die so verstandenen gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt die Klägerin. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass sie infolge ihrer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne Gefahr für sich Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Zwar sind die orthopädischen Leiden der Klägerin alleine noch nicht geeignet, für sich genommen dieses Ergebnis herbeizuführen, denn allein aufgrund der orthopädischen Beeinträchtigungen wäre die Klägerin möglicherweise noch nicht daran gehindert, ortsübliche Strecken zurückzulegen. Im Falle der Klägerin besteht die Besonderheit indessen darin, dass zusätzlich zu den orthopädischen Einschränkungen ihres Gehvermögens auch noch ein psychogen verursachter, behinderungsbedingter Schwankschwindel hinzutritt, der als psychogene Gangstörung zu bewerten ist. Dies hat insbesondere der Sachverständige Dr. P nach stationärer (dreitägiger) Begutachtung der Klägerin zweifelsfrei festgestellt. Diese Gangstörung führt in Verbindung mit den tatsächlich vorhandenen orthopädischen Einschränkungen jedenfalls dazu, dass die Klägerin ohne fremde Begleitung keine nennenswerten Wege unter ortsüblichen Bedingungen zurücklegen kann und damit insgesamt das Gehvermögen im Rechtssinne erheblich beeinträchtigt ist.
An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts dadurch, dass die psychogene Gangstörung der Klägerin weder unter die hirnorganischen Anfälle nach D 1.e noch als Störungen der Orientierungsfähigkeit nach D 1.f VersmedV anzusehen ist, denn die vorgenannten Beispiele in der VersmedV beschreiben lediglich Regelfälle, bei denen die Voraussetzungen des Merkzeichens G als erfüllt anzusehen sind, sie sind indessen nicht abschließend, sondern dienen bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab (BSG, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, juris, Randnummer 12).
Der Senat hat keine Zweifel, dass die schwerwiegende, behinderungsbedingte psychogene Gangstörung der Klägerin in Verbindung mit den ohnehin bestehenden orthopädischen Einschränkungen so schwer wiegt, dass sie ohne weiteres den in D 1.e und f VersmedV genannten Regelbeispielen der hirnorganischen Anfälle oder der Störungen der Orientierungsfähigkeit vergleichbar sind. Sie gehören nicht zu den Faktoren, die bei einer Betrachtung einer behinderungsbedingten Gangstörung außer Betracht zu haben bleiben, sondern stellen schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen dar.
Hieran ändert sich auch nichts dadurch, dass der Sachverständige Dr. P ausgeführt hat, aus ärztlicher Sicht wäre es für eine Behandlung der psychogenen Gangstörung kontraproduktiv, wenn durch die Anerkennung der Voraussetzungen von Merkzeichen die Anstrengungen, derer es bedarf, um den derzeitigen Zustand der Gangunsicherheit zu überwinden, erheblich gemindert oder sogar völlig unterbunden würden. Zwar spricht in der Tat sehr vieles dafür, dass es der Klägerin möglich sein könnte, längerfristig den psychogen verursachten Zustand der Gangunsicherheit zu überwinden und wieder selbständig Wegstrecken zurücklegen zu können. Indessen besteht der jetzige behinderungsbedingte Zustand bereits seit mehreren Jahren unverändert, es ist auch nicht damit zu rechnen, dass er innerhalb der nächsten sechs Monate voraussichtlich beendet werden könnte. Damit sind zugleich die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs derzeit jedenfalls dauerhaft gegeben.