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Asyl (Zweitantrag)


Metadaten

Gericht VG Potsdam 7. Kammer Entscheidungsdatum 14.10.2019
Aktenzeichen 7 K 3070/16.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2019:1014.7K3070.16.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 51 Abs 1 Nr 1 bis 3 VwVfG, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG, § 71a Abs 1 AsylVfG 1992

Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 8. August 2016 verpflichtet, festzustellen, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot nach Afghanistan nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.

Die Kosten des Verfahrens, das gerichtskostenfrei ist, hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung eines Betrages in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger, ein am in der Provinz Kundus, Afghanistan geborener lediger afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit, begehrt die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG) nach Afghanistan vorliegen.

Nach eigenen Angaben verließ er Afghanistan, wo er zuletzt in der Gemeinde B...im Distrikt K... lebte, und reiste am 7. September 2014 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er am 15. Dezember 2014 einen Asylantrag. Der Kläger hatte einen für ihn von der Slowakischen Republik ausgestellten Führerschein zu den Akten gereicht und wurde am 17. Dezember 2014 zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates zur Durchführung des Asylverfahrens angehört. In dieser Anhörung gab er an, nicht verheiratet und Vater eines am in Moskau geborenen Sohnes und einer am in Donezk geborenen Tochter zu sein. Die Kinder halten sich weiterhin in Donezk auf. Er sei bereits 1994 von Afghanistan nach Usbekistan gegangen und nach zwei Monaten weiter nach Tadschikistan, von wo er nach weiteren neun Monaten nach Moskau gereist sei. Dort sei er bis 2001 geblieben und anschließend über die Ukraine, Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland gereist, wo er sich bis 2002 aufgehalten habe. Anschließend habe er bis 2014 wieder in der Slowakischen Republik gelebt und sei von dort aus erneut in die Bundesrepublik Deutschland gereist. Seinen afghanischen Reisepass habe er nach seiner Einreise in München zu den Akten gereicht. In der Slowakischen Republik, für die er einen Aufenthaltstitel („residence permit“) bis zum 4. Juli 2014 gehabt habe, habe er 2002 in Bratislava einen Asylantrag gestellt. Er sei nicht auf die Unterstützung von Angehörigen angewiesen, die im Geltungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-Verordnung) leben und es gebe umgekehrt auch niemanden, der dort auf seine Hilfe angewiesen sei. Er wolle nicht in die Slowakische Republik zurück, sondern in der Bundesrepublik Deutschland in Ruhe leben. Zu den Gründen, die einer Rückkehr nach Afghanistan entgegen stehen, gab er an: „Meine Heimat ist die Provinz Kundus, in der bekanntermaßen extreme Kräfte wie Taliban usw. viel Einfluss haben und gerade das Leben von Leuten bedrohen, die, wie ich, lange Jahre im Ausland verbracht haben. Ich gelte für sie als ungläubig und dadurch ist mein Leben in Gefahr. Erst recht, wenn sie merken, dass ich ihre religiösen und politischen Ansichten nicht teile“.

Auf das Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 6. Februar 2015 erklärten sich die slowakischen Behörden mit Schreiben vom 20. Februar 2015 für zuständig.

Mit Bescheid vom 2. März 2015 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag vom 15. Dezember 2014 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers in die Slowakische Republik an. Nachdem die Frist zur Überstellung in die Slowakische Republik am 20. August 2015 abgelaufen war, forderte das Bundesamt am 6. Oktober 2015 bei den slowakischen Behörden weitere Informationen zu einem dort durchgeführten Asylverfahren an, die diese mit Schreiben 27. Oktober 2015 dahingehend erteilten, dass der Kläger in dem dort 2005 abgeschlossenen Asylverfahren weder Flüchtlingsstatus („international protection“) noch subsidiären Schutz („subsidiary protection“) erhalten habe und auch keine Abschiebungsverbote (national protection) festgestellt worden seien. Der Kläger habe aber eine Aufenthaltserlaubnis („residence permit“) bis zum 14. Juli 2014 gehabt.

Mit Schreiben vom 11. September 2015 beantragten die Bevollmächtigten des Klägers festzustellen, dass die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sei und eine Entscheidung im nationalen Verfahren getroffen wird. Dem Schriftsatz war ein auf den 7. Juli 2015 datiertes Schreiben einer den Kläger behandelnden Hausärztin (Fachärztin für Allgemeinmedizin) beigefügt, in der vor einer Abschiebung abgeraten wird, weil der Kläger kriegstraumatisiert sei, beide Eltern verloren habe und im Alter von 13 Jahren eine Schussverletzung am Kopf erlitten habe. Er leide, neben einer beidseitigen Hörschwäche, unter psychosomatischen Beschwerden, Kopfschmerzen, Angst, depressiven Störungen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Das Bundesamt behandelte den Asylantrag des Klägers nunmehr als Zweitantrag, unterrichtete die Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 28. Dezember 2015 darüber und bat zur weiteren Prüfung um die Rücksendung eines auszufüllenden Fragebogens binnen zwei Wochen. Der Kläger reichte am 2. Februar 2016 eine auf den 18. Januar 2016 datierte psychologische Stellungnahme einer psychologischen Psychotherapeutin in Ausbildung und Heilpraktikerin für Psychotherapie ein, in der dem Kläger eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F32.1), eine somatoforme Störung (Tinnitus mit Hörsturz) infolge der Kriegserfahrungen in Afghanistan (ICD-10 F45) und eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert wird. Des Weiteren sandte der Kläger den Fragebogen zurück, in dem er angab, sein Antrag auf internationalen Schutz sei in der Slowakischen Republik abgelehnt worden, ihm sei jedoch humanitärer Schutz gewährt worden. Als seiner Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehende Gründe verwies er auf seine psychische Erkrankung und deren Behandlung („Ich bin im Bundesgebiet psychisch erkrankt. Ich befinde mich in psychotherapeutischer Behandlung“, Seite 127 VV).

Mit Bescheid vom 8. August 2016 hob das Bundesamt den Bescheid vom 2. März 2015 auf, lehnte den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen.

Mit seiner am 12. August 2016 bei Gericht eingegangenen Klage hat der Kläger zunächst beantragt, den Bescheid vom 8. August 2016 aufzuheben und das Bundesamt zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ihm hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren und weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger die Klage insoweit zurückgenommen, als sie zunächst auch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise auf die Gewährung subsidiären Schutzes gerichtet war. Er beantragt nunmehr noch,

den Bescheid vom 8. August 2016 aufzuheben und das Bundesamt zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

 Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Bescheides,

 die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16. Dezember 2016 nach § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

 Im Termin der mündlichen Verhandlung ist der Kläger informatorisch befragt worden. Diesbezüglich wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Der Kläger hat ein auf den 13. September 2019 datiertes Attest der ihn behandelnden Hausärztin vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass er sich wegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms, die sich in Schlaf- und Konzentrationsstörungen und Symptomen einer agitierten Depression manifestiere, in psychotherapeutischer Behandlung befindet; eine akute Suizidalität bestehe nicht, es bestehe aber die Gefahr, dass bei einer Abschiebung nach Afghanistan eine Retraumatisierung eintrete und damit auch das Risiko bestehe, dass der Kläger bis hin zur Suizidalität dekompensiere. Ferner hat der Kläger einen auf den 24. September 2019 datierten Kurzbericht einer nach dem Heilpraktikergesetz zugelassenen Psychotherapeutin zu den Akten gereicht, aus dem sich ergibt, dass beim Kläger nach wie vor eine alltagseinschränkende Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung bestehe, die behandlungsbedürftig sei und in Afghanistan nicht behandelt werden könne.

Die von der Beklagten für die Klägerin geführten Verwaltungsvorgänge haben vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung konnte abschließend über die Klage entschieden werden, da die Beklagte auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist und das persönliche Erscheinen nicht angeordnet worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Nach Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter entscheidet dieser anstelle der Kammer (§ 76 Abs. 1 AsylG).

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

 Die zulässige, innerhalb der Frist der § 74 Abs. 1 Halbsatz 2, § 36 AsylG erhobene Klage ist, soweit noch über sie zu entscheiden war, im tenorierten Umfang begründet.
Der Bescheid des Bundesamts 8. August 2016 ist, soweit die vom Kläger begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt wird, rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist gemäß § 77 Abs. 1, 2. Halbsatz AsylG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung und damit das Asylgesetz und das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der letzten Änderung durch Art. 5 des Gesetzes vom 4. August 2019 (BGBl. I, S. 1131).
Die Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein Zweitantragsverfahren im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG vorliegt. Zuvor hatte der Kläger in der Slowakischen Republik als dem für seinen ersten Asylantrag zuständigen Mitgliedstaat nämlich erfolglos ein Asylverfahren betrieben, das mit einer ablehnenden Entscheidung hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (international protection), des subsidiären Schutzes (subsidiary protection) und des Bestehens nationalen Schutzes (national protection) endete (Schreiben des Slowakischen Innenministeriums vom 27. Oktober 2015, Seite 103 VV). Ausweislich der Akte des Bundesamts wurde das in der Slowakischen Republik durchgeführte Asylverfahren mit dem Beschluss aus dem Jahr 2005 auch bestandskräftig abgeschlossen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist für das Zweitverfahren zuständig, nachdem die Frist zur Überstellung des Klägers in die Slowakische Republik im Rahmen des Dublin-Verfahrens am 20. August 2015 abgelaufen war.
Die Auffassung der Beklagten, dass im vorliegenden Fall die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur unter den (strengeren) Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) erfolgen darf, vermag die Kammer indes nicht zu teilen. Anders als in der Folgeantragskonstellation der §§ 71 Abs. 1, 31 Abs. 3 Satz 1, 24 Abs. 2 AsylG wurden im Erstverfahren in der Slowakischen Republik Abschiebungsverbote nämlich nicht geprüft. Die Kammer versteht die Mitteilung des slowakischen Innenministeriums vom 27. Oktober 2015 so, dass im Jahr 2005 weder „international protection“ noch „subsidiary protection“ noch „national protection“ gewährt worden waren - was bedeutet, dass der Antrag des Klägers vollumfänglich abgelehnt wurde („asylum application … was refused). Die Mitteilung, dass der Asylantrag nicht zurückgenommen wurde („The asylum application was not taken back“), könnte mit Blick darauf, dass der Kläger bis zum 14. Juli 2014 ein (wie auch immer geartetes) Aufenthaltsrecht in der Slowakischen Republik hatte („The person had residence permit till 14.7.2014“), so verstanden werden, dass der ablehnende Bescheid aus dem Jahr 2005 erst 2014 bestandskräftig wurde, sofern unter der „Nichtrücknahme des Antrags“ ein gegen den ablehnenden Bescheid gerichtetes Rechtsmittel zu verstehen ist. Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben, weil in der Slowakischen Republik jedenfalls keine (bundesdeutschen) Abschiebungsverbote geprüft worden wären. Die nationalen Abschiebungsverbote (hier die des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) stellen nämlich eigenständige Schutztatbestände dar (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 16/14 -, juris, Rn.15 zu § 60 Abs. 2 AufenthG a.F.), die in anderen Mitgliedstaaten naturgemäß nicht geprüft werden. Wenn der betreffende Schutztatbestand in dem anderen, ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nicht geprüft worden ist, liegt in der Sache aber ein Erstverfahren vor. Dann ist es auch nicht gerechtfertigt, die Prüfung vom Vorliegen der zusätzlichen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG abhängig zu machen.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris). Soweit - wie in Afghanistan - ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 - 1 B 42.18 -, juris, Rn. 9). Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 - 1 B 42.18 -, juris, Rn. 13). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, juris, Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris, Rn. 26).
Die Kammer geht davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne faktische Unterhaltsverpflichtungen, die ohne familiäres oder soziales Netzwerk sind, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können (Sächsisches OVG, Urteil vom 18. März 2019 - 1 A 348/18.A -, juris, Rn. 68 m.w.N.). Zwar liegen beim Kläger spezifische individuelle Einschränkungen aufgrund der bei ihm diagnostizierten Erkrankungen (posttraumatische Belastungsstörung, Kopfschmerzen und Hörschädigung nach Kopfschussverletzung) vor. Diese wirken sich aber nicht auf seine Arbeitsfähigkeit aus (der Kläger steht - wenn auch in Deutschland - in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis). Besondere Umstände, die es in der gebotenen Gesamtschau nahelegen, dass er sich bei einer angenommen Rückkehr nach Afghanistan auch ein Leben am Rande des Existenzminimums nicht wird sichern können, liegen - auch unter Berücksichtigung seiner (seit Jahrzehnten bestehenden) Beeinträchtigungen, die ihn indes nicht an der Ausübung körperlicher Tätigkeiten hindern - nicht vor.
Dabei geht die Kammer davon aus, dass der Kläger seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere soweit es die posttraumatische Belastungsstörung anbelangt, nicht ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich aufgestellt oder aus der Luft gegriffen hat. Das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung ist zwar, angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptome, regelmäßig durch die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attestes nachzuweisen (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 - 10 C 8/07 -, juris, Rn. 15). Die Beibringung einer detaillierteren, an den Forschungskriterien F 43.1 u.a. des ICD-10 (International Classification of Diseases, World Health Organisation) orientierten gutachtlichen fachärztlichen Stellungnahme, wie sie das Bundesamt der Sache nach offenbar verlangt, mag zwar für die Überzeugungsbildung hilfreich sein, ist aber nicht Voraussetzung für einen substantiierten Vortrag. Damit würden die Anforderungen an die Darlegungspflicht des Klägers überspannt. Wenn das Bundesamt die Einholung einer derart ausführlichen gutachtlichen Stellungnahme eines Arztes für erforderlich hält, ist der Beteiligte zwar gehalten, den Arzt von seiner Schweigepflicht zu entbinden und sich gegebenenfalls weiterer Untersuchungen zu unterziehen, er ist aber nicht gehalten, von sich aus und auf seine Kosten eine solche gutachtliche Stellungnahme vorzulegen. Dies würde im Ergebnis auf eine Art Beweisführungspflicht hinauslaufen, die in der Regel mit den verwaltungsverfahrensrechtlichen und -prozessualen Grundsätzen nicht vereinbar ist (BVerwG, a.a.O., Rn. 16 zu den verwaltungsprozessualen Grundsätzen).
Die Kammer geht ferner davon aus, dass die vom Kläger vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch tatsächlich bestehen. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Klägers sind - jedenfalls teilweise (Berichte vom 7. Juli 2015 und vom 13. September 2019) - von einer Ärztin für Allgemeinmedizin getroffen worden, womit ärztliche Feststellungen vorliegen. Die ergriffenen (psychotherapeutischen) Maßnahmen werden in den Berichten vom 18. Januar 2016 einer psychologischen Psychotherapeutin (wenn auch „i.A.“, was die Kammer als „in Ausbildung“ versteht) und vom 24. September 2019 einer nach dem Heilpraktikergesetz zugelassenen Psychotherapeutin, die eine zertifizierte Beratertätigkeit für Flüchtlinge aus Afghanistan ausübt und der Muttersprache des Klägers mächtig ist, geschildert. Die Vermutung des Bundesamts, die Diagnosen seien ohne Anamnese getroffen worden, wird schon dadurch widerlegt, dass in allen Berichten vom Verlust beider Elternteile in den 1990-ern Jahren und von einer Schussverletzung des Klägers im Alter von 13 Jahren berichtet wird - dies belegt, dass der Kläger im Sinne einer psychologischen Diagnostik exploriert worden sein muss.
Diese Umstände genügen jedoch nicht für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Der Kläger ist nämlich nicht dadurch, dass er nicht behandelt würde, gefährdet. Die Gefahr besteht vielmehr darin, dass, würde der Kläger im Falle einer Abschiebung aus seiner jetzigen einigermaßen stabilen Situation herausgenommen werden, er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Retraumatisierung erleidet, die zu einer Dekompensation bis hin zur Suizidgefahr führt.
Dem Kläger drohen damit aufgrund seines Gesundheitszustandes und seiner persönlichen Lebenssituation im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Extremgefahr). Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei liegt nach Satz 2 der Vorschrift eine konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, und ist es nach ihrem Satz 3 nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist.
Beruft sich der einzelne Ausländer auf allgemeine Gefahren, kann er gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz regelmäßig nur im Rahmen eines generellen Abschiebestopps nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erhalten; ohne einen solchen generellen Abschiebestopp steht ihm wegen allgemeiner Gefahren kein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.12.2000 - Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist für das Bundesamt und die Gerichte allerdings in verfassungskonformer Auslegung und Anwendung dann unbeachtlich, wenn im Abschiebezielstaat für den Ausländer entweder aufgrund der allgemeinen Verhältnisse oder aufgrund von Besonderheiten im Einzelfall landesweit eine extrem zugespitzte Gefahr für sein Leben zu erwarten ist, wenn also mit anderen Worten der betroffene Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, vom 21. September 1999 - 9 C 9.99 - und vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 -, juris).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Auf Grund der bei ihm bestehenden psychischen und auch somatischen Erkrankungen und den daraus resultierenden Folgen muss davon ausgegangen werden, dass für den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht.
Dies ergibt sich aus dem zuletzt eingereichten Attest vom 13. September 2019 der den Kläger behandelnden Hausärztin, in dem es wie folgt heißt: „Es besteht derzeit keine aktuelle Suizidalität, jedoch im Falle einer Abschiebung und damit Herausnahme aus der jetzt stabilen Situation ein erhebliches Risiko der Retraumatisierung und damit auch das Risiko einer Dekompensation des momentan stabilen psychischen Zustands bis hin zur Suizidalität“.

Die Behandlung von psychischen Erkrankungen in Afghanistan ist nur unzureichend möglich. Es gibt lediglich in einigen größeren Städten wenige Kliniken, die zudem klein und überfüllt sind. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012 und vom 04.06.2013; Information von D-A-CH Kooperation Deutschland-Österreich-Schweiz „Afghanistan“ vom 09.12.2013, S. 53 ff. (55)Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012 und vom 04.06.2013; Information von D-A-CH Kooperation Deutschland-Österreich-Schweiz „Afghanistan“ vom 09.12.2013, S. 53 ff. (55) Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere von Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von Nichtregierungsorganisationen, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Wie auch in anderen Krankenhäusern ist eine Unterbringung von Patienten grundsätzlich nur darstellbar, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012, vom 04.06.2013, vom 31.03.2014 und vom 31.05.2018Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 10.01.2012, vom 04.06.2013, vom 31.03.2014 und vom 31.05.2018 Für Kabul wurde in der Vergangenheit berichtet, dass es lediglich zwei psychiatrische Einrichtungen geben soll, und zwar das Mental Health Hospital mit 100 Betten und die Universitätsklinik Aliabad mit 48 Betten (VG des Saarlands, Urteil vom 8. Februar 2017 - 5 K 830/16 -, juris, Rn. 31). Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtesvom 31.05.2018vom 31.05.2018 (vom 2. September 2019) wird für die knapp vier Millionen Einwohner zählende Stadt Kabul von lediglich einer staatlichen Klinik mit 14 Betten zur stationären Behandlung berichtet. In Jalalabad und Herat soll es jeweils 15 Betten für psychiatrische Fälle geben. Diese Anzahl von Behandlungsplätzen reicht jedoch selbst in Kabul kaum aus, um eine ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten. Ansonsten wird noch für Mazar-e Sharif von einer privaten Einrichtung berichtet, die psychiatrische Fälle stationär aufnimmt. Folgebehandlungen sind oft schwierig zu leisten, insbesondere wenn der Patient kein unterstützendes Familienumfeld hat. Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Obwohl die Behandlungsbedarfe wegen der weiten Verbreitung solcher Erkrankungen akut sind, herrscht weiterhin ein Mangel an ausgebildetem Personal, namentlich an Psychiaterinnen und Psychiatern, Sozialarbeitenden, Psychologinnen und Psychologen sowie an angemessener Infrastruktur; es wird von „ungefähr drei ausgebildeten Psychiaterinnen und Psychiatern und zehn Psychologinnen und Psychologen für eine Bevölkerung von mehr als 30 Millionen Menschen“ berichtet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, Auskunft vom 5. April 2017, S. 3).

 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss davon ausgegangen werden, dass eine erforderliche psychotherapeutische und auch medikamentöse Behandlung zumindest der nachgewiesenen schweren psychischen Erkrankung des Klägers in Afghanistan nicht in ausreichendem Umfang möglich ist und sich sein Zustand derzeit durch eine Abschiebung nach Afghanistan ohne regelmäßige medizinische Behandlung so weit verschlechtern würde, dass für ihn im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland eine akute Gefahr für Leib und Leben bestünde. Auf Grund der diagnostizierten Erkrankungen einerseits und fehlender Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan andererseits sind hinsichtlich des Klägers gerade bei einer Rückkehr schwere psychische Beeinträchtigungen - einschließlich akuter Suizidgefahr - anzunehmen.
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, waren die Kosten des nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens nach § 155 Abs. 2 VwGO - insofern - zunächst diesen aufzuerlegen. Soweit sodann der Kläger mit der verbliebenen Klage obsiegt hat, trägt allerdings die Beklagte die Kosten. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass der Gegenstandswert in Klageverfahren nach dem Asylgesetz nach § 30 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz nunmehr einheitlich 5.000 € beträgt. Deshalb ist das Unterliegen der Kläger im Umfang der Klagerücknahme im Sinne von § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO als geringfügig zu werten. Mit anderen Worten kann sich also das Unterliegen der Kläger im Umfang der Klagerücknahme kostenrechtlich im Ergebnis nicht auswirken; im Umfang der Klagerücknahme sind nämlich keine weiteren Kosten entstanden. Das hat zur Folge, dass die diesbezügliche formale Kostenlast der Kläger ins Leere geht und auf der Grundlage des einheitlichen Gegenstandswerts materiell die Beklagte die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2 Zivilprozessordnung.