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Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Änderung von § 27 Abs. 5 KStG durch das SEStEG


Metadaten

Gericht FG Berlin-Brandenburg 10. Senat Entscheidungsdatum 18.06.2020
Aktenzeichen 10 K 5250/16 ECLI ECLI:DE:FGBEBB:2020:0618.10K5250.16.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 44 Abs 5 S 1 EStG, Art 20 Abs 3 GG, § 27 Abs 5 KStG, § 44 EStG, § 43 Abs 5 EStG, § 43 Abs 1 S 1 EStG, § 44 Abs 1 S 1 EStG, § 44 Abs 5 S 2 Nr 1 EStG, § 2 Nr 2 KStG, § 34 Abs 1aF KStG, § 30 Nr 1 KStG, § 27 Abs 1 S 5 KStG

Leitsatz

1.
Die Änderung des § 27 Abs. 5 KStG durch das SEStEG entfaltet für zwischen dem 01.01.2006 und dem 09.11.2006 beschlossene Gewinnausschüttungen ggf. echte Rückwirkung.
2.
Rückwirkende Änderungen von Gesetzen sind nicht verfassungswidrig, wenn der Steuerpflichtige durch Anpassungsmaßnahmen (hier: Änderung der Steuerbescheinigung) die durch die Gesetzesänderung entstehende oder sich erhöhende Steuerlast vermeiden kann.
3.
Eine Kapitalgesellschaft kann sich bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit einer rückwirkenden Inanspruchnahme nur auf die Wirkungen bei ihr selbst berufen. Auf steuerliche Wirkungen bei den Gesellschaftern können sich hingegen nur diese berufen, wenn sie ihrerseits rückwirkend in Anspruch genommen werden.
4.
Im Hinblick auf die Verwendungsreihenfolge in § 27 Abs. 1 KStG ist etwaiges Vertrauen von Gesellschaftern in falsche Bilanzen der Kapitalgesellschaft nicht schutzwürdig.
5.
Es ist noch nicht abschließend geklärt, ob juristische Personen des Privatrechts, die vollständig von der öffentlichen Hand gehalten werden und daher nicht grundrechtsfähig sind, sich im Abgabenrecht auf eine verfassungswidrige Rückwirkung einer Gesetzesänderung berufen können (verneinend BSG, bejahend BVerwG).

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Nachforderung von Kapitalertragsteuer – KapESt – für den Kalendermonat Oktober 2006, dabei insbesondere um die Frage der Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Änderung von § 27 Abs. 5 Körperschaftsteuergesetz – KStG – durch das „Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG)“.

Die Klägerin ist ein Gemeinschaftsunternehmen der Länder … und … in der Rechtsform …, an der beide … beteiligt sind. Sie … Unternehmungsgegenstand.

I.1.
Die hier relevante Änderung des § 27 Abs. 5 KStG war im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 11.08.2006 (Bundesrats-Drucksache – BR-Drs – 542/06) noch nicht enthalten und wurde auch in der Stellungnahme des Bundesrats vom 22.09.2006 (BR-Drs 542/06 Beschluss) nicht angesprochen. Gemäß Art. 3 Nr. 11 Buchstabe a des Gesetzentwurfs (Änderung von § 34 KStG) sollten die vorgesehenen Änderungen des KStG grundsätzlich ab dem Jahr 2006 gelten, soweit sich nicht aus den folgenden Buchstaben für dort im einzelnen aufgeführten Änderungen etwas anderes ergab.

2.

Die relevante Änderung wurde vielmehr – neben zahlreichen weiteren – durch den Finanzausschuss mit seiner abschließenden Beschlussempfehlung vom 08.11.2006 (Bundestags-Drucksache – BT-Drs – 16/3315, Seite 18) in Art. 3 Nr. 9 als neuer Buchstabe b1 eingefügt. Aufgrund der weiteren Änderungen wurden auch die Ausnahmen vom generellen Inkrafttreten ab dem Jahr 2006 in Art. 3 Nr. 11 erweitert, jedoch nicht bezüglich der Änderung von § 27 Abs. 5 KStG, so dass es bezüglich dieser Änderung beim allgemeinen Inkrafttreten ab dem Jahr 2006 blieb. Der Bundestag nahm den Gesetzesantrag in der Fassung des Finanzausschusses am 09.11.2006 an, der Bundesrat stimmte am 24.11.2006 zu, das Gesetz vom 07.12.2006 wurde am 12.12.2006 im Bundesgesetzblatt verkündet.

3.

Die Begründung für die Änderung des § 27 Abs. 5 KStG ergibt sich aus dem Bericht des Finanzausschusses vom 09.11.2006 (BT-Drs 16/3369, Seite 8):

„Die Regelungen zur Bescheinigung der Einlagenrückgewähr wurden überarbeitet. Künftig wird eine bescheinigte Verwendung von Beträgen aus dem steuerlichen Einlagekonto nur noch dann festgeschrieben, wenn der Betrag der Einlagenrückgewähr zu niedrig bescheinigt worden ist. Dadurch wird verhindert, dass durch das Ausstellen einer bewusst falschen Bescheinigung eine Verwendung von steuerlichem Einlagekonto erreicht werden kann.

Wird eine Einlagenrückgewähr zu hoch bescheinigt, kann die Bescheinigung berichtigt werden. Zur Verfahrenserleichterung bei Publikumsgesellschaften ist eine Korrektur nicht zwingend vorgeschrieben.

Der überhöht ausgewiesene Betrag unterliegt der Kapitalertragsteuer, die ggf. durch Haftungsbescheid geltend zu machen ist.“

II. 1.
Für … ermittelte eine Beratungsgesellschaft im Jahr 2004 eine Ausgleichspflicht des Landes … zugunsten der Klägerin in Höhe von 20.929.000 €. Zum Ausgleich der Verbindlichkeit vereinbarten die Gesellschafter, dass das Land … zugunsten der Klägerin eine Ausgleichszahlung in Höhe von 20.900.000 € schuldete und eine „Ausschüttung aus dem Eigenkapital in Höhe von 20.900.000 € als Nettobetrag“ vorgenommen werden und allein dem Land … zugutekommen sollte. Das Land … sollte keine Ausschüttung erhalten, mit der bestehenden Ausgleichsverpflichtung sollte eine Aufrechnung stattfinden.

2.

Daraufhin bildeten die Gesellschafter eine gesonderte Arbeitsgruppe bestehend aus Vertretern der Gesellschafter, dem Abschlussprüfer und dem Steuerberater, die sich mit den steuerlichen Auswirkungen einer Gewinnausschüttung oder einer Verwendung von Eigenkapital beschäftigte und eine Empfehlung aussprechen sollte. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gelangte dabei zu dem Ergebnis, dass ein ausschüttbarer Gewinn im Sinne des § 27 Abs. 1 KStG a.F. nicht zur Verfügung stand und die Gewinnausschüttung in Höhe von 40 Mio. € vollständig aus dem steuerlichen Einlagekonto finanziert werden könne. Dies wurde der o.g. Arbeitsgruppe präsentiert, die daraufhin einen entsprechenden Gesellschafterbeschluss vorbereitete.

3.

Mit Gesellschafterbeschluss der Klägerin vom 30.08.2006 erfolgte zum 20.10.2006 eine Gewinnausschüttung in Höhe von 41.846.000 €, die jeweils hälftig auf die Gesellschafter aufgeteilt wurde. Da sich zum 31.12.2005 kein nach § 27 Abs. 1 KStG ermittelter ausschüttbarer Gewinn ergab, wurde die gesamte Ausschüttung aus dem steuerlichen Einlagekonto bedient. Das steuerliche Einlagekonto minderte sich zum 31.12.2006 um 41.846.000 €. Den Gesellschaftern wurden in den Steuerbescheinigungen vom 04.09.2006 Leistungen aus dem steuerlichen Einlagekonto von jeweils 20.923.000 € bescheinigt. Die Gewinnausschüttungen wurden am 20.10.2006 ausgezahlt.

III. 1.
Mit Bescheid über die gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlagen vom 04.10.2010 wurde der Bestand des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2005 auf 55.469.016 € festgestellt.

2.

Aufgrund Anordnung vom 27.10.2010 fand vom 05.04.2011 bis September 2012 bei der Klägerin eine steuerliche Außenprüfung (Betriebsprüfung – Bp –) für die Jahre 2005 bis 2008 statt. Es ergab sich für das Jahr 2005 u. a. eine Gewinnerhöhung von etwas über 20 Mio. € durch … sowie von 1,5 Mio. € durch …. Im Ergebnis kam die Bp zu dem Schluss, dass zum 31.12.2005 ausschüttbarer Gewinn in Höhe von 12.467.801 € zur Verfügung stand und durch die Ausschüttung das steuerliche Einlagekonto statt in Höhe von 41.846.000 € nur in Höhe von 29.378.199 € in Anspruch genommen wurde.

Aus dem ausschüttbaren Gewinn von 12.467.801 € ergab sich eine KapESt von (gemäß § 44a Abs. 8 EStG a. F.) ½ von (gemäß § 43a Abs. 1 Nr. 1 EStG a. F.) 20 %, mithin 1.246.780,10 €.

3.

Am 23.07.2013 erließ das Finanzamt den streitgegenständlichen Nachforderungsbescheid über KapESt in Höhe von 1.246.780 €.

Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass eine Inanspruchnahme nach § 27 Abs. 5 KStG n.F. i. V. m. § 44 Abs. 5 Satz 1 Hs. 1 KStG zu erfolgen habe, da die Klägerin für die überhöht ausgewiesenen Beträge hafte und § 27 KStG n.F. nach § 34 Abs. 1 KStG bereits für den gesamten Veranlagungszeitraum 2006 gelte.

4.

Mit Schreiben vom 01.08.2013 legte die Klägerin Einspruch ein.

Maßgebliche Norm für die Gewinnausschüttung sei § 27 Abs. 1 Satz 5 KStG a.F. Die Anwendung von § 27 Abs. 5 KStG n.F. stelle eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung dar, da die Gewinnausschüttung zum Zeitpunkt der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses schon abgeschlossen gewesen sei. Es liege eine sog. echte Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen vor, da die Norm in belastender Weise in bereits abgewickelte, in der Vergangenheit liegende Tatbestände eingreife. Die streitgegenständliche Gewinnausschüttung sei im Zeitpunkt der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses bereits abgeschlossen gewesen. Der Tatbestand der Entstehung und Fälligkeit der KapESt liege zum 20.10.2006 und damit vor der Beschlussempfehlung am 09.11.2006. Auch der Umstand, dass die KapESt nach damaliger Rechtslage grundsätzlich auf die eigene Einkommen- oder Körperschaftsteuer anzurechnen war, würde nicht zu einer unechten Rückwirkung führen.

Daher habe die ursprünglich in der Steuerbescheinigung ausgewiesene Verwendung aus dem steuerlichen Einlagekonto auch bei späterer Veränderung der Eigenkapitalzusammensetzung keiner Veränderung mehr unterlegen.

5.

Mit Einspruchsentscheidung vom 22.09.2016 wies das Finanzamt den Einspruch als unbegründet zurück.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der angefochtene Bescheid entspreche den gesetzlichen Voraussetzungen. Die Klägerin habe den Gesellschaftern Leistungen aus dem steuerlichen Einlagekonto in Höhe von 41.846.000 € statt richtigerweise 29.378.199 € bescheinigt. Daher liege in Höhe von 12.467.801 € eine überhöhte Verwendung vor.

Eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung durch das SEStEG 2006 sei nicht gegeben. Wenn das Wirtschaftsjahr dem Kalenderjahr entspreche, könne in Bezug auf eine vor Ablauf des Wirtschaftsjahres ausgestellte Steuerbescheinigung kein Vertrauensschutz abgeleitet werden. Die Verwendung des steuerlichen Einlagekontos sei nach § 27 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KStG den Anteilseignern entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtleistung im maßgeblichen Wirtschaftsjahr auf der Basis einer Verrechnung sämtlicher Leistungen in einer Summe mit dem Bestand des vorangegangenen Wirtschaftsjahres zu bescheinigen, weshalb eine ordnungsgemäße Steuerbescheinigung erst mit Ablauf des betreffenden Wirtschaftsjahres ausgestellt werden könne.

Weiterhin sei die Klägerin auf Grundlage von § 27 Abs. 5 Satz 4 KStG zutreffend in Anspruch genommen worden.

IV.
Mit am 20.10.2016 beim Gericht eingegangen Schriftsatz hat die Klägerin Klage auch mit dem Antrag erhoben, den Feststellungsbescheid zum steuerlichen Einlagekonto vom 23.08.2012 in der Fassung vom 23.07.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.09.2016 dahingehend zu ändern, dass eine Verwendung des Einlagekontos in Höhe von 41.846.000 € und der Bestand zum 31.12.2006 mit einem Wert in Höhe von 13.623.016 € festgestellt wird. Insoweit hat die Klägerin die Klage nach Hinweis des Berichterstatters auf das Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 19.07.2017 I R 96/15, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 2018, 237, Juris Rn. 28, mit Schriftsatz vom 31.03.2020 zurückgenommen.

Bezüglich der verbleibenden Klage gegen den KapESt-Nachforderungsbescheid beruft sich die Klägerin auf ihr Vorbringen in der Einspruchsschrift.

Ergänzend führt sie aus, es liege keine unechte, sondern eine echte Rückwirkung vor, da die Gewinnausschüttung als Besteuerungstatbestand schon vor Verkündung des Gesetzes erfolgt sei und die den Besteuerungstatbestand auslösende Kapitalertragsteuer nicht erst mit Ablauf des Veranlagungsjahrs der Gesetzesverkündung entstehe. Weiterhin habe der Beklagte eine ordnungsgemäße Steuerbescheinigung bereits vor Ablauf des betreffenden Wirtschaftsjahres ausstellen können. Die Haftung nach § 27 Abs. 3 und 4 KStG a.F. setze dagegen eine fehlerhaft erteilte Bescheinigung voraus. Es habe sich erst zu einem späteren Zeitpunkt herausgestellt, dass ein ausschüttbarer Gewinn für die an die Gesellschafter erbrachte Leistung zur Verfügung stand. Eine Berichtigung habe nicht mehr erfolgen können, da die Klägerin im Zeitpunkt der Erteilung der Steuerbescheinigung auf die geltende Rechtslage vertraut habe. Weiterhin hätte sie auch bei Berichtigung der Bescheinigung durch das Finanzamt in Anspruch genommen werden können, da beide Gesellschafter bezogen auf Gewinnausschüttungen nach § 2 Nr. 2 KStG beschränkt steuerpflichtig seien.

Die Klägerin beantragt,

den Nachforderungsbescheid über Kapitalertragsteuer für den Anmeldezeitraum 10/2006 vom 23.07.2013 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.09.2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Finanzamt beruft sich im Wesentlichen auf seine Einspruchsentscheidung. Ergänzend führt es aus, die Klägerin hätte ihre Inanspruchnahme durch eigene Anpassungsmaßnahmen, nämlich die Berichtigung der Steuerbescheinigungen nach § 27 Abs. 5 Satz 5 KStG n.F., abwenden können.

V.

Folgende Akten lagen vor:

Kapitalertragsteuerakten, Bp-Akte Band III, Akte „Gesonderte Feststellung nach § 36 Abs. 7 KStG, gesonderte Feststellungen nach §§ 27, 28, 37 und 38 KStG“ Band IV 2006-2007, Bilanzakte Band XI 2006-2007

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung – FGO –).

I.

Bei Anwendung des einfachen Gesetzesrechts ist der angefochtene Bescheid – unstreitig – rechtmäßig.

Rechtsgrundlage des Haftungsbescheides ist § 27 Abs. 5 Satz 4 Halbsatz 1 KStG in der Fassung des SEStEG (KStG 2006). Danach ist die auf den überhöht ausgewiesenen Betrag der Einlagenrückgewähr entfallende Kapitalertragsteuer durch Haftungsbescheid geltend zu machen. Die Voraussetzungen sind gegeben.

1.

Die Bescheinigung wurde zu hoch i. S. v. § 27 Abs. 5 Sätze 4 bis 6 KStG 2006 ausgestellt. Die Klägerin bescheinigte den Gesellschaftern Leistungen aus dem steuerlichen Einlagekonto in Höhe von 41.846.000 €. Es hätten lediglich 29.378.199 € bescheinigt werden dürfen. Daher liegt in Höhe von 12.467.801 € ein überhöht ausgewiesener Betrag vor.

2.

§ 27 Abs. 5 Satz 4 KStG enthält eine Verweisung auf § 44 Abs. 5 EStG, wobei gemäß Halbsatz 2 des § 27 Abs. 5 Satz 4 KStG diese Haftung jedoch verschuldensunabhängig ist (vgl. Berninghaus in Herrmann/Heuer/Raupach – H/H/R –, EStG/KStG, Stand 297. Lieferung April 2020, § 27 KStG Rn. 130). Ein Ermessen steht der Finanzbehörde nicht zu („ist ... geltend zu machen“).

Die Haftung entfällt auch nicht nach § 27 Abs. 5 Satz 5 KStG, da die Klägerin die Bescheinigung nicht berichtigt hat.

II.

Die Neuregelung des § 27 Abs. 5 KStG ist als solche, d. h. abgesehen von einer etwaigen unzulässigen Rückwirkung, verfassungsgemäß (BFH, Urteil vom 11.02.2015 I R 3/14, BFH/NV 2015, 1204, Juris; BFH, Beschluss vom 11.07.2018 I R 30/16. BFH/NV 2019, 171, Juris).

III.
Der angefochtene Bescheid ist auch nicht wegen einer verfassungswidrigen rückwirkenden Gesetzesänderung durch den Gesetzgeber rechtswidrig.

1.

Ob sich die Klägerin überhaupt auf eine solche verfassungswidrige Rückwirkung berufen könnte, kann offen bleiben.

a)

Juristische Personen des Privatrechts, die vollständig von der öffentlichen Hand gehalten werden, sind nicht grundrechtsfähig (Bundesverwaltungsgericht – BVerwG –, Urteil vom 12.12.2019 8 C 8/19, Gewerbearchiv – GewArch – 2020, 183, Juris Rn. 21 m. w. N.; Bundesverfassungsgericht – BVerfG –, Nichtannahmebeschluss vom 25.10.2018 1 BvR 1689/16, Juris Rn. 2 m. w. N.; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 02.11.2015 1 BvR 1530/15, GewArch 2016, 238, Juris Rn. 5, dort letzter Satz, m. w. N.; Rüfner in Handbuch des Staatsrechts – HStR –, Band IX, 3. Aufl. 2011, § 196, Rn. 110-112, 132-136; Schnapp in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 1. Aufl. 2006, § 52 [Zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts], Rn. 10-11).

b)

Ob sich solche Personen gleichwohl auf eine aufgrund des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz – GG – verfassungswidrige Rückwirkung einer Gesetzesänderung berufen können, erscheint noch nicht abschließend geklärt (verneinend für Krankenkassen Bundesozialgericht – BSG –, Urteil vom 22.10.2014 B 6 KA 3/14 R, Gesundheitsrecht – GesR – 2015, 344, Juris Rn. 30-31; bejahend für Abgabenangelegenheiten BVerwG, Urteil vom 23.01.2019 9 C 2/18, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung – HFR – 2019, 817, Juris Rn. 34-37).

c)

Der Senat lässt diese Frage ausdrücklich offen.

2.

Denn die Rückwirkung des § 27 Abs. 5 KStG in der Fassung durch das SEStEG durch die in § 34 Abs. 1 KStG ebenfalls in der Fassung durch das SEStEG normierte Geltung rückwirkend ab Beginn des Jahres 2006 ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) aa)
Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgt das Gebot des Vertrauensschutzes, welches in belastender Weise rückwirkende Gesetze grundsätzlich verbietet (vgl. zuletzt BFH, Vorlagebeschluss vom 23.10.2019, XI R 43/18, Deutsches Steuerrecht – DStR – 2020, 538 m. w. N.). Eine Rückwirkung zugunsten des Steuerpflichtigen ist dagegen zulässig, um eine solche handelt es sich vorliegend aber nicht, da die Klägerin nach alter Rechtslage einem für sie günstigeren Haftungsregime unterlegen hätte. Die Verwendungsfestschreibung nach § 27 Abs. 1 Satz 5 KStG a.F. hätte bewirkt, dass die Ausschüttung in bescheinigter Höhe aus dem steuerlichen Einlagekonto vorgenommen worden wäre. Ohne die Gesetzesänderung durch das SEStEG wäre daher Kapitalertragsteuer nicht entstanden, da Leistungen, für die Beträge aus dem steuerlichen Einlagekonto als verwendet gelten, nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG nicht zu den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören.

Eine Rechtsnorm entfaltet dann Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereiches normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, an dem die Norm rechtlich existent geworden ist (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – BVerfGE – 63, 343, 353).

bb)
Das BVerfG unterscheidet zwischen sog. echter und unechter Rückwirkung. Eine echte Rückwirkung ist gegeben, wenn ein Gesetz nachträglich in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift (BVerfGE 68, 287, 306). Speziell für Abgabengesetze hat das Bundesverfassungsgericht die Formel dahingehend konkretisiert, dass eine echte Rückwirkung vorliegen soll, wenn im Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes die Steuerschuld bereits entstanden ist (BVerfGE 30, 392, 401). Eine echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig.

Bei zeitlichen Abgrenzungsschwierigkeiten wird nicht auf das Zustandekommen im Sinne des Art. 78 GG abgestellt, sondern auf den Tag der Beschlussfassung des Bundestages (BVerfGE 13, 206, 213; 13, 261, 273). Unbeachtlich sollen dagegen bekannt gewordene Elemente aus der parlamentarischen Bearbeitungsarbeit sein (BVerfGE 14, 288, 298).

Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn die Rechtsfolgen erst nach Verkündung des Gesetzes eintreten, ihr Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt wurden“ (BVerfGE 105, 13, 37 f.). Eine unechte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Im Steuerrecht liegt eine unechte Rückwirkung dann vor, wenn der Gesetzgeber Normen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum ändert (BVerfGE 72, 200, 252 f.; BFH, Vorlagebeschluss vom 23.10.2019, XI R 43/18, DStR 2020, 538, 540 m. w. N.).

b)

Hier liegt eine echte Rückwirkung vor.

Die KapESt ist eine Erhebungsform der Einkommensteuer – ESt – gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 EStG bzw. der KSt i. V. m. § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG. Die KSt entsteht gemäß § 30 Nr. 1 KStG für Steuerabzugsbeträge in dem Zeitpunkt, in dem die steuerpflichtigen Einkünfte zufließen. Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG wird für Anteile am Gewinn von GmbHs die KSt durch Steuerabzug erhoben.

Damit entstand die KSt im Zeitpunkt des Zuflusses, hier also am 20.10.2006.

Das SEStG wurde vom Bundestag am 09.11.2006 beschlossen.

c)

Die Rückwirkung ist jedoch gleichwohl zulässig, weil die Klägerin ihre Haftung für die KapESt durch Änderung der ihren Gesellschaftern durch sie ausgestellten Steuerbescheinigungen hätte vermeiden können.

aa)
Grundsätzlich genießen nur irreversible Dispositionen den Schutz gegen rückwirkende Änderungen der Gesetze.

Kann der Steuerpflichtige seine Disposition noch ändern bzw. durch geeignete Anpassungsmaßnahmen die durch die Gesetzesänderung entstehende oder sich erhöhende Steuerlast vermeiden, ist ihm grundsätzlich zuzumuten, entsprechende Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen.

bb)
Die Neufassung des Gesetzes sieht in § 27 Abs. 5 Satz 5 KStG ausdrücklich die Möglichkeit der Berichtigung der Steuerbescheinigungen vor.

Hätte die Klägerin von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, hätte sie nicht gemäß § 27 Abs. 5 Satz 4 KStG in Anspruch genommen werden können.

Zwar fällt auch ohne einen in der Steuerbescheinigung überhöht ausgewiesenen Betrag KapESt bei Ausschüttung von Gewinnen an (näher nachfolgend d). Jedoch hätte die Klägerin für diese „normale“ KapESt gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 EStG nur bei Verschulden, und zwar bei mindestens grober Fahrlässigkeit, gehaftet, was bei einer Erhebung nur aufgrund einer rückwirkenden Gesetzesänderung sicher zu verneinen gewesen wäre. Es hätte von der Klägerin nicht erwartet werden können, künftige Gesetzesänderungen bei Auszahlung der Ausschüttung vorauszusehen. Außerdem hätte das Finanzamt, wenn ein Verschulden gleichwohl zu bejahen gewesen wäre, das Ermessen gehabt, die Gesellschafter durch KapESt-Nachforderungsbescheid oder die Klägerin durch Haftungsbescheid in Anspruch zu nehmen. Aufgrund der Rückwirkungskonstellation wäre die Inanspruchnahme der Klägerin hier ermessensfehlerhaft gewesen.

Mithin hätte der Klägerin bei einer – von ihr ausdrücklich abgelehnten – Berichtigung der den Gesellschaftern ausgestellten Steuerbescheinigungen keine Inanspruchnahme gedroht.

d)

Allerdings wäre im Falle einer Berichtigung der Steuerbescheinigungen – worauf die Klägerin im Grundsatz zutreffend hinweist – für die Ausschüttung bei den Gesellschaftern selbst KSt in Form von KapESt angefallen.

aa)
Die Bundesländer sind gemäß § 2 Nr. 2 Satz 1 Halbsatz 1 KStG als sonstige, nicht unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaften beschränkt körperschaftsteuerpflichtig mit den inländischen Einkünften, die dem Steuerabzug vollständig oder teilweise unterliegen.

bb)
Gewinnausschüttungen von GmbHs sind Einkünfte aus Kapitalvermögen gemäß § 20 Abs.1 Nr. 1 EStG und unterliegen daher der Steuerhebung durch KapESt gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, wenn auch bei Bundesländern als Gesellschafter nur mit dem gemäß § 44a Abs. 8 Satz 1 Nr. 2 EStG reduzierten Satz, seinerzeit der Hälfte (des allgemeinen Satzes von seinerzeit 20 %). Die KapESt hat gemäß § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG grundsätzlich abgeltende Wirkung.

cc)
Schuldner der KapESt sind gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 EStG die Gesellschafter. Da hier die Klägerin bei Berichtigung der Steuerbescheinigungen weiterhin keine KapESt einbehalten hätte (vgl. vorstehend III.2.c bb), hätten die Gesellschafter gemäß § 44 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 EStG in Anspruch genommen werden können.

e)

Jedoch führt die Steuerpflicht der Gewinnausschüttung bei den Gesellschaftern, die bei einer Korrektur der Steuerbescheinigungen entstanden wäre, nicht zur Verfassungswidrigkeit der Rückwirkung der Änderung des § 27 Abs. 5 KStG gegenüber der Klägerin.

aa)
Zum einen ist bereits zweifelhaft, ob sich die Klägerin bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit ihrer rückwirkenden Inanspruchnahme für die KapESt überhaupt auf die steuerlichen Wirkungen bei ihren Gesellschaftern berufen kann. Denn bei juristischen Personen sind die Sphären von Gesellschaft und Gesellschaftern grundsätzlich getrennt.

Nicht zuletzt deswegen hat der BFH im Urteil vom 19.07.2017 I R 96/15, BFH/NV 2018, 237, Juris Rn. 28-30, der Gesellschaft die Berufung auf eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung bei Anfechtung der Feststellung des Bestandes des Einlagekontos verwehrt. Der BFH hat ausgeführt, das steuerliche Einlagekonto habe allein Bedeutung für die Besteuerung der Anteilseigner. Die dort klagende GmbH könne aber nur im Hinblick auf ihr Haftungsrisiko betroffen sein. Nur soweit sich das Haftungsregime ändere, könne es (möglicherweise) zu einer für die Klägerin rückwirkenden und sie auch selbst belastenden Rechtsänderung durch das SEStEG gekommen sein.

Diesen Erwägungen ist sinngemäß zu entnehmen, dass sich die Klägerin als Gesellschaft nicht auf für die Gesellschafter nachteilige, rückwirkende Änderungen des Gesetzes berufen kann. Auf solche können sich allenfalls die Gesellschafter selbst berufen, wenn sie gemäß § 44 Abs. 5 Satz 2 EStG als Gläubiger der Kapitalerträge und zugleich Schuldner der KapESt in Anspruch genommen werden.

bb)
Selbst wenn die Auswirkungen für die Gesellschafter bei der Prüfung der Frage, ob es der Klägerin zumutbar war, die Steuerbescheinigungen zu ändern und so ihrer Inanspruchnahme für die KapESt zu entgehen, zu berücksichtigen wären, würde dies gleichwohl nicht zu einer Verfassungswidrigkeit der Rückwirkung führen.

Denn die Verwendungsreihenfolge in § 27 Abs. 1 KStG wurde durch das SEStEG nicht geändert. Es galt auch schon vorher der Grundsatz, dass Leistungen der Gesellschaft an die Gesellschafter primär aus dem erwirtschafteten Gewinn und damit steuerpflichtig und nur nachrangig aus vorherigen Einlagen und damit steuerfrei vorgenommen werden können. Ausgehend von diesem Grundsatz ist ein etwaiges Vertrauen der Gesellschafter in falsche Bilanzen der GmbH grundsätzlich nicht schutzwürdig.

IV.1.
Die Revision wird zur Fortbildung des Rechts, § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO, zugelassen.

Abgesehen davon, dass noch nicht abschließend geklärt ist, ob juristische Personen des Privatrechts, die vollständig von der öffentlichen Hand gehalten werden und daher nicht grundrechtsfähig sind, sich im Abgabenrecht gleichwohl auf eine verfassungswidrige Rückwirkung einer Gesetzesänderung berufen können, erscheint klärungswürdig und klärungsbedürftig, ob eine sich durch eine Gesetzesänderung ergebende steuerliche Rückwirkung, die eine Gesellschaft durch eine Anpassungsmaßnahme hätte vermeiden können, die dann jedoch wiederum steuerlich nachteilige, wenn auch vom Gesetzgeber vorgesehene Wirkungen bei den Gesellschaftern gehabt hätte, verfassungsgemäß ist.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

3.

Soweit die Klägerin Schriftsatznachlass im Hinblick auf die erst kurz vor der mündlichen Verhandlung aufgeworfenen Frage, ob juristische Personen des Privatrechts, die vollständig von der öffentlichen Hand gehalten werden und daher nicht grundrechtsfähig sind, sich im Abgabenrecht gleichwohl auf eine verfassungswidrige Rückwirkung einer Gesetzesänderung berufen können, beantragt hat, lehnt der Senat dies ab, da diese Frage sich letztlich als nicht entscheidungserheblich herausgestellt hat.