Gericht | VG Potsdam 7. Kammer | Entscheidungsdatum | 14.10.2019 | |
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Aktenzeichen | 7 K 3070/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2019:1014.7K3070.16.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 51 Abs 1 Nr 1 bis 3 VwVfG, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG, § 71a Abs 1 AsylVfG 1992 |
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 8. August 2016 verpflichtet, festzustellen, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot nach Afghanistan nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens, das gerichtskostenfrei ist, hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung eines Betrages in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Der Kläger, ein am in der Provinz Kundus, Afghanistan geborener lediger afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit, begehrt die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG) nach Afghanistan vorliegen.
Nach eigenen Angaben verließ er Afghanistan, wo er zuletzt in der Gemeinde B...im Distrikt K... lebte, und reiste am 7. September 2014 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er am 15. Dezember 2014 einen Asylantrag. Der Kläger hatte einen für ihn von der Slowakischen Republik ausgestellten Führerschein zu den Akten gereicht und wurde am 17. Dezember 2014 zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates zur Durchführung des Asylverfahrens angehört. In dieser Anhörung gab er an, nicht verheiratet und Vater eines am in Moskau geborenen Sohnes und einer am in Donezk geborenen Tochter zu sein. Die Kinder halten sich weiterhin in Donezk auf. Er sei bereits 1994 von Afghanistan nach Usbekistan gegangen und nach zwei Monaten weiter nach Tadschikistan, von wo er nach weiteren neun Monaten nach Moskau gereist sei. Dort sei er bis 2001 geblieben und anschließend über die Ukraine, Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland gereist, wo er sich bis 2002 aufgehalten habe. Anschließend habe er bis 2014 wieder in der Slowakischen Republik gelebt und sei von dort aus erneut in die Bundesrepublik Deutschland gereist. Seinen afghanischen Reisepass habe er nach seiner Einreise in München zu den Akten gereicht. In der Slowakischen Republik, für die er einen Aufenthaltstitel („residence permit“) bis zum 4. Juli 2014 gehabt habe, habe er 2002 in Bratislava einen Asylantrag gestellt. Er sei nicht auf die Unterstützung von Angehörigen angewiesen, die im Geltungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-Verordnung) leben und es gebe umgekehrt auch niemanden, der dort auf seine Hilfe angewiesen sei. Er wolle nicht in die Slowakische Republik zurück, sondern in der Bundesrepublik Deutschland in Ruhe leben. Zu den Gründen, die einer Rückkehr nach Afghanistan entgegen stehen, gab er an: „Meine Heimat ist die Provinz Kundus, in der bekanntermaßen extreme Kräfte wie Taliban usw. viel Einfluss haben und gerade das Leben von Leuten bedrohen, die, wie ich, lange Jahre im Ausland verbracht haben. Ich gelte für sie als ungläubig und dadurch ist mein Leben in Gefahr. Erst recht, wenn sie merken, dass ich ihre religiösen und politischen Ansichten nicht teile“.
Auf das Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 6. Februar 2015 erklärten sich die slowakischen Behörden mit Schreiben vom 20. Februar 2015 für zuständig.
Mit Bescheid vom 2. März 2015 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag vom 15. Dezember 2014 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers in die Slowakische Republik an. Nachdem die Frist zur Überstellung in die Slowakische Republik am 20. August 2015 abgelaufen war, forderte das Bundesamt am 6. Oktober 2015 bei den slowakischen Behörden weitere Informationen zu einem dort durchgeführten Asylverfahren an, die diese mit Schreiben 27. Oktober 2015 dahingehend erteilten, dass der Kläger in dem dort 2005 abgeschlossenen Asylverfahren weder Flüchtlingsstatus („international protection“) noch subsidiären Schutz („subsidiary protection“) erhalten habe und auch keine Abschiebungsverbote (national protection) festgestellt worden seien. Der Kläger habe aber eine Aufenthaltserlaubnis („residence permit“) bis zum 14. Juli 2014 gehabt.
Mit Schreiben vom 11. September 2015 beantragten die Bevollmächtigten des Klägers festzustellen, dass die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sei und eine Entscheidung im nationalen Verfahren getroffen wird. Dem Schriftsatz war ein auf den 7. Juli 2015 datiertes Schreiben einer den Kläger behandelnden Hausärztin (Fachärztin für Allgemeinmedizin) beigefügt, in der vor einer Abschiebung abgeraten wird, weil der Kläger kriegstraumatisiert sei, beide Eltern verloren habe und im Alter von 13 Jahren eine Schussverletzung am Kopf erlitten habe. Er leide, neben einer beidseitigen Hörschwäche, unter psychosomatischen Beschwerden, Kopfschmerzen, Angst, depressiven Störungen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Das Bundesamt behandelte den Asylantrag des Klägers nunmehr als Zweitantrag, unterrichtete die Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 28. Dezember 2015 darüber und bat zur weiteren Prüfung um die Rücksendung eines auszufüllenden Fragebogens binnen zwei Wochen. Der Kläger reichte am 2. Februar 2016 eine auf den 18. Januar 2016 datierte psychologische Stellungnahme einer psychologischen Psychotherapeutin in Ausbildung und Heilpraktikerin für Psychotherapie ein, in der dem Kläger eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F32.1), eine somatoforme Störung (Tinnitus mit Hörsturz) infolge der Kriegserfahrungen in Afghanistan (ICD-10 F45) und eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert wird. Des Weiteren sandte der Kläger den Fragebogen zurück, in dem er angab, sein Antrag auf internationalen Schutz sei in der Slowakischen Republik abgelehnt worden, ihm sei jedoch humanitärer Schutz gewährt worden. Als seiner Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehende Gründe verwies er auf seine psychische Erkrankung und deren Behandlung („Ich bin im Bundesgebiet psychisch erkrankt. Ich befinde mich in psychotherapeutischer Behandlung“, Seite 127 VV).
Mit Bescheid vom 8. August 2016 hob das Bundesamt den Bescheid vom 2. März 2015 auf, lehnte den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen.
Mit seiner am 12. August 2016 bei Gericht eingegangenen Klage hat der Kläger zunächst beantragt, den Bescheid vom 8. August 2016 aufzuheben und das Bundesamt zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ihm hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren und weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger die Klage insoweit zurückgenommen, als sie zunächst auch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise auf die Gewährung subsidiären Schutzes gerichtet war. Er beantragt nunmehr noch,
den Bescheid vom 8. August 2016 aufzuheben und das Bundesamt zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Bescheides, |
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16. Dezember 2016 nach § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Im Termin der mündlichen Verhandlung ist der Kläger informatorisch befragt worden. Diesbezüglich wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Der Kläger hat ein auf den 13. September 2019 datiertes Attest der ihn behandelnden Hausärztin vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass er sich wegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms, die sich in Schlaf- und Konzentrationsstörungen und Symptomen einer agitierten Depression manifestiere, in psychotherapeutischer Behandlung befindet; eine akute Suizidalität bestehe nicht, es bestehe aber die Gefahr, dass bei einer Abschiebung nach Afghanistan eine Retraumatisierung eintrete und damit auch das Risiko bestehe, dass der Kläger bis hin zur Suizidalität dekompensiere. Ferner hat der Kläger einen auf den 24. September 2019 datierten Kurzbericht einer nach dem Heilpraktikergesetz zugelassenen Psychotherapeutin zu den Akten gereicht, aus dem sich ergibt, dass beim Kläger nach wie vor eine alltagseinschränkende Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung bestehe, die behandlungsbedürftig sei und in Afghanistan nicht behandelt werden könne. |
Die von der Beklagten für die Klägerin geführten Verwaltungsvorgänge haben vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung konnte abschließend über die Klage entschieden werden, da die Beklagte auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist und das persönliche Erscheinen nicht angeordnet worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Nach Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter entscheidet dieser anstelle der Kammer (§ 76 Abs. 1 AsylG).
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
Die zulässige, innerhalb der Frist der § 74 Abs. 1 Halbsatz 2, § 36 AsylG erhobene Klage ist, soweit noch über sie zu entscheiden war, im tenorierten Umfang begründet. |
Die Behandlung von psychischen Erkrankungen in Afghanistan ist nur unzureichend möglich. Es gibt lediglich in einigen größeren Städten wenige Kliniken, die zudem klein und überfüllt sind. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012 und vom 04.06.2013; Information von D-A-CH Kooperation Deutschland-Österreich-Schweiz „Afghanistan“ vom 09.12.2013, S. 53 ff. (55)Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012 und vom 04.06.2013; Information von D-A-CH Kooperation Deutschland-Österreich-Schweiz „Afghanistan“ vom 09.12.2013, S. 53 ff. (55) Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere von Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von Nichtregierungsorganisationen, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Wie auch in anderen Krankenhäusern ist eine Unterbringung von Patienten grundsätzlich nur darstellbar, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012, vom 04.06.2013, vom 31.03.2014 und vom 31.05.2018Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012, vom 04.06.2013, vom 31.03.2014 und vom 31.05.2018 Für Kabul wurde in der Vergangenheit berichtet, dass es lediglich zwei psychiatrische Einrichtungen geben soll, und zwar das Mental Health Hospital mit 100 Betten und die Universitätsklinik Aliabad mit 48 Betten (VG des Saarlands, Urteil vom 8. Februar 2017 - 5 K 830/16 -, juris, Rn. 31). Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtesvom 31.05.2018vom 31.05.2018 (vom 2. September 2019) wird für die knapp vier Millionen Einwohner zählende Stadt Kabul von lediglich einer staatlichen Klinik mit 14 Betten zur stationären Behandlung berichtet. In Jalalabad und Herat soll es jeweils 15 Betten für psychiatrische Fälle geben. Diese Anzahl von Behandlungsplätzen reicht jedoch selbst in Kabul kaum aus, um eine ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten. Ansonsten wird noch für Mazar-e Sharif von einer privaten Einrichtung berichtet, die psychiatrische Fälle stationär aufnimmt. Folgebehandlungen sind oft schwierig zu leisten, insbesondere wenn der Patient kein unterstützendes Familienumfeld hat. Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Obwohl die Behandlungsbedarfe wegen der weiten Verbreitung solcher Erkrankungen akut sind, herrscht weiterhin ein Mangel an ausgebildetem Personal, namentlich an Psychiaterinnen und Psychiatern, Sozialarbeitenden, Psychologinnen und Psychologen sowie an angemessener Infrastruktur; es wird von „ungefähr drei ausgebildeten Psychiaterinnen und Psychiatern und zehn Psychologinnen und Psychologen für eine Bevölkerung von mehr als 30 Millionen Menschen“ berichtet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, Auskunft vom 5. April 2017, S. 3).
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss davon ausgegangen werden, dass eine erforderliche psychotherapeutische und auch medikamentöse Behandlung zumindest der nachgewiesenen schweren psychischen Erkrankung des Klägers in Afghanistan nicht in ausreichendem Umfang möglich ist und sich sein Zustand derzeit durch eine Abschiebung nach Afghanistan ohne regelmäßige medizinische Behandlung so weit verschlechtern würde, dass für ihn im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland eine akute Gefahr für Leib und Leben bestünde. Auf Grund der diagnostizierten Erkrankungen einerseits und fehlender Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan andererseits sind hinsichtlich des Klägers gerade bei einer Rückkehr schwere psychische Beeinträchtigungen - einschließlich akuter Suizidgefahr - anzunehmen. |