Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 13.04.2012 | |
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Aktenzeichen | OVG 1 S 41.12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 4 Abs 3 S 1 Nr 2 StVG, § 4 Abs 3 S 1 Nr 3 StVG, § 4 Ab 5 S 2 StVG, § 4 Ab 7 S 1 StVG |
Nach dem Bewertungsmaßstab des vorläufigen Rechtsschutzes steht die ausstehende Teilnahme an einem besonderen Aufbauseminar, die auf der zweiten Stufe des Mehrfachtäter-Punktsystems angeordnet wurde, einer Berücksichtigung der Punkte, die für nach der Anordnung des Aufbauseminars begangene Verkehrsverstöße eingetragen werden, nicht entgegen. Eine Reduzierung des Punktestandes ist ausgeschlossen, nachdem die Behörde die Maßnahme "ergriffen" hat. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG wegen Nichtteilnahme an einem angeordneten besonderen Aufbauseminar kann nicht in eine Entziehung wegen unwiderleglich vermuteter Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG umgedeutet werden.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 22. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 6.250 EUR festgesetzt.
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg. Das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO für die Prüfung des Beschwerdegerichts maßgebliche Beschwerdevorbringen rechtfertigt eine Änderung des angefochtenen Beschlusses nicht.
Der Antragsteller wendet sich in der Hauptsache mit dem Widerspruch gegen die kraft gesetzlicher Anordnung sofort vollziehbare Entziehung seiner Fahrerlaubnis durch den Bescheid des Antragsgegners vom 25. Januar 2012 nach dem Punktsystem und die für sofort vollziehbar erklärte Anordnung der Herausgabe seines Führerscheins. Seinen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Entziehung der Fahrerlaubnis erweise sich überwiegend wahrscheinlich als rechtmäßig, denn die Fahrerlaubnisbehörde habe bei Erlass der Entziehungsverfügung davon ausgehen dürfen, dass sich aus den Eintragungen über Verkehrsverstöße des Antragstellers im Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes 18 oder mehr Punkte ergäben und er deshalb als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gelte mit der Folge, dass ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen sei (§ 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG). Der Antragsteller könne eine Löschung der von ihm durch die zwischen dem 13. Dezember 2006 und dem 7. September 2009 begangenen Verkehrsverstöße bewirkten Punkte aufgrund der am 23. September 2009 verfügten Entziehung der ihm früher erteilten Fahrerlaubnis nicht beanspruchen. Diese Fahrerlaubnisentziehung sei allein wegen der nicht fristgerecht erfolgten Teilnahme an dem mit Verfügung vom 12. Mai 2009 bei einem erreichten Punktestand von 23 Punkten, der gemäß § 4 Abs. 5 S. 2 StVG auf 17 Punkte reduziert worden sei, angeordneten besonderen Aufbauseminar nach § 4 Abs. 7 S. 1 StVG verfügt worden. Eine Entziehung auf dieser Grundlage habe nach § 4 Abs. 2 S. 4 StVG keine Löschung der Punkte zur Folge. Die ihm nach Beibringung des Teilnahmenachweises ohne Begutachtung im Mai 2011 neu erteilte Fahrerlaubnis sei nach Bekanntwerden einer weiteren Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24a StVG, begangen am 16. Oktober 2011, wegen des Erreichens von mehr als 18 Punkten nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG zu entziehen gewesen.
Gegen diese den angefochtenen Beschluss im Wesentlichen tragenden Ausführungen wendet der Antragsteller mit der Beschwerde ein, dass die am 23. September 2009 erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis wegen der bis dahin verwirkten 31 Punkte bzw. – unter Beachtung der gebotenen Reduzierung auf 17 Punkte und der mit 7 Punkten hinzugekommenen Straftat vom 15. Juli 2009 sowie der mit einem Punkt bewerteten weiteren Ordnungswidrigkeit vom 7. September 2009 – 25 Punkte bereits auf die unwiderleglich fehlende Eignung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG hätte gestützt werden müssen, so dass die Punkte sämtlich gelöscht worden wären mit der Folge, dass er jetzt nur mit den vier Punkten für den Verstoß vom 16. Oktober 2004 belastet wäre. Für diese Auffassung beruft sich der Antragsteller auf Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschlüsse vom 14. Dezember 2005 – 11 CS 05.1677 – DAR 2006, 169 und vom 11. August 2008 – 11 CS 05.2735 – juris), welcher die Auffassung vertrete, dass die Teilnahme an dem besonderen Aufbauseminar nicht zu den Maßnahmen gehöre, die von der Behörde auf der zweiten Sanktionsebene des Punktsystems „ergriffen“ worden sein müssten; vielmehr reiche die Anordnung der Teilnahme an dem besonderen Aufbauseminar aus, um den Anforderungen insoweit zu genügen. Nach der Anordnung des Aufbauseminars begangene Verkehrsverstöße unterlägen daher keiner Reduzierung nach § 4 Abs. 5 S. 2 StVG mehr, so dass bei einer Reduzierung auf 17 Punkte mit dem nächsten punktbewehrten Verkehrsverstoß 18 Punkte erreicht seien. Auf welcher Grundlage eine Fahrerlaubnisentziehung erfolge, sei hiervon ausgehend nach objektiven Kriterien zu beurteilen.
Der Antragsgegner verweist demgegenüber auf Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 26. Februar 2009 – 16 B 1462/08 – NZV 2009, 409, juris Rn. 7 ff.), nach der auch die Teilnahme an dem angeordneten Aufbauseminar zwingend zur zweiten Sanktionsstufe gehöre und deshalb eine weitere Reduzierung für weitere Verstöße bis zum Nachweis der Teilnahme an dem Aufbauseminar greife, wenn 18 Punkte erreicht oder überschritten seien. Anderenfalls könne der Betroffene bewusst nicht an dem Aufbauseminar teilnehmen und weiter Verstöße begehen, um durch eine Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG die Löschung seiner Punkte zu erreichen.
Die Sichtweise des Antragstellers rechtfertigt eine Änderung des Beschlusses nicht. Seine Argumentation übersieht zunächst, dass ihm nach einer Entziehung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG, die eine Löschung der Punkte bewirkt, nach § 4 Abs. 10 StVG auf seinen Antrag nicht ohne Weiteres die in der Hauptsache im Streit stehende Fahrerlaubnis am 26. Mai 2011 zu erteilen gewesen wäre. Denn in diesem Fall setzt die Neuerteilung nach einer Entziehung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG den Nachweis der Wiederherstellung der Fahreignung voraus, der in der Regel durch das Gutachten einer anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zu erbringen ist. Ein solcher Nachweis lag der Neuerteilung der Fahrerlaubnis hier nicht zugrunde. In der Konsequenz müssten die – durch die noch nicht getilgten Eintragungen (gelöscht werden nur die Punkte!) – fortbestehenden massiven Eignungszweifel durch eine Begutachtung des Antragstellers geklärt werden, die unter Berücksichtigung der letzten Eintragung im Verkehrszentralregister auch in den Blick zu nehmen hätte, dass der Antragsteller wiederholt unter Alkoholeinfluss Kraftfahrzeuge geführt hat.
Der Argumentation des Antragstellers kann aber auch sonst nicht gefolgt werden.
Dabei kommt es für die Entscheidung auf die unterschiedlichen Auffassungen der genannten Oberverwaltungsgerichte zur Frage, was die Maßnahmen auf der „zweiten Stufe“ des Punktsystems nach § 4 StVG umfassen und inwieweit die Verpflichtung zur Reduzierung von Punkten nach § 4 Abs. 5 S. 2 StVG greift, nicht entscheidungserheblich an. Der Senat hat in seiner bisherigen Entscheidungspraxis im vorläufigen Rechtsschutz den Standpunkt eingenommen, dass Verkehrsverstöße, die nach Anordnung des besonderen Aufbauseminars begangen werden, nicht irrelevant sind. Behördlich sind die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StVG mit der Anordnung der Teilnahme an einem besonderen Aufbauseminar unter Fristsetzung für die Teilnahme „ergriffen“, so dass nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 S. 2 StVG keine Notwendigkeit für eine Reduzierung der Punkte besteht, die für nach der Anordnung und vor der Teilnahme an dem Aufbauseminar begangene Verkehrsverstöße eingetragen werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 6. April 2011 – OVG 1 S 240.10 – S. 3 und vom 27. April 2010 – OVG 1 S 236.09 – S. 7). Das besagt aber noch nichts über das Verhältnis der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtteilnahme am Aufbauseminar (§ 4 Abs. 7 S. 1 StVG) und derjenigen wegen unwiderleglich vermuteter Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen wegen des Erreichens von 18 oder mehr Punkten (§ 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG). Der Fall des Antragstellers gibt jedoch auch keine Veranlassung zu einer umfassenden Klärung dieses Verhältnisses.
Grundsätzlich kommt es – sofern die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG zuvor ergriffen wurden - für die Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von 18 oder mehr Punkten nicht darauf an, zu welchem konkreten Zeitpunkt der zur Entziehung berechtigende Punktestand erreicht war und ob er im Zeitpunkt, in dem die Entziehung ausgesprochen wird, noch in gleicher Höhe besteht; die materielle Prüfung beschränkt sich lediglich auf die Frage, ob der Betroffene 18 Punkte erreicht hat; wie sich der Punktestand im Weiteren entwickelt hat, ist demgegenüber ebenso unerheblich wie der Zeitpunkt, wann die Behörde diesen Umstand prüft (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 – 3 C 21.07 – BVerwGE 132, 57, juris Rn. 22).
Hiernach wird eine solche Entziehung grundsätzlich auch nicht ausgeschlossen, wenn die Behörde vor der Teilnahme des betreffenden Fahrerlaubnisinhabers an einem angeordneten Aufbauseminar Kenntnis vom Erreichen von 18 oder mehr Punkten erlangt.
Kommt es dazu nicht, sondern die Nichtteilnahme an dem angeordneten besonderen Aufbauseminar führt – wie hier zunächst - unabhängig von dem konkret erreichten Punktestand zur Entziehung gemäß § 4 Abs. 7 S. 1 StVG, sieht das Gesetz ausdrücklich vor, dass eine solche Entziehungsmaßnahme kein Löschung der Punkte bewirkt (§ 4 Abs. 2 Satz 4 StVG). Für die rechtliche Einordnung der Fahrerlaubnisentziehung auf eine objektive Ex-post-Betrachtung abzustellen, ob bereits der Punktestand die Entziehung gerechtfertigt hätte, dürfte angesichts der oftmals verzögerten Mitteilung von der Eintragung in das Verkehrszentralregister weder praktischen Bedürfnissen hinreichend Rechnung tragen noch mit Sinn und Zweck des Mehrfachtäter-Punktsystems vereinbar sein. Denn dadurch könnten besonders unbelehrbare Mehrfachtäter, die auch die mit dem Aufbauseminar vorgesehene Hilfestellung nicht annehmen wollen, begünstigt werden, weil sie dann in den Genuss der Löschung ihrer Punkte kommen würden. Wenn der Gesetzgeber diesem Kreis die Löschung des Punktestandes vielmehr ausdrücklich vorenthält, deutet dies – ebenso wie die in den Absätzen 10 und 11 des § 4 StVG unterschiedlich geregelten weiteren Folgen - auf ein Nebeneinander beider Entziehungsformen im Punktsystem des § 4 StVG hin. Folglich muss die Behörde dann, wenn sie Kenntnis davon erlangt (was auch die zutreffende rechtliche Beurteilung einschließt), dass sich 18 oder mehr Punkte ergeben, auch die Entziehung einer nach Erbringen des Teilnahmenachweises für das Aufbauseminar etwa erfolgten Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 11 StVG – gleichviel, ob diese objektiv als rechtmäßig oder rechtswidrig zu beurteilen ist – auf der Grundlage von § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 StVG veranlassen. Die mit der Regelung in § 4 Abs. 11 StVG bezweckte erleichterte Wiedererlangung der Fahrerlaubnis soll nach Sinn und Zweck des Mehrfachtäter-Punktsystems nur denjenigen begünstigen, der eben noch nicht 18 oder mehr Punkte erreicht hat und das Aufbauseminar zur Besserung seines Verhaltens doch noch besucht hat. Zu diesem Kreis gehört der Antragsteller nicht.
Es bliebe aber auf das Ergebnis auch ohne Auswirkung, wenn er auf der Grundlage der vom OVG für das Land Nordrhein-Westfalen vertretenen Rechtsauffassung noch bis zur – hier erst nach deren öffentlicher Zustellung Anfang Dezember 2009 eingetretenen – Wirksamkeit der Fahrerlaubnisentziehungsverfügung vom 23. September 2009 für die bis dahin begangenen Verkehrsverstöße die Reduzierung auf jeweils 17 Punkte nach § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG beanspruchen könnte. Denn auch in diesem Fall hätte der mit 4 Punkten bewehrte letzte Verkehrsverstoß, begangen am 16. Oktober 2011 und rechtskräftig seit dem 18. November 2011, dazu geführt, dass sich für ihn 21 Punkte ergeben hätten, so dass ihm auch bei Zugrundelegung dieser Rechtsansicht die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen gewesen wäre.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).