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Arzneimittel - Regress - Marinol - Nikolausbeschluss


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 24. Senat Entscheidungsdatum 25.09.2015
Aktenzeichen L 24 KA 134/11 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 106 SGB 5, § 2 Abs 1a SGB 5

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. September 2011 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 16. Dezember 2005 hinsichtlich der Ziffer 1) aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, auch insoweit den Widerspruch zurückzuweisen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, welche diese selbst zu tragen haben.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Im Streit ist die Festsetzung eines Arzneimittelregresses wegen der wiederholten Verordnung des Arzneimittels Marinol in den Jahren 2000 und 2001.

Marinol ist ein in den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada zugelassenes Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC), einer in der Hanfpflanze vorkommenden natürlichen organischen Verbindung (Cannabis). Der Wirkstoff ist ein Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG). In den Jahren 2000 und 2001 war ein Fertigarzneimittel mit diesem Wirkstoff in Deutschland nicht zugelassen. Das wirkstoffidentische Rezepturarzneimittel Dronabinol ist mit Wirkung zum 1. Februar 1998 in die Anlage III zum BtMG als verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel aufgenommen worden. Im Laufe des Jahres 2000 erhielt die Firma THC P GmbH die Zulassung zum Vertrieb von Dronabinol in Deutschland. Die Zulassung von Marinol in den Vereinigten Staaten und Kanada erfolgte für die Indikationen:

1.anorexia associated with weight loss in patients with AIDS; and
2.nausea and vomiting associated with cancer chemotherapy in patients who have failed to respond adequately to conventional antiemetic treatments.

Der Kläger ist Facharzt für Anästhesiologie und hat seinen Vertragsarztsitz in P. Er unterhält dort eine schmerztherapeutische Schwerpunktpraxis, in deren Rahmen er auch eine Tumorsprechstunde anbietet. Er behandelte seit dem 20. Juli 1998 FK, der Mitglied der Beigeladenen zu 2) war (im Folgenden: der Versicherte), zunächst wegen Schmerzzuständen u.a. des Gesichts. Zu Behandlungsbeginn gab der Versicherte bei einer Körpergröße von 182 cm ein Gewicht von 82 kg an, wobei er Anfang des Jahres noch fast 100 kg gewogen habe. Am 3. Februar 1999 wurde bei dem Versicherten im Klinikum E-v-B in Potsdam die Diagnose eines verhornenden Plattenepithel-Carzinoms des Zungenrandes rechts gestellt. Nach operativer Resektion im Februar 1999 folgte – unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Histologie – im März 1999 eine Nachresektion. Hierbei wies einer der entnommenen Lymphknoten eine Infiltration aus atypischen Plattenepithelien mit zentraler Verhornung auf. Bis Mai 1999 wurde eine Strahlentherapie durchgeführt.

Der Kläger hielt in seiner Behandlungsdokumentation am 4. Mai 1999 fest, dass der Versicherte jetzt 70 kg wiege und Angst vor weiterer Gewichtsabnahme habe. Jedenfalls ab dem 8. Juni 1999 verordnete er dem Versicherten Biosorb. Im Zeitraum vom 29. Juni 1999 bis 27. Juli 1999 erfolgte eine Anschlussheilbehandlung (AHB). Im Abschlussbericht der M Klinik wird von einer Gewichtsabnahme von 12 kg seit der Operation und einer Zunahme von 2 kg während der AHB berichtet. Neben den karzinombezogenen Diagnosen wurde ein ausgeprägter Schmerzmittelabusus, eine radiogene Dermatitis II. Grades und ein toxischer Leberparenchymschaden bei Zustand nach chronischem Alkoholabusus bis 1992 mitgeteilt. Hinsichtlich des Gesichtsschmerzes sei neben einer unbekannten Schmerzursache differentialdiagnostisch auch von einer Suchtverlagerung auszugehen.

Am 3. September 1999 hielt der Kläger eine zunehmende schmerzende Nahrungsaufnahme und erneute Abnahme (von 76 kg auf 74 kg) fest. Nach den Berichten der Tumorsprechstunde des Ernst-von-Bergmann-Klinikums aus dem Jahr 1999 wurde durchgehend kein Anhalt für ein Tumorrezidiv festgestellt. Als Ergebnis einer stationären Behandlung in derselben Klinik im November 1999 wurde eine Parotis acuta rechts festgestellt. Hierbei wurde ein Gewicht von 73 kg dokumentiert. Am 21. Dezember 1999 gab der Kläger dem Versicherten Dexamethason als Therapieversuch mit. Dieses wurde am 7. Januar 2000 wegen starker Blähungen und Schlaflosigkeit wieder abgesetzt. Am 21. Januar 2000 händigte der Kläger dem Versicherten Saroten aus, das am 28. Januar 2000 wegen Mundtrockenheit wieder abgesetzt wurde. Am selben Tag hielt der Kläger fest, dass Mcp nicht helfe. Am 4. Februar 2000 notierte der Kläger, dass der Versicherte einen schwerstkranken Eindruck mache. Die Nahrungsaufnahme gelinge nach Angaben des Versicherten nur dank Biosorb. Der Versicherte gab ein Gewicht von 70 kg mit Bekleidung an. Am 15. Februar 2000 beschrieb der Kläger u.a. eine deutliche Abmagerung, am 28. Februar 2000 vermerkte er die Äußerung des Versicherten, wieder nach Hause zu wollen, wenn man im Krankenhaus nichts finde. Es heißt dort ferner: „keine invasive Ernährung (Infusion, Sonden, PEG?)“. Nach weiteren Feststellungen zu dem angegebenen Gewichtsverlust, der entsprechend dem Eintrag vom 17. März 2000 angesichts des Sitzes der Bekleidung voll nachvollziehbar sei, hielt der Kläger am 31. März 2000 eine Gewichtsangabe von ca. 70 kg und am 17. April 2000 von 63 kg (in Unterwäsche) fest. Am selben Tag wurde mit dem Versicherten die Verordnung eines Cannabispräparats besprochen. Als Therapieziele wurden Appetitsteigerung und damit Gewichtszunahme in die Behandlungsdokumentation des Klägers aufgenommen. Ein positiver Effekt auf die Trigeminusneuralgie und neuropathologischen Schmerz sowie eine antidepressive Wirkung sei möglich (Eintrag vom 17. April 2000). Nachdem der Versicherte am 5. Mai 2000 endgültig zugestimmt hatte, verordnete der Kläger laut Behandlungsdokumentation am 12. Mai 2000 „als Therapie ultima“ erstmals Marinol. Die Einnahme sollte laut Rezept gemäß schriftlicher Anweisung erfolgen. Weitere Verordnungen von Marinol stellte der Kläger am 7. (Marinol Nr. 100) und 21. Juli (Marinol Nr. 360), 12. und 18. September, 17. Oktober sowie am 20. November 2000 (jeweils Marinol Nr. 360) aus. Ab der Wiedervorstellung am 22. Mai 2000 stellte der Kläger eine Besserung des Zustandes des Versicherten fest, bis 30. Mai 2000 wurde eine Gewichtszunahme von 1,5 kg dokumentiert. Am 10. Juli 2000 wurde ein deutlich besserer Appetit angegeben, es fehle allerdings Speichel. Für August wird ein Gewicht von über 70 kg festgehalten. Nachdem Marinol im September 2000 nicht verfügbar war, wurden erneut Übelkeit und Erbrechen dokumentiert. Am 17. Oktober 2000 wurde ein Gewicht von 73 kg angegeben. Am 24. November 2000 besprach der Kläger mit dem Versicherten eine Dosisreduktion des Marinols auf „4x4“. Der Versuch der Reduktion über Weihnachten scheiterte, es blieb bei 10mg 6stündlich (Eintrag vom 4. Januar 2001). Dr. Z, der behandelnde HNO-Arzt des Versicherten, stellte in seiner Behandlungskartei am 3. Juli, 4. September, 12. November 2000 und 5. Februar 2011 jeweils einen guten Allgemeinzustand fest.

Am 2. Februar 2001 vermerkte der Kläger die Neueinstellung und langsames Reduzieren von Marinol als weiteres Konzept. In der Folge verordnete er erneut am 15. und 26. März, am 5. und 27. Juli, am 16. Oktober sowie am 10. November 2001 Marinol. Die Berichte der Tumorsprechstunde im E-v-B-Klinikum und eine stationäre Behandlung vom 27. Juni bis 1. Juli 2001 ergaben weiterhin keinen Anhalt für einen neuen malignen Tumor. In einem BCM-Test vom 3. Juli 2001 wurde ein Körpergewicht des Versicherten von 72 kg (bekleidet), ein ausgeglichener Körperzellanteil und einem Body-Mass-Index von 21,7 festgestellt. Der Kläger vermerkte dazu in seiner Dokumentation, dass versucht werden solle, Marinol zu reduzieren, wenn die benötigten Kalorien „geschafft“ würden. Am 12. November 2001 empfahl der Kläger dem Versicherten, Cannabis wegzulassen, nachdem dieser am Freitag zuvor bewusstlos geworden war. Am 15. November 2001 hielt der Kläger als weiteres Therapiekonzept u.a. „Marinol raus“ fest. Eine erneute stationäre Behandlung im Dezember 2001 ergab keine weiteren pathologischen Befunde. Es wurde eine Gewichtssteigerung von 73 auf 76 kg festgehalten. Letztmals unter dem 7. März 2002 verordnete der Kläger – ausweislich der Behandlungsdokumentation – Marinol. Im Laufe des Jahres 2002 beobachtete er nach Absetzen von Marinol eine erneute Gewichtsabnahme (23. Juli 2002: 70 kg angegeben, 4. November 2002: „fast wieder wie vor 2 Jahren“, 12. Dezember 2002: ca. 68 kg). Bei einer erneuten stationären Behandlung im November 2003 wurde ein Gewicht von 67 kg festgestellt. Im September/Oktober 2004 wurde der Versicherte wegen Gewichtsverlusts und Fieberschüben stationär behandelt. Im Entlassungsbericht des E v B Klinikums wurde die Fortführung der ambulanten symptomatischen Behandlung mit Dronabinol empfohlen. Während der gesamten Behandlung des Versicherten erhob der Kläger regelmäßig Daten mittels eines Schmerzfragebogens, in dem u.a. auch nach Appetitlosigkeit gefragt wurde.

Bereits mit Schreiben vom 12. Oktober 2001 hatte die Beigeladene zu 2) dem Prüfungsausschuss formlose Anträge auf „sonstigen Schaden“ übersandt. Sie führte in dem Begleitschreiben aus, dass es sich um Arzneimittelverordnungen außerhalb der Indikation handele. Dem Schreiben waren tabellarische Zusammenstellungen der Kosten für die abgegebenen Medikamente sowie Kopien der eingelösten und vom Kläger ausgestellten Verordnungen vom 12. September 2000 (14*25 Stück für 8.724,53 DM), 18. September 2000 (14*25 Stück für 8.724,53 DM), 17. Oktober 2000 (14*25 Stück für 15.242,86 DM), 20. November 2000 (14*25 Stück für 15.242,86 DM), 9. Februar 2001 (10mg 7*25 Stück für 12.033,84 DM), 26. März 2001 (10mg 9*25 Stück für 15.446,43 DM), 7. Mai 2001 (8.433,19 DM) und 31. Mai 2001 (7.718,52 DM) beigefügt.

Am 29. Oktober 2001 sandte der Prüfungsausschuss den Antrag im Original mit der Bitte zurück, diesen gemäß Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) zu unterlegen und den Anträgen die begründenden Unterlagen beizufügen. Auf § 15 Abs. 2 der Prüfvereinbarung vom 1. Januar 1999 wurde hingewiesen, wonach der Prüfungsausschuss auf begründeten Antrag der Krankenkassen entscheide.

Die Beigeladene zu 2) teilte am 10. Januar 2002 mit, dass sie ihren Antrag aufrecht halte. Unter Vorlage eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MdK) vom 23. Oktober 2001 wies sie darauf hin, dass eine Anwendung von Marinol in der Schmerztherapie zum jetzigen Zeitpunkt nicht befürwortet werde, weil keine validen klinischen Studien vorlägen. Es handele sich im Falle des Versicherten eindeutig um eine Schmerztherapie. Auf die Zulassung allein in den USA mit den entsprechenden Indikationen wurde Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 21. Januar 2002 informierte der Prüfungsausschuss den Kläger über die Antragstellung für die Quartale III/2000 bis II/2001 unter Übersendung von Antragskopien. In seiner Stellungnahme vom 28. Januar 2002 und 4. März 2002 stellte der Kläger zunächst die erfolgte schmerztherapeutische Behandlung und die 1998 eingetretene Verschlechterung des Allgemeinzustandes sowie die Entdeckung des Zungenkarzinoms im Februar 1999 dar. Nach der Tumoroperation sei der Versicherte in die Karzinomsprechstunde des Klägers integriert worden. Es seien supportive Maßnahmen insbesondere zur Linderung der Bestrahlungsfolgen (Schluck- und Ernährungsstörungen) notwendig gewesen. Bis Ende 1999 habe sich der Allgemeinzustand deutlich verschlechtert. Unter der Voraussetzung eines persistierenden Krebsleidens sei zur Verhinderung weiteren Gewichtsverlustes (mittlerweile -25 kg des Ausgangsgewichts) zur Antiemisis und zur Appetitstimulation am 12. Mai 2000 erstmals 60 Tabletten 2,5 mg Marinol verschrieben worden. Es habe sich dabei um einen in der Apotheke verbliebenen Restposten einer zwischenzeitlich verstorbenen Patientin gehandelt. Unter der eingeleiteten Therapie habe sich die Befindlichkeit des Versicherten schlagartig verbessert. Es sei – aufgrund unregelmäßiger Importnachlieferungen – zu mehreren Auslassversuchen gekommen, die zu einer starken Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes geführt hätten. Am 23. Februar 2001 habe er - der Kläger – sich an die beratenden Ärzte der Beigeladenen zu 1) gewandt. Es seien ihm Absetzversuche angeraten worden. Wenn dies nicht gelänge, könne er indikationsgerecht weiter wegen starkem Gewichts- und Appetitverlust bei einem Zungenrandkarzinom verordnen. Eine schmerztherapeutische Einstellung mit Marinol sei zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt gewesen. Die Behandlung unterfalle der Therapiefreiheit.

Mit Schreiben vom 15. Mai 2002 stellte die Beigeladene zu 2) Prüfanträge auf sonstigen Schaden wegen der Verordnung vom 15. März 2001 (3.373,03 DM), 31. Mai 2001 (8.423,69 DM) und 30. Juni 2001 (7.699,52 DM). Vorgelegt wurden Verordnungen vom 15. Februar 2001, 7. Mai 2001 und 31. Mai 2001. Der Prüfungsausschuss wies am 31. Mai 2002 den Antrag vom 15. Mai 2002 durch Schreiben der Geschäftsstelle hinsichtlich des Quartals I/2001 (Betrag 3373,03 DM) wegen Verfristung ab. Die Antragstellung ende nach § 15 Abs. 4 der Prüfvereinbarung 12 Monate nach Ausstellung der Verordnung, spätestens 9 Monate nach Eingang der Verordnung bei der Krankenkasse. Mit Schreiben vom 10. Juni 2002 stellte die Beigeladene zu 2) weitere Prüfanträge auf sonstigen Schaden unter Vorlage der Verordnungen vom 5. Juli 2001 (9.259,99 DM), 27. Juli 2001 (8.550,97 DM) und 19. September 2001 (9.260,05 DM).

Der Prüfungsauschuss entschied mit Bescheid vom 25. Juni 2003, dass kein „sonstiger Schaden“ bezüglich der Verordnung von Marinol für die Quartale III/2000 bis III/2001 festgestellt werde. Marinol sei vorliegend im Rahmen der Therapiefreiheit als Ausnahmefall und nicht entgegen den geltenden Regelungen eingesetzt worden.

Bereits mit Schreiben vom 9. Januar 2003 hatte die Beigeladene zu 2) einen weiteren Prüfantrag für die Verordnungen vom 16. Oktober 2001 (7.741,03 DM) und 8. November 2001 (7.741,03 DM) gestellt. Durch Bescheid vom 29. Oktober 2003 lehnte der Prüfungsausschuss die Festsetzung eines Schadens aus denselben Gründen wie im Bescheid vom 25. Juni 2003 ab.

Die Beigeladene zu 2) legte gegen die Bescheide des Prüfungsausschusses vom 25. Juni 2013 und vom 29. Oktober 2013 Widerspruch ein, den sie damit begründete, dass Marinol nur in den USA und Kanada zugelassen sei. Es stünden andere Behandlungsmethoden zur Verfügung. Dazu verwies die Beigeladene zu 2) auf ein Gutachten des MDK Nordrhein von Herrn W zum medizinischen Einsatz von Cannabis und Cannabinoiden bei Anorexie und Kachexie aus dem Juli 2003. Nach den Ausführungen des Gutachters seien die vorhandenen Wirksamkeitsnachweise nur in die Evidenzklasse I einzustufen. Forschungsergebnisse, wie das BSG sie fordere, lägen nicht vor. Zudem sei die vertragsärztliche Verordnung von Arzneimitteln zur Anorexiebehandlung durch Ziffer 17.1 O der Arzneimittelrichtlinien ausgeschlossen.

Der Beklagte hörte den Kläger in der Sitzung seiner 3. Kammer am 16. November 2005 persönlich an. Die Vorsitzende teilte den angehörten Ärzten mit, dass die Entscheidung durch eine zeitnahe Übersendung des Prüfbescheides eröffnet werde. Nach der Sitzungsniederschrift wurde dem Widerspruch der Beigeladenen für alle Quartale stattgegeben und jeweils ein Regressbetrag festgesetzt.

Nachdem die Verfristung der Antragstellung für die Quartale III/2000 und IV/2001 aufgefallen war, beriet die 3. Kammer des Beklagten am 16. Dezember 2005 erneut über die Widersprüche. In der Sitzungsniederschrift ist zu den Tagesordnungspunkten 32 bis 37 (welche nach Quartalen aufgeteilte Regressentscheidungen gegen den Kläger betreffen) festgehalten:

Der Beschwerdeausschuss berät erneut die am 16. November 2005 behandelten Verfahren. Nunmehr kommt er zu dem Ergebnis, dass bei den Verordnungen von Marinol durch Herrn Dr. med. K. G für die Quartale III/2000, I/2001 und IV /2001 eine Verfristung bei Antragstellung durch die Krankenkasse vorliege. Der Widerspruch für das Quartal II/2001 wird wegen doppelter Antragstellung zurückgewiesen.

Der tabellarischen Tagesordnung der Sitzung ist zu den TOP 32, 34 und 37 (Zeiträume III/00, I/01 und IV/01) jeweils in der Spalte „Beschwerdeausschuss“ der handschriftliche Eintrag „verfristet“ zu entnehmen. Sie trägt unmittelbar unter der Tabelle die Unterschrift der damaligen Vorsitzenden des Beklagten.

In der Folge gab der Beklagte den Beteiligten den Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2005 bekannt. Danach wurden die Bescheide des Prüfungsausschusses vom 25. Juni 2003 und 29. Oktober 2003 aufgehoben und wie folgt geändert:

„Wegen der Verordnung von Marinol wird

für Quartal IV/2000

ein Regress in Höhe von 15.587,10 €

für Quartal I/2001

ein Regress in Höhe von 14.050,44 €

für Quartal II/2001

ein Regress in Höhe von 8.258,24 €

für Quartal III/2001

ein Regress in Höhe von 13.841,40 €

festgesetzt.“

Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Die Anträge seien hinsichtlich des Quartals III/2000 (Antrag vom 9. Januar 2003) und IV/2001 verfristet. Die Anträge vom 12. Oktober 2001 und 15. Mai 2002 beruhten auf identischen Verordnungen. Hinsichtlich der weiteren Quartale sei der Widerspruch begründet. Es hätten Alternativen zur beanstandeten Marinol-Therapie bestanden. Zur Therapie der Symptome Übelkeit und Erbrechen während der Chemotherapie hätte das zugelassene Arzneimittel Zofran angewendet werden können.

Gegen den ihm am 22. Februar 2006 zugestellten Widerspruchsbescheid richtet sich die am 17. März 2006 beim Sozialgericht Potsdam eingegangene Klage. Vor dem Sozialgericht hat der Kläger vorgetragen, dass sich die Lage des Patienten ihm Ende 1999 infaust dargestellt habe. Der Versicherte habe einen Gewichtsverlust von 25 Kilo bei einem normalen Ausgangsgewicht zu verzeichnen gehabt. Ein Schadensersatzanspruch scheide mangels schuldhaftem Verhalten aus. Die Ausstellung der Verordnungen stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98) und des Bundessozialgerichts (4. April 2006 – B 1 KR 7/05 R). Der Versicherte habe an einer lebensbedrohlichen und singulären Erkrankung gelitten. Für den „Off-Label-Use“ von Zofran sei nicht nachgewiesen, dass ausreichende Studien bei Anorexie und Kachexie außerhalb einer Chemotherapie vorlägen. Das Medikament sei als Therapieoption geprüft, jedoch als nicht geeignet verworfen worden. Die Kachexie sei ein eigenes Krankheitsbild (ICD10 R64). Es sei der auch im Übrigen nicht positive Gesundheitszustand des Versicherten zu berücksichtigen, wie z.B. Pilze im Mund. Bis zur Entscheidung des BSG vom 18. Mai 2004 seien nach § 73 Abs. 3 AMG importierte Fertigarzneimittel häufig zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet worden. Marinol sei ca. 3 Jahre vor Veröffentlichung dieser Entscheidung verordnet worden. Auch Dronabinol als Rezepturarzneimittel habe zum Zeitpunkt der Verordnung nicht zur Verfügung gestanden.

Das Sozialgericht hat die Behandlungsunterlagen des Klinikums Ernst von Bergmann, der behandelnden Ärzte Dr. S und Dr. Z sowie die des Klägers beigezogen. Es hat sodann durch Beweisanordnung vom 15. Juni 2010 ein Sachverständigengutachten nach Aktenlage in Auftrag gegeben und mit Anordnung vom 4. Mai 2011 Dr. M T zum Sachverständigen bestimmt. In seinem schriftlichen Gutachten vom 6. Juni 2011 ist der Sachverständige Dr. T nach Auswertung der vorliegenden Unterlagen zu dem Schluss gelangt, dass bei dem Versicherten eine lebensbedrohliche Tumorkachexie vorgelegen habe. Im Mai 2000 sei der Zustand des Patienten derart kritisch gewesen, dass man ohne Behandlung mit dem in Kürze eintretenden Tod hätte rechnen müssen. Es liege ein Seltenheitsfall vor. Wegen der Einzelheiten wird auf das schriftliche Gutachten Bezug genommen.

Das Sozialgericht hat die Klage nach ergänzender Befragung des Sachverständigen Dr. T in der mündlichen Verhandlung durch Urteil vom 21. September 2011 abgewiesen. Rechtsgrundlage des festgesetzten Arzneimittelregresses sei § 106 Abs. 2 SGB V. Mangels Zulassung von Marinol in Deutschland scheide ein Off-Label-Use aus. Es seien allein die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen in ihrer Ausformung durch die Rechtsprechung des BSG zu prüfen gewesen. Die Kammer gehe von einer schwerwiegenden Erkrankung des Versicherten im Jahr 2000 aus. Es habe sich um eine Tumorkachexie gehandelt, die als Folgeerkrankung zu qualifizieren sei und im Jahr 2000 ein lebensbedrohliches Stadium erreicht habe. Auch die weitere Voraussetzung, das Fehlen von anerkannten wirksamen kurativen Behandlungstherapien, sei zum damaligen Zeitpunkt wie auch jetzt noch zu bejahen. Zu verneinen sei aber eine auf Indizien gestützte nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung. Das Bundesverfassungsgericht sei in seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005 davon ausgegangen, dass das eingesetzte Mittel zur Behandlung der Grunderkrankung eingesetzt werde. Später habe es dies ergänzt und ausgeführt, dass es nicht nur um die Behandlung der Grunderkrankung gehe, sondern auch um die Einwirkung auf das Gesamtrisikoprofil (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 6. Februar 2007 - Az.: 1 BvR 3101/06). Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 13. Oktober 2010 (B 6 KA 48/09 R) darauf abgestellt, dass es sich selbst in solchen Fällen um die Einwirkung auf die lebensbedrohliche Erkrankung handeln müsse. Von einer Einwirkung auf die Grunderkrankung – Zungenrandkarzinom – sei auch der Kläger nicht ausgegangen. Die Behandlung mit Marinol habe die Tumorkachexie bekämpfen sollen, insofern habe aber keine auf Indizien gestützte auch nur kleine Aussicht auf Heilung oder spürbar positive Einwirkung bestanden. Die Wirkungsweise von Marinol bei Tumorkachexien sei nicht bekannt. Ein Nachweis sei auch in kontrollierten Studien nicht erbracht worden Der Kläger habe aufgrund von Erfahrungen bei einem anderen Patienten lediglich die Hoffnung auf spürbare Beeinflussung gehabt. Es habe zwar zum damaligen Zeitpunkt einige Experten gegeben, die Marinol befürwortet hätten. Auch diesen sei die Wirkungsweise indessen unbekannt geblieben. Die vom MDK zitierten Studien deuteten darauf hin, dass eine tatsächliche Gewichtszunahme durch die Einnahme von Marinol nicht nachgewiesen werden konnte. Es wären zunächst die zum Leistungskatalog der GKV gehörenden Behandlungsmethoden zu wählen gewesen. Dazu hätten neben den auch verordneten Elementardiäten auch pflanzliche Arzneimittel gehört. Des Weiteren wäre zur Verhinderung des Verhungerns eine parenterale Ernährung in Betracht gekommen. Die Aufklärung des Versicherten über die Arten der parenteralen Ernährung sei nach Ansicht der fachkundig besetzten Kammer unzureichend erfolgt. Künstliche Ernährung wäre auch über einen Port ambulant und nachts möglich gewesen. Der Kläger habe letztlich das Risiko der Gabe von Marinol auch nicht richtig eingeschätzt. Die fachkundig besetzte Kammer schließe insoweit eine bereits vor Auftreten des Zungenrandkarzinoms bestehende Suchtproblematik verbunden mit Depressionen nicht aus. Das Hauptrisiko bei dem Versicherten habe in der psychischen Abhängigkeit von Marinol gelegen. Im Wesentlichen sei nur die Lebensqualität des Versicherten gebessert worden. Daraus ergebe sich nicht die vom Bundesverfassungsgericht beschriebene notstandsähnliche Lage, in der (nahezu) jeder Behandlungsansatz auf Kosten der GKV möglich sei. Der Kläger hätte auf das Risiko eines Regresses durch Ausstellung eines Privatrezeptes und einer entsprechenden Antragstellung des Versicherten bei der Krankenkasse verweisen können.

Gegen das ihm am 3. November 2011 zugestellte Urteil richtet sich die am 15. November 2011 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangene Berufung des Klägers. Bei der Tumorkachexie handele es sich um ein eigenständiges Krankheitsbild. Es stelle ein widersinniges Ergebnis dar, wenn das nicht behandelbare, aber auch nicht unmittelbar zum Tod führende Grundleiden bewirke, dass das weitere lebensgefährliche Krankheitsbild nicht behandelt werden dürfe. Die Verordnungen hätten nicht auf eine Verbesserung der Lebensqualität gezielt. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts gebe es eine auf Indizien gestützte Aussicht auf Heilung. Auch wenn man nicht wisse, warum und wie Cannabinoide-Stoffe wirkten, habe der Sachverständige Dr. T doch ausdrücklich auf wissenschaftliche Belege für einen Erfolg der Therapie hingewiesen. Der Versicherte sei im Hinblick auf § 65 SGB I berechtigt gewesen, einen Port abzulehnen, der einen operativen Eingriff erforderlich gemacht hätte. Das Sozialgericht habe sich über die Ausführungen des Sachverständigen zur Risikoabschätzung hinweggesetzt, ohne darzulegen, wo seine besondere Sachkunde liege. Eine mögliche Drogenabhängigkeit könne nicht den Verzicht auf eine Therapie rechtfertigen, ohne die der Versicherte gestorben wäre. Der Versicherte habe sowohl eine parenterale Ernährung als auch das Einsetzen einer Magensonde ausdrücklich abgelehnt. Das ergebe sich auch aus der Dokumentation in der Patientenkartei. Er – der Kläger – habe vor Beginn der Verordnungen mehrfach mit dem Versicherten über eine Marinol-Therapie gesprochen. Er sei zunächst davon ausgegangen, dass es sich um eine palliative Therapie handele und ein Versterben des Versicherten bis Ende des Jahres 2000 zu erwarten sei. Er sieht sich bestätigt in seiner Auffassung durch das Gutachten, das die von dem Senat beauftragte Sachverständige Dr. K erstattet hat. Zum Beweis einer erfolgten Aufklärung verweist er auf die Vernehmung des Versicherten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. September 2011 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. Dezember 2005 hinsichtlich der Ziffer 1) aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, auch insoweit den Widerspruch zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die angefochtene Entscheidung. Ein Off-Label-Use stehe nicht in Frage, da Marinol überhaupt nicht zugelassen sei. Das Sozialgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der Tumorkachexie nicht um eine eigenständige Erkrankung gehandelt habe. Auch halte er daran fest, dass es eine Therapiealternative in Form der parenteralen Ernährung gegeben hätte. Das habe auch die vom Senat beauftragte Sachverständige Dr. K bestätigt.

Der Beigeladene zu 1) meint, dass der Versicherte weder zu einer enteralen noch zu einer parenteralen Ernährung hätte gezwungen werden dürfen. Auf die bestehenden Risiken solcher Behandlungen habe die vom Senat beauftrage Sachverständige Dr. K nicht gesondert eingehen müssen. Der Stellungnahme der hochspezialisierten Sachverständigen sei höherer Rang einzuräumen als den Ausführungen des Beklagten.

Die Beigeladene zu 2) verteidigt die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts. Das von Dr. T für das Sozialgericht erstellte Gutachten sei nicht verwertbar, da sich die Fragestellung auf einen Off-Label-Use beziehe. Die Kachexie sei keine eigenständige Erkrankung. Es hätten zulässige Alternativbehandlungen zur Verfügung gestanden, für die zumindest entsprechende Therapieempfehlungen gegeben waren. Der Kläger sei mit seinem Vortrag präkludiert, dass er den Versicherten ordnungsgemäß aufgeklärt habe.

Der Senat hat die Beteiligten auf die Diskrepanzen zwischen der Sitzungsniederschrift des Beklagten vom 16. Dezember 2005 und dem Widerspruchsbescheid hingewiesen. Er hat den Sachverständigen Dr. T in seiner Sitzung vom 25. Januar 2013 ergänzend befragt. Für das Ergebnis wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Frau Dr. K vom Universitären Krebszentrum der Universität L hat im Auftrag des Senats ein Sachverständigengutachten zu den im streitigen Zeitraum bei dem Versicherten feststellbaren Erkrankungen und den Möglichkeiten einer Therapie mit Marinol erstattet. Für den Inhalt des Gutachtens vom 1. März 2015, in dem die Sachverständige im Wesentlichen die von Dr. T abgegebenen Einschätzung bestätig hat, wird auf die Gerichtsakte verwiesen. Der Senat hat noch bei der THC-P GmbH angefragt, ab wann eine Versorgung mit Dronabinol durch eine Potsdamer Apotheke tatsächlich möglich gewesen wäre. Für die Antwort wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung hat Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die gegen den Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2015 gerichtete Klage abgewiesen. Der vom Beklagten erlassene Widerspruchsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Gegenstand der erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist allein der vom Beklagten erlassene Widerspruchsbescheid. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG wird der Beschwerdeausschuss mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Der von ihm erlassene Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt des Prüfungsausschusses bzw. der Prüfungsstelle (vgl. BSG, Urteil von 29. Juni 2011 – Az.: B 6 KA 16/10 R m.w.N.).

Als Rechtsgrundlage für den in dem streitigen Bescheid ausgesprochenen Arzneimittelregress kommt nur § 106 Abs. 2 SGB V in der Fassung des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 vom 22. Dezember 1999 (BGBl. I 2626) in Betracht. § 106 Abs. 2 SGB V sieht vor, dass die Wirtschaftlichkeit der Versorgung unter anderem durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen, entweder nach Durchschnittswerten oder anhand von Richtgrößenvolumina und /oder auf der Grundlage von Strichproben geprüft werden. Nach § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen darüber hinaus mit den Kassenärztlichen Vereinigungen andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Die Anwendbarkeit des § 106 SGB V ist hier nicht deswegen ausgeschlossen, weil ein Fall eines sonstigen Schadens vorliegen würde. Nach der Rechtsprechung des BSG ist danach abzugrenzen, ob die Art und Weise der Verordnung oder die Verordnung selbst fehlerhaft gewesen ist. Im ersteren Fall liegt ein sonstiger Schaden, im zweiten ein Fall der unwirtschaftlichen Versorgung vor (BSG v. 29. Juni 2011 - B 6 KA 16/10 R). Bei einem Regress wegen der Verordnung nicht verordnungsfähiger Arzneimittel steht die Wirtschaftlichkeit der Versorgung im Streit und nicht etwa der Ersatz eines sonstigen Schadens im Sinne des § 48 BMV-Ä (vgl. insgesamt BSG, Urteil vom 13. Oktober 2010 – Az.: B 6 KA 48/09 R Rn. 10 und 11).

Nach § 15 Abs. 2 der Prüfvereinbarung zwischen der Beigeladenen zu 1 und den Verbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen in der hier anwendbaren Fassung vom 25. Januar 1999 entscheidet der Prüfungsausschuss auf begründeten Antrag der Krankenkassen oder ihrer Verbände im Einzelfall über einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verordnung von Leistungen, die nicht zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden dürfen, oder wegen schuldhaft fehlerhafter Ausstellung von Bescheinigungen. Ausgenommen hiervon sind Erstattungsansprüche der Krankenkassen wegen sachlich-rechnerischer Unrichtigkeiten sowie bei Verstößen gegen § 34 SGB V. Nach § 15 Abs. 3 der Prüfvereinbarung entscheidet der Prüfungsausschuss darüber, ob und in welcher Höhe der Krankenkasse durch Verschulden des Vertragsarztes ein zu ersetzender Schaden entstanden ist. § 15 Abs. 4 sieht vor, dass Anträge auf Prüfung nur innerhalb einer Frist von 9 Monaten nach Abschluss des Quartals gestellt werden können, in dem der Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot vermutet wird. Bei Anträgen nach Absatz 2 endet die Frist 12 Monate nach Ausstellung der Verordnungen oder Bescheinigungen durch den Arzt, längstens jedoch 9 Monate nach Eingang der Verordnung oder Bescheinigung bei der Krankenkasse. Zur Frist von 12 Monaten ist in einer Anmerkung zu § 15 Abs. 4 vorgesehen, dass die Partner nach Herstellung des Einvernehmens von dieser Frist abweichen können. Antragsberechtigt für die Einleitung eines Prüfverfahrens sind nach § 6 Abs. 2 der Prüfvereinbarung die Beigeladene zu 1) sowie die Krankenkassen oder ihre Verbände.

Die Prüfvereinbarung ist Rechtsgrundlage für den streitigen Arzneimittelregress ungeachtet der Tatsache, dass die Beigeladene zu 2) nicht ihr Vertragspartner ist. Seitens der Allgemeinen Ortskrankenkassen ist die Prüfvereinbarung allein durch die damalige AOK – Die Gesundheitskasse für das Land Brandenburg (nunmehr: AOK Nordost) abgeschlossen worden. § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V sieht eine Abschlusskompetenz auch nur für die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen zusammen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen vor. Eine Beteiligung der Beigeladenen zu 2) an dem Abschluss einer Prüfvereinbarung für den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen zu 1) war daher nicht möglich. Gleichwohl kann die Beigeladene zu 2) die Prüfrechte aus der Vereinbarung in Anspruch nehmen. Nach § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V ist es Aufgabe der dort genannten Vertragspartner, arztbezogene Prüfungen durch einheitliche normähnliche Vertragsbestimmungen zu regeln. Mit Sinn und Zweck dieser Regelung wäre nicht vereinbar, wenn auswärtige gesetzliche Krankenkassen an der Durchführung von Einzelfallprüfungen gehindert wären, weil sie am Abschluss der Prüfvereinbarung nicht beteiligt waren. Dabei kann es dahinstehen, ob sich die Wirkung der Prüfvereinbarung kraft Gesetzes auf alle Krankenkassen erstreckt oder die Regelungen der Prüfvereinbarung, die unterschiedslos allen Krankenkassen ein Antragsrecht zusprechen, als Vertrag zugunsten Dritter anzusehen sind.

Der Widerspruchsbescheid ist hinsichtlich der Festsetzung eines Regresses für das Quartal I/2001 bereits formell rechtswidrig, weil er nicht die Entscheidung des Beschwerdeausschusses wiedergibt. Nach § 8 Abs. 2 der Prüfvereinbarung ergeht die Entscheidung des Beschwerdeausschusses aufgrund einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung. Gemäß § 8 Abs. 3 Satz 1 Prüfvereinbarung erteilt der Beschwerdeausschuss dem Widerspruchsführer und den anderen Verfahrensbeteiligten über die getroffene Entscheidung einen schriftlichen Bescheid. Ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 16. Dezember 2005 und der Anlage hierzu hat die 3. Kammer des Beklagten hinsichtlich des Antrags für das Quartal I/2001 auf Verfristung erkannt. Dies ergibt sich sowohl aus dem Text des Protokolls, das allerdings nur von der Protokollführerin gezeichnet worden ist, als auch aus der von der Vorsitzenden unterzeichneten Anlage. Gleichwohl weist der Widerspruchsbescheid auch einen Regress für das Quartal I/2001 aus. Dafür kann auch nicht auf die Beratungsergebnisse vom 16. November 2005 Bezug genommen werden, weil diese nach der erneuten Beratung des Beklagten am 16. Dezember 2005 überholt sind. Der Widerspruchsbescheid ist daher in Bezug auf das Quartal I/2001 nicht mit dem Inhalt der getroffenen Entscheidung identisch und unterliegt deswegen insoweit der Aufhebung.

Im Übrigen ist der Widerspruchsbescheid aber formell rechtmäßig. Insbesondere ergibt sich die Zuständigkeit des Beklagten aus der Anwendbarkeit der Prüfvereinbarung und der Zugehörigkeit des Klägers zur Beigeladenen zu 1). Der Festsetzung des Regresses steht eine etwaige Versäumung der Fristen nach § 15 Abs. 4 Prüfvereinbarung nicht entgegen. Zwar ist den vorgelegten Kopien der Verordnungen nicht zu entnehmen, wann diese der Beigeladenen zu 2 vorgelegt worden sind und wann demnach die Frist von neun Monaten nach § 15 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz Prüfvereinbarung ablief. Dies bedarf jedoch keiner weiteren Aufklärung, weil der Versäumung dieser Frist nicht die Wirkung eines Verfahrenshindernisses zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 2010 - Az.: B 6 KA 37/08 R). Dies gilt erst recht für den Zeitraum von 2000 bis 2003, in dem der Gesetzgeber ohnehin davon ausging, dass jede Form der Wirtschaftlichkeitsprüfung von Amts wegen zu erfolgen hat (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. November 2008 – Az.: L 7 KA 13/05).

Der Widerspruchsbescheid ist im aufgehobenen Umfang auch bezüglich der Quartale IV/2000, II/2001 und III/2001 materiell rechtswidrig, weil der Kläger keine Arzneimittel verordnet hat, die nicht zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden durften. Eine Verordnung ist dann nicht zu beanstanden, wenn der Versicherte Anspruch auf das verordnete Arzneimittel hatte. Dies gilt auch, wenn sich dieser Anspruch allein aus den Grundsätzen einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts ergibt (BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 – Az.: B 6 KA 6/09 R).

Nach der früheren Rechtsprechung war der Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Arzneimitteln allein anhand der Vorschriften des SGB V unter Berücksichtigung der systematischen Bezüge zum Arzneimittelrecht zu konkretisieren. Das beinhaltete eine Bindung an eine erteilte arzneimittelrechtliche Zulassung (§ 21 AMG) und die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V. Fehlte die arzneimittelrechtliche Zulassung, waren Fertigarzneimittel wegen eines Verstoßes gegen die Gebote der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V ausgeschlossen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 2004 – Az.: B 1 KR 21/02 R; anders früher noch Urteil vom 5. Juli 1995 – Az.: 1 RK 6/95). Ohne eine positive Entscheidungen des GBA und die Zulassung des Arzneimittels für den jeweiligen Anwendungsbereichs war ein Anspruch der Versicherten nur in engen Grenzen möglich (Fälle des sog. Systemversagens bzw. des Off-Label-Use, soweit das Arzneimittel überhaupt zugelassen war, vgl. BSG, Urteil vom 19. März 2002 – Az.: B 1 KR 37/00 R).

Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch mit Beschluss vom 6. Dezember 2005 (Az.: 1 BvR 347/98) entschieden, dass sich unmittelbar aus den Grundrechten der Versicherten, die typischerweise zwangsweise der gesetzlichen Krankenversicherung angehören, weitergehende Leistungsansprüche ergeben können. Mit Art. 2 Abs. 1 G i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ist unvereinbar, einem Versicherten, der an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die eine allgemein anerkannte dem medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, eine von ihm gewählte, ärztlich angewandte Behandlung nicht zu gewähren, wenn sie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bietet. Das Bundessozialgericht hat in seiner nachfolgenden Rechtsprechung aus den vom Bundesverfassungsgericht formulierten Vorgaben einen eigenen, aus den Grundrechten abgeleiteten Ausnahmetatbestand geschaffen, der auch zu einem Anspruch auf Versorgung mit einem Arzneimittel führen kann (vgl. etwa BSG, Urteil vom 4. April 2006 – Az.: B 1 KR 7/05 R - ; 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R - ). Der Gesetzgeber hat sich diese Sichtweise mittlerweile ebenfalls zu Eigen gemacht (vgl. § 2 Abs. 1a SGB V i.d.F. ab dem 1. Januar 2012).

Ohne die besonderen Voraussetzungen der grundrechtsorientierten Auslegung kann ein Leistungsanspruch des Versicherten auf Versorgung mit Marinol hier nicht bestanden haben. Das Fertigarzneimittel Marinol war zum Zeitpunkt seiner Verordnung durch den Kläger weder im Inland noch innerhalb der Europäischen Union zugelassen. Eine Zulassung war nur in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Kanada erfolgt. Damit fehlte Marinol die erforderliche Verkehrsfähigkeit nach dem Arzneimittelgesetz (vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 2004 – Az.: B 1 KR 21/02 R). Eine Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen wäre ausgeschlossen. Bei Fehlen jeglicher Zulassung im Inland oder mit Wirkung für das Inland kommt auch eine Ausweitung des Anwendungsbereichs im Wege des sogenannten „Off-Label-Use“ nicht in Betracht.

Voraussetzung für einen aus einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts herrührenden Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 4. April 2006 – Az.: B 1 KR 7/05 R) insbesondere

das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit bei dem Versicherten,
das Fehlen einer Methode, die dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprach, zum Zeitpunkt der Behandlung oder dass eine bestehende Methode bei dem konkreten Versicherten wegen gravierender gesundheitlicher Risiken nicht angewandt werden konnte,
dass die Abgabe des Arzneimittels nicht gegen arzneimittelrechtliche Vorschriften verstieß,
dass die auf den konkreten Versicherten bezogene Nutzen-Kosten-Analyse unter Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs positiv ausfiel,
dass die Arzneimitteltherapie nach den Regeln der ärztlichen Kunst durch einen Facharzt durchgeführt und dokumentiert wurde und
dass der Versicherte durch ausreichende ärztliche Information geschützt wurde.

Bei dem Versicherten lag zum Zeitpunkt der streitigen Verordnungen eine lebensbedrohende Krankheit im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG vor. Zwar reicht dafür noch nicht, wenn nur irgendwann in der Zukunft mit einer Konkretisierung der Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs zu rechnen ist (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R – Rn. 19 bei Juris). Andererseits ist auch nicht erforderlich, dass die Gefahr des Todes bereits akut ist vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Februar 2007 – Az.: 1 BvR 3101/06 – Rn. 22 bei Juris). Maßgebend ist das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage, welche es geboten erscheinen lässt, auch solche ärztlich verantworteten Behandlungen in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung einzubeziehen, bei denen der Nachweis einer dem allgemein Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Qualität und Wirksamkeit der Behandlung noch nicht erbracht ist. Das BSG hat die Anforderungen an die Lebensgefahr dahingehend umschrieben, nach den konkreten Umständen des Falles müsse bereits drohen, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R –). Entscheidend ist, ob im Einzelfall die Durchbrechung der allgemeinen an eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu stellenden Anforderungen unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Werteordnung geboten ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – Az.: 1 BvR 347/98). Mit der Stellung des Lebens im Rahmen der Wertordnung des Grundgesetzes wäre unvereinbar, einen erkrankten Versicherten auf die zeitlich letzte Möglichkeit des Eingreifens in einen voraussichtlich tödlichen Krankheitsverlauf zu verweisen. Jedenfalls wenn bereits eine kontinuierliche Verschlechterung des Allgemeinzustandes eingesetzt hat, die einer Erkrankung mit voraussichtlich tödlichem Ausgang zuzurechnen ist, ist ein weiteres Abwarten nicht geboten.

Bei Beachtung dieser Grundsätze ist der Senat unter Berücksichtigung des von der von ihm beauftragten Sachverständigen erstellten Gutachtens zu der Einschätzung gelangt, dass der Versicherte in den Jahren 2000 und 2001 an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt. Der Versicherte erkrankte 1999 an einem Zungenrandkarzinom. Dies ergibt sich aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen sowie aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. T einschließlich dessen ergänzender Erläuterungen und aus dem Gutachten der Sachverständigen Dr. K. Ob die Krebserkrankung an sich ein Jahr nach Ende der Bestrahlung ohne Feststellung eines Rezidivs noch als regelmäßig tödlich verlaufend im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzuordnen ist, kann der Senat dahingestellt sein lassen. Dagegen spricht indessen die Angabe der Sachverständigen Dr. K, dass die Lebenserwartung insbesondere bei denjenigen Patienten als auf 6 bis 10 Monate begrenzt anzusehen sei, bei denen ein Lokalrezidiv und/oder eine Fernmetastasierung eintreten würde. Selbst wenn dem vom Sozialgericht beauftragten Sachverständigen dahingehend zu folgen wäre, dass vor der Behandlung eine Lymphknotenmetastase gesichert worden sei, ist nach der Behandlung bisher kein Rezidiv aufgetreten. Die Sachverständige Dr. K hat dazu in ihrem Gutachten ausgeführt, dass unter den vorliegenden Bedingungen eine Heilung der Krebserkrankung nicht als unwahrscheinlich, sondern als eigentliches Therapieziel anzusehen sei. Das kann aber letztlich dahingestellt bleiben, weil jedenfalls die damals bei dem Versicherten vorhandene Tumorkachexie das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung begründete.

Für die Annahme, dass bei dem Versicherten ab Beginn der Verordnung von Marinol eine lebensbedrohliche Kachexie vorlag, bezieht sich der Senat auf das von der Sachverständigen Dr. K erstellte Gutachten. Dort ist ausgeführt, dass ab Mai 2000 ein Kachexie-Syndrom im Übergang zum Stadium einer schweren Kachexie vorgelegen habe, da neben dem Verlust von mehr als 5 Prozent des Ausgangskörpergewichts bereits ein Verlust von Muskelmasse beschrieben sei. Ohne die Einleitung von Therapiemaßnahmen sei diese Erkrankung lebensbedrohlich. Es sei anzunehmen, dass sich der Zustand des Versicherten ohne Behandlung verschlechtert hätte und es nach Verlust der Muskel- und Fettmasse zur Immunkompromittierung mit anschließender Todesfolge innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten gekommen wäre. Diese Einschätzung steht in Übereinstimmung mit dem Gutachten des vom Sozialgericht beauftragten Sachverständigen Dr. T, der ausgeführt hat, dass es sich bei Tumorkachexie nicht um ein „kleines Gewichtsabnahmeproblem“ handele, sondern um die häufigste Todesursache bei Krebspatienten. Bei Patienten mit einem Malignom im HNO-Bereich spiele die unzureichende Nahrungsaufnahme durch Tumoraffektionen der Schluckstraße eine große Rolle. Beim Kläger sei die Tumorkachexie in lebensbedrohlicher Weise ausgeprägt gewesen. Auf die weitere, von der Gutachterin Dr. K für nicht mehr verifizierbar gehaltene Annahme des Sachverständigen Dr. T, dass der Versicherte bereits Wassereinlagerungen an den Beinen gehabt habe (sog. Hungerödeme), kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Medizinisch begründete Einwände gegen die Einschätzung der Kachexie als lebensbedrohende Erkrankung durch die Sachverständige Dr. K haben weder der Beklagte noch die Beigeladenen vorgebracht.

Der Senat setzt sich mit Anerkennung der Kachexie als lebensbedrohende Erkrankung nicht in Widerspruch zu dem Urteil des BSG vom 13. Oktober 2010 (Az.: B 6 KA 48/09 R), wo das BSG für einen Fall der Behandlung einer Tumorkachexie mit Dronabinol betont hat, dass eine Einwirkung auf die Grundkrankheit selbst erforderlich sei und nicht nur auf weitere Auswirkungen der Erkrankung. In dem vom BSG entschiedenen Fall ging die Lebensgefahr nämlich nicht von der Kachexie, sondern von der daneben bestehenden nicht behandelbaren Tumorerkrankung aus. Die Behandlung mit Dronabinanol sollte dort zwar der Kachexie entgegen wirken, jedoch nicht mit dem Ziel einer Wiederherstellung der Gesundheit des Versicherten, sondern mit dem einer Verbesserung der Lebensqualität. Vorliegend war aber allein die Kachexie Ursache der feststellbaren konkreten Lebensbedrohung, so dass ihre Therapie geeignet war, die bestehende Gefahr für das Leben des Versicherten wieder zu beseitigen.

Eine andere zugelassene Behandlungsmethode einschließlich eines Off-label-Use gab es zur Überzeugung des Senats nicht. Die Sachverständige Dr. K hat nachvollziehbar dargelegt, dass statt einer Therapie mit Marinol als alternative und zu empfehlende Behandlungsmethode nur noch die enterale bzw. parenterale Ernährung des Versicherten zu erwägen gewesen wäre, nachdem Versuche mit zusätzlicher Trinknahrung und einer medikamentösen Therapie mit Steroiden bereits unternommen und erfolglos geblieben waren. Die Sachverständige hat damit zwar der Einschätzung des vom Sozialgericht beauftragten Sachverständigen Dr. T widersprochen, wonach eine Sondenernährung deswegen nicht als alternative Behandlung in Betracht komme, weil sie den Zufluss von Nährstoffen, nicht aber deren Verwertung sicherstelle. Darauf kommt es hier angesichts der damaligen Behandlungssituation aber nicht an. Der Versicherte hatte sowohl eine Sondenernährung als auch eine parenterale Ernährung gegenüber dem Kläger abgelehnt. Das ist in den Behandlungsunterlagen des Klägers für den 28. Februar 2000 dokumentiert. Für eine unzureichende Aufklärung des Versicherten ist nichts ersichtlich. Auch das Sozialgericht hat nicht belegen können, was Grundlage seiner diesbezüglichen Zweifel ist. Der Kläger konnte den Versicherten nur im Rahmen des Möglichen behandeln, wobei die Vornahme einer enteralen und parenteralen Ernährung die Zustimmung des Versicherten voraussetzte. Der Senat lässt ausdrücklich dahingestellt sein, ob zur Vermeidung eines Regresses von einem Vertragsarzt verlangt werden kann, von seinen Patienten abgelehnte Behandlungsmethoden notfalls mit der Androhung durchzusetzen, anderenfalls die Behandlung einzustellen. Er lässt auch dahingestellt sein, ob eine künstliche Ernährung wegen der mit ihr verbundenen Risiken und Beschwerlichkeiten grundsätzlich nicht als Alternative gegenüber einer durch Arzneimittel ermöglichten Ernährung auf natürlichen Wege anzusehen ist (so LSG Berlin-Brandenburg v. 22. September 2010 – L 9 KR 268/06 – juris Rn. 39).

Jedenfalls unter den gegebenen besonderen Umständen war der Kläger berechtigt, die Entscheidung des Versicherten zu respektieren. Denn er ging – wie er nochmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht ausgeführt hat - bei Beginn der Therapie mit Marinol ebenso wie der Versicherte davon aus, dass nur noch mit einer verbleibenden Lebenszeit von wenigen Monaten zu rechnen war. Unter diesen Umständen durfte dem Versicherten nicht abverlangt werden, sich weiteren intensiven medizinischen Behandlungsmaßnahmen auszusetzen, insbesondere eine stationäre Aufnahme hinzunehmen. Die Möglichkeit einer ambulanten Therapie war aber damals nicht gesichert. Der Kläger hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass zur damaligen Zeit noch keine Leistungserbringer zur Verfügung standen, welche die bei einer künstlichen Ernährung erforderliche angemessene palliative Versorgung ambulant hätten leisten können. Der Senat verweist dazu darauf, dass die Leistungen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung in § 37b SGB V erst mit Wirkung vom 1. April 2007 eingeführt worden sind und der Gesetzgeber durch diese neue Art von Leistung einem bestehenden Missstand abhelfen und den Menschen ermöglichen wollte, ihren letzten Lebensabschnitt außerhalb der Krankenhäuser zu verbringen (BT-Drucks. 16/3100 S. 105; zur Entwicklung der Palliativmedizin in Deutschland vgl.. Engelmann, GesR 2010, S. 571ff). .

Die danach zulässig begonnene Therapie mit Marinol musste nicht abgebrochen werden, nachdem sich ein längeres Überleben gezeigt hatte. Der Kläger hat Absetzversuche unternommen, die bei dem Versicherten aber eine Gewichtsabnahme bewirkten und damit wieder den Eintritt von Lebensgefahr heraufbeschworen. Die Sachverständige Dr. K hat bestätigt, dass aus der Dokumentation in der Krankenakte eine Verbesserung der Kachexie und der Allgemeinsymptomatik durch Marinol hervorgingen. Eine „Pausierung“ der Marinol-Einnahme habe immer wieder zu einer Verschlechterung geführt. Unter diesen Umständen war es nicht mehr zumutbar, den bereits eingeschlagenen erfolgversprechenden Weg zu verlassen und nach Alternativen zu suchen.

Das in den Vereinigten Staaten und Kanada zugelassene Arzneimittel Marinol konnte nach § 73 Abs. 3 AMG im Wege des Einzelimports durch die versorgende Apotheke importiert und an den Versicherten abgegeben werden. § 73 Abs. 3 AMG in der damals maßgeblichen Fassung ab dem 31. Juli 1999 erlaubte die Einfuhr von Fertigarzneimitteln in geringen Mengen und auf Bestellung einzelner Personen im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs, wenn sie in dem Staat in den Verkehr gebracht werden dürfen, aus dem sie nach Deutschland verbracht werden und von Apotheken bestellt worden sind. Die Einhaltung eines Mindeststandards an die Produktmittelsicherheit ist durch die Zulassung in Kanada gewährleistet, (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2006 – Az.: B 1 KR 7/05 R - Rn. 37 für in Kanada zugelassene Medikamente unter Bezugnahme auf das Abkommen zwischen der EG und Kanada über die gegenseitige Anerkennung vom 20. Juli 1998 98/566/EG <ABl L 280 S 1> mit sektoralem Anhang Nr. 6 über die Gute Herstellungspraxis für Arzneimittel S 37, in Kraft getreten am 1. November 1998 <ABl L 280 S 66>).

Weiter fällt eine Nutzen-Kosten-Analyse bezogen auf den konkreten Versicherten unter Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs positiv aus. Der erforderliche Nutzen ist abhängig von der Schwere der Erkrankung und dem Grad der von ihr ausgehenden Gefahr. Nach der Rechtsprechung des BSG ist von einer positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf auszugehen, wenn zumindest das Fortschreiten der Krankheit aufgehalten oder Komplikationen verhindert werden (BSG v. 4. April 2006 – B 1 KR 7/05 R). Auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisse muss für die geplante Arzneimitteltherapie eher mit einem therapeutischen Erfolg zu rechnen sein als bei der Nichtanwendung. Fehlen theoretisch-wissenschaftliche Erklärungsmuster, kann im Einzelfall bei vertretbaren Risiken auch die bloße ärztliche Erfahrung für die Annahme eines Behandlungserfolgs entscheidend sein, wenn sich diese Erkenntnisse durch andere Ärzte in ähnlicher Weise wiederholen lassen.

Für den Bestand der zu Beginn der Therapie vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse bezieht sich der Senat auf das von Dr. T erstellte Gutachten, dem insoweit nicht von der Sachverständigen Dr. K nicht widersprochen worden ist. Danach sind für die Wirkung von THC auf eine Tumorkachexie theoretisch-wissenschaftliche Erklärungsmuster nicht bekannt. Indessen hat der Sachverständige in seinem Gutachten vier positive Berichte über Studien der Phase I und II zur Wirkung bei Tumorkachexie zitiert, die mit Ausnahme der Publikation von Gorter aus dem Jahr 2004 bereits vor 2000 vorlagen. Im Rahmen seiner Befragung durch das Sozialgericht hat der Gutachter auch auf eine Empfehlung von Twycross in einer Publikation von 1998 Bezug genommen. Das Gutachten des MDK Nordrhein von Herrn W aus dem Juli 2003 stellt ebenfalls mehrere kontrollierte Studien dar und kommt in der Zusammenfassung zu dem Ergebnis, dass die vorhandenen kontrollierten Studien eine Wirksamkeit von Cannabis im Vergleich zum Placebo zeigten. Formal seien diese Wirksamkeitsnachweise als Evidenzklasse I einzuordnen. Dabei wird zwar die eingeschränkte Aussagekraft der Studien herausgestellt. Erforderlich im Rahmen der Nutzen-Kosten-Abwägung ist indessen nicht, dass die Wirkungsweise abschließend wissenschaftlich geklärt ist. Vielmehr reichen Indizien aus, die sich aus den Darstellungen von Dr. T und Herrn W ergeben. Die mit der Verordnung von Marinol einhergehenden Risiken lagen in dem Entstehen einer psychischen und physischen Abhängigkeit. Für die Möglichkeit des Eintritts einer Suchtproblematik bei dem Versicherten spricht neben dem früheren Alkoholabusus die Feststellung der M Klinik während der Anschlussheilbehandlung im Jahr 1999. Dort wurde im Entlassungsbericht differentialdiagnostisch bereits eine Schmerzmittelabhängigkeit vermutet. Gleichwohl müssen diese Risiken angesichts des bestehenden erheblichen Mortalitätsrisikos nach Auffassung des Senats zurücktreten. Der Senat folgt auch bei dieser Abwägungsentscheidung der Einschätzung der Sachverständigen Dr. K. Eine Unwirtschaftlichkeit ergibt sich auch nicht daraus, dass ein gleichwertiger Therapieansatz kostengünstiger zur Verfügung gestanden hätte (vgl. BSG, Urteil vom 31. Mai 2006 – B 6 KA 13/05 R Rn. 44). Zwar hat Herr W in seinem Gutachten für den MDK Nordrhein ausgeführt, dass statt Marinol eine wirkstoffgleiche Versorgung mit einem auf Verordnung des Arztes hin von der Apotheke herzustellenden Präparats auf Basis des Rezepturarzneimittels Dronabinol in Frage kommt wäre, welche deutlich preisgünstiger sei als das importierte Fertigarzneimittel Marinol. Indessen hat die Firma THC-Pharm auf Nachfrage des Senats mitgeteilt, dass Dronabinol in Deutschland erst ab dem Jahr 2002 flächendeckend zur Verfügung gestanden habe und vorher nur in Frankfurt und im süddeutschen Raum vertreiben wurde. Demnach stand Dronabinol in dem hier streitigen Zeitraum dem Kläger nicht zur Therapie zur Verfügung.

Die Therapie mit Marinol wurde nach den Regeln der ärztlichen Kunst durch einen Facharzt durchgeführt und dokumentiert. Diese Einschätzung ergibt sich auch aus dem von der Sachverständigen Dr. K erstellten Gutachten, welche die Dokumentation als vorbildlich bezeichnet. Nach dem Ausdruck der elektronischen Behandlungsdokumentation war der Versicherte in hoher Frequenz beim Kläger persönlich in Behandlung, durchgehend mehrmals im Monat. Die erteilten Verordnungen und die Äußerungen des Versicherten zu den Wirkungen des Medikaments sind ebenfalls in der Behandlungsdokumentation vermerkt. Das der Kläger hinsichtlich der Angaben zum Gewicht überwiegend auf die Angaben des Versicherten vertraut und soweit ersichtlich nur eine eigene Messung im Zusammenhang mit dem BCM-Test am 3. Juli 2001 durchgeführt hat ist unschädlich, weil die Schlüssigkeit der Gewichtsangaben des Versicherten durch den Augenschein überprüft werden konnten. So hat der Kläger am 1. März 2000 notiert, dass der Gewichtsverlust am Sitz der Bekleidung nachvollziehbar gewesen sei. Am 17. April 2000 hat er als weiteres Indiz geschwollene Beine notiert. Im Rahmen der regelmäßigen strukturierten Patientenbefragung wurden verschiedene Fragen zur Lebensqualität des Versicherten gestellt, insbesondere auch zum Vorliegen von Appetitmangel, Übelkeit und Erbrechen. Die hieraus gefertigte Verlaufskurve für den Zeitraum 25. September 2001 bis 27. März 2003 zeigt eine Zunahme der Appetitmangels von „wenig“ über „mäßig“ auf „sehr“ ungefähr zum Jahreswechsel 2001/2002, mithin im zeitlichen Zusammenhang mit dem Absetzen von Marinol.

Schließlich ist der Versicherte durch den Kläger ausreichend über Möglichkeiten und Risiken der Behandlung aufgeklärt worden. Für den Wahrheitsgehalt der diesbezüglichen Angaben des Klägers spricht, dass in der vorgelegten Patientendokumentation für den Termin am 12. Mai 2000 die Problematik einer Therapie mit Marinol vermerkt ist und unter Hinweis auf die regelmäßigen Termine und die Erreichbarkeit des Klägers per Handy als beherrschbar eingeschätzt wird. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der Kläger die ihm offensichtlich bewusst gewesene Problematik der Therapie gerade dem Versicherten gegenüber verschwiegen haben sollte. Der Versicherte hat zudem nach der Patientendokumentation eine Überlegungszeit in Anspruch genommen und sich mit der ihm am 17. April 2000 vorgeschlagenen Cannabis-Therapie erst am 5. Mai 2000 definitiv einverstanden erklärt. Der Kläger ist auch nicht mit seinem entsprechenden Vorbringen präkludiert. Er hat gegenüber den Prüfgremien von Anfang an eingewandt, dass er im Rahmen einer notstandsähnlichen Situation zur Therapie mit Marinol berechtigt gewesen sei. Die ordnungsgemäße Aufklärung und Einbeziehung des Versicherten gehört aber zu den Voraussetzungen des entsprechenden Ausnahmetatbestandes. Ohne besonderen Hinweis war der Kläger nicht gehalten, Näheres gerade zu diesen Aspekten vorzutragen.

Nach alledem war auf die Berufung des Klägers hin das Urteil des Sozialgerichts sowie der Widerspruchsbescheid des Beklagten aufzuheben, soweit dem Widerspruch der Beigeladenen zu 2) stattgegeben wurde, und der Beklagte zur Zurückweisung des Widerspruchs zu verpflichten.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 197a SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich. Die Zulässigkeit der Verordnung von Marinol ergibt sich hier aus den besonderen tatsächlichen Umständen des vorliegenden Einzelfalles, welche nicht Grundlage für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache sein können.