Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat | Entscheidungsdatum | 30.04.2014 | |
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Aktenzeichen | L 7 KA 155/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 87b SGB 5 |
1. Der Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 bietet keine ausreichende Grundlage, um ohne Regelung durch die Gesamtvertragspartner über RLV-relevante Praxisbesonderheiten zu entscheiden.
2. Weil das RLV vor Beginn eines Quartals zugewiesen werden muss, darf bei der Prüfung auf RLV-relevante Praxisbesonderheiten nicht auf die Abrechnungsdaten ebendieses Quartals zurückgegriffen werden.
3. Dass nach dem Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 im Quartal I/09 die Anerkennung einer RLV-relevanten Praxisbesonderheit davon abhing, dass der Fallwert einer Vertragsarztpraxis denjenigen der Arztgruppe um 30 % überschritt, ist unbedenklich.
4. Überschreitet der praxisindividuelle Fallwert denjenigen der Arztgruppe um den durch den (erweiterten) Bewertungsausschuss oder den Honorarverteilungsmaßstab vorgegebenen Prozentsatz, darf eine Praxisbesonderheit nicht allein unter Hinweis auf einen Fallzahlrückgang in den letzten 6 Jahren abgelehnt werden.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. November 2011 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger begehrt ein höheres Regelleistungsvolumen (RLV) für das Quartal I/09 unter dem Aspekt von Praxisbesonderheiten.
Der Kläger nahm als Facharzt für Kinderheilkunde von Januar 1989 bis Dezember 2012 im Berliner Bezirk S an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Seit 2007 führt er die Zusatzbezeichnung Neuropädiatrie. Der Anteil der neuropädiatrischen Gebührenordnungspositionen - GOP - (Unterkapitel 4.4.2 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs - EBM - 2008) an den vom Kläger insgesamt erbrachten Leistungen betrug im Quartal IV/07 6,76 %, in den Quartalen I/08 bis IV/08 durchschnittlich 26,12 % und im Quartal I/09 26,31 %.
Die Beklagte wies dem Kläger das RLV für das Quartal I/2009 nach folgender Berechnung zu (Bescheid vom 11. Dezember 2008):
I/2009 | |
arztindividuelle Fallzahl | 1207 |
Fallwert der Arztgruppe in € | 31,47 |
durchschnittliche Fallzahl der Arztgruppe | 926 |
Morbiditätsfaktor | 0,9867 |
arztindividuelles RLV in € | 37.479,10 |
Dieser Bescheid ist nicht bestandskräftig, sondern mit dem (auch weitere Quartale betreffenden) Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2013 Gegenstand des noch nicht abgeschlossenen Rechtsstreits S 71 KA 211/13 vor dem Sozialgericht Berlin.
Am 20. Dezember 2008 beantragte der Kläger bei der Beklagten ein erweitertes RLV, weil sein Fallwert seit Januar 2008, d.h. seit der Möglichkeit, neuropädiatrische Ziffern abzurechnen, den durchschnittlichen Fallwert der hausärztlichen Pädiater um 65 % übersteige. Außerdem könne er erst ab 2009 aufgrund einer Änderung des einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) für seine zahlreichen Migräne-Patienten die Betreuungspauschale nach der Gebührenordnungsposition (GOP) 04433 abrechnen.
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. März 2009 ab, weil die Differenz zwischen dem arztindividuellen RLV-relevanten Fallwert seiner Praxis aus dem Quartal I/08 und dem RLV-Fallwert seiner Arztgruppe der hausärztlichen Kinderärzte / fachärztliche Kinderärzte ohne Schwerpunkt im Quartal I/09 mit 7,72 % unter der mindestens erforderlichen Differenz von 30 % liege. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2009 zurück.
Der Widerspruch des Klägers gegen seinen Honorarbescheid für das Quartal I/09 wurde von der Beklagten bislang wegen der offenen Verfahren zur RLV-Zuweisung nicht bearbeitet.
Mit Urteil vom 30. November 2011 hat das Sozialgericht die Bescheide vom 30. März 2009 und 15. Dezember 2009 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Anerkennung von Praxisbesonderheiten für das Quartal I/09 unter Beachtung der Rechtsauffassung erneut zu entscheiden; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Sozialgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Die Bescheide der Beklagten seien rechtswidrig, weil es im Bereich der Beklagten für das Quartal I/09 an der zwingend erforderlichen gesamtvertraglichen Regelung zu Praxisbesonderheiten gefehlt habe. Teil F Nr. 3.6 des Beschlusses des erweiterten Bewertungsausschusses (EBewA) vom 27./28. August 2008 ermögliche keine Prüfung von Praxisbesonderheiten im Einzelfall, sondern überlasse die diesbezüglichen Einzelheiten und das Verfahren den Gesamtvertragspartnern. Eine entsprechende Regelung enthalte der durch Beschluss des Landesschiedsamtes vom 21. November 2008 festgesetzte Honorarvertrag (HV) bezüglich des Quartals I/09 nicht. Auch Teil 2 Nr. 1 des Beschlusses des Landesschiedsamtes stelle keine taugliche Rechtsgrundlage dar, weil sie ihrerseits nur auf Teil F Nr. 3.6 des Beschlusses des EBewA verweise, aber auch weil das Landesschiedsamt in Teil 2 Nr. 4 seines Beschlusses den Partnern des HV aufgegeben habe, bis zum 15. Dezember 2008 Regelungen zu Praxisbesonderheiten abzustimmen. Die in der ersten Änderungsvereinbarung zum HV vorgenommenen Neuregelungen in § 5 Abs. 9 HV beträfen ausdrücklich erst den Zeitraum ab dem 1. April 2009. Ohne die erforderlichen Detailregelungen seien Entscheidungen über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht möglich. Der Beschluss des EBewA lasse z.B. offen, auf welche Fallwerte konkret bezüglich der 30%-Grenze abzustellen sei, wie und in welchem Umfang bei Vorliegen von Praxisbesonderheiten die Anerkennung zu erfolgen habe und ob der Beklagten insofern ein Ermessen zustehe. Auch eine grundsätzlich zulässige Delegation der Regelungsbefugnis auf den Vorstand der Beklagten sei nicht erfolgt.
Im Rahmen der Neubescheidung werde die Beklagte folgendes zu beachten haben: Für die Frage, wann eine „für die Versorgung bedeutsame fachliche Spezialisierung“ vorliege, könne auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum besonderen Versorgungsbedarf im Zusammenhang mit den Zusatz- und Praxisbudget zurückgegriffen werden. Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass der Kläger auf neuropädiatrische Leistungen spezialisiert sei, was die von ihm und der Beklagten vorgelegten Anzahlstatistiken belegten. Diese Leistungen überträfen den vom BSG geforderten Anteil von 20 % des Gesamtpunktzahlvolumens, wobei der Kläger zutreffend rüge, dass der 40%ige Zuschlag auf die Versichertenpauschale gemäß Ziffer 4.1.4 des EBM 2008 in die Berechnung hätte einbezogen werden müssen. Sollte die von der Beklagten vorzunehmende Prüfung ergeben, dass beim Kläger eine besondere für die Versorgung bedeutsame fachliche Spezialisierung vorliege, sei nach Teil F Nr. 3.6 des Beschlusses des EBewA vom 27./28. August 2008 in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob zusätzlich eine aus den Praxisbesonderheiten resultierende Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe von mindestens 30 % vorliege. Dieser Grenzwert sei als Anfangs- und Erprobungsregelung nicht zu beanstanden. Dass die Beklagte bislang vor der Prüfung, ob Praxisbesonderheiten vorlägen, zunächst die Fallwertüberschreitung von 30 % untersucht habe, sei zur Vermeidung unnötigen Ermittlungsaufwands nicht zu beanstanden. Dagegen lasse sich bei einer Fallwertüberschreitung von mindestens 30 % die Frage der Kausalität zwischen Praxisbesonderheiten und Fallwertüberschreitung ohne eine Prüfung der abrechenbaren Leistungen grundsätzlich nicht klären. Nur wenn geklärt sei, ob und ggf. welche Praxisbesonderheiten in Betracht kämen, könne anhand der Abrechnungsdaten geprüft werden, ob diese Praxisbesonderheiten oder aber andere Umstände, insbesondere eine unwirtschaftliche Leistungserbringung oder eine gesteuerte Fallzahlreduzierung für den erhöhten Fallwert verantwortlich seien. Der von der Beklagten herangezogene Fallzahlvergleich zwischen den Quartalen III/02 bis II/03 gegenüber dem Quartal I/08 sei kein geeignetes Kriterium. Zum einen könne es im Rahmen der Kausalitätsprüfung nur darauf ankommen, ob aktuell die geltend gemachten Praxisbesonderheiten kausal einen gegenüber der Arztgruppe erhöhten Fallwert bedingten, wobei die Fallzahlen vergangener Jahre grundsätzlich irrelevant seien. Andererseits habe die Beklagte nicht berücksichtigt, dass ein Fallzahlrückgang verschiedenste Gründe haben könne und nicht zwangsläufig mit einer Erhöhung des Fallwerts einhergehen müsse. So könne ein Fallzahlrückgang auch auf einer zunehmend erfolgten Spezialisierung des Vertragsarztes oder auch auf einer Beziehung der durchschnittlichen Fallzahlen der Arztgruppe beruhen. Auch als Indiz im Rahmen der Kausalitätsprüfung könne der Fallzahlrückgang allenfalls dann taugen, wenn mit diesem zugleich eine Erhöhung der unbudgetierten Fallwerte einhergegangen wäre. Aber auch dann müsse noch geklärt werden, ob diese Fallwerterhöhung nicht auf einer zunehmenden Spezialisierung beruhe und ob sich nicht der durchschnittliche Fallwert der Arztgruppe im selben Zeitraum auch erhöht habe. Dies würde wiederum eine Prüfung der Abrechnungen des Arztes dahingehend voraussetzen, ob er die im Rahmen der Spezialisierung erbrachten Leistungen im Verhältnis zu den arztgruppentypischen Leistungen vermehrt abgerechnet habe.
Auf gesamtvertraglicher Ebene sei auch zu konkretisieren, welche Fallwerte dem Vergleich in der Fachgruppe zugrunde zu legen seien. Da es um die Ermittlung des Umfangs des Behandlungsbedarfs je Behandlungsfall im Vergleich zur Fachgruppe gehe, seien jedoch sowohl auf Seiten des zu beurteilenden Arztes als auch auf Seiten der Fachgruppe die unbudgetierten Fallwerte zugrunde zu legen. Legte man individuelle Auszahlungspunktwerte zugrunde, hätte dies zur Folge, dass bei gleichem prozentualen Anteil spezialisierter Leistungen ein neuropädiatrisch tätiger Kinderarzt mit geringer Fallzahl und Nichtausschöpfung des IB im Quartal I/08 einen deutlich höheren Fallwert hätte als ein neuropädiatrisch tätiger Kinderarzt mit hoher Fallzahl und deutlicher Überschreitung seines IB im Quartal I/08. Denn allein die hohe Fallzahl des letzteren im Bemessungsquartal I/08 würde, stellte man auf den Fallwert nach Budgetierung ab, bei identischem Leistungsspektrum und identischem durchschnittlichem unbudgetiertem Fallwert zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Anerkennung von Praxisbesonderheiten führen. Dies entspreche offenkundig nicht Teil F Nr. 3.6 des Beschlusses des EBewA vom 27./28. August 2008. Es sei daher bei dem Vergleich des betreffenden Arztes mit der Fachgruppe ein identischer Punktwert (z.B. der IB-Zielpunktwert von 4,15 Cent) zugrunde zu legen, oder es könne auch ein prozentualer Vergleich der durchschnittlichen Punktzahl pro Fall vorgenommen werden. Auf den nach Ziffer 4 der Anlage 2 zu Teil F des Beschlusses des EBewA vom 27./28. August 2008 sowie nach den Anlagen 1 und 2 zum HV ermittelten RLV-Fallwert dürfe die Beklagte nicht abstellen, da nur die Abweichung von dem das tatsächliche Abrechnungsvolumen der Ärzte widerspiegelnden Fallwerts eine zuverlässige Qualifizierung der im Vergleich zur Arztgruppe bestehenden Praxisbesonderheiten zulasse. Die von der Beklagten vorgenommene Berechnung, wonach das RLV-relevante Gesamthonorarvolumen der Arztgruppe durch die Gesamtfallzahl dividiert werde, berücksichtige die Individualbudgetierung und führe damit zu einer Verzerrung des Leistungsbildes bezogen auf den einzelnen Behandlungsfall, sie sei folglich für den Fallwertvergleich ebenfalls ungeeignet. Zulässig sei daher z.B., das Gesamtpunktzahlvolumen der RLV-relevanten Leistungen mit dem auch bei dem einzelnen Arzt zugrunde gelegten Punktwert zu multiplizieren und diesen Wert durch die Gesamtfallzahl zu dividieren.
In zeitlicher Hinsicht sei entgegen der Ansicht des Klägers auf das jeweils entsprechende Vorjahresquartal abzustellen. § 87b Abs. 3 Satz 3 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) und der oben genannte Beschluss des EBewA sprächen dafür, dass Praxisbesonderheiten als Bestandteil des RLV jeweils im Voraus vor dem Beginn des Abrechnungsquartals festzustellen seien. Unzulässig sei es aber, dass die Beklagte den individuellen Fallwert des Klägers im Quartal I/08 mit dem RLV-Wert der Arztgruppe für das Quartal I/09 verglichen habe.
Im Rahmen der noch zu treffenden gesamtvertraglichen Regelungen dürfe die Anerkennung von Praxisbesonderheiten hinsichtlich der Art und Weise und des Umfangs dem Ermessen der Beklagten überlassen werden. Vertretbar sei es auch, nur die den Grenzwert von 30 % übertreffende Fallwertüberschreitung als RLV-erhöhend anzuerkennen.
Gegen dieses ihr am 5. Dezember 2011 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 29. Dezember 2011, zu deren Begründung sie vorträgt:
Sie habe entsprechend Teil II Nr. 4 des Beschlusses des Landesschiedsamtes einen Vorschlag zu Praxisbesonderheiten erarbeitet und den Vertragsparteien per E-Mail am 9. Dezember 2008 übersandt. Als Reaktion hierauf hätten die Krankenkas-sen(-verbände) einen Gegenvorschlag übermittelt, welchen sie mit Schreiben vom 22. Dezember 2008 akzeptiert habe.
Weil der Fallwert des Klägers aus dem Quartal I/08 (33,90 €) den RLV-Fallwert seiner Arztgruppe im Quartal I/09 (31,47 €) nicht um 30 % überschreite – wie in Teil F Ziffer 3.6 des Beschlusses des EBewA vom 27./28. August 2008 gefordert –, sondern nur um 7,72 %, sei die Prüfung der Praxisbesonderheiten an diesem Punkt beendet.
Der für den Kläger ermittelte arztindividuelle Fallwert für das Quartal I/08 in Höhe von 33,90 Euro sei ermittelt worden, indem die RLV-Bedingungen des Quartals I/09 quasi über die vom Kläger erbrachten Leistungen des Quartals I/08 „gestülpt“ worden seien, d.h., das RLV-relevante Honorar aus dem Quartal I/08 sei durch die RLV-relevante Fallzahl aus I/08 geteilt worden. Gemäß den einschlägigen Beschlüssen des EBewA i.V.m. dem HV 2009 werde zur Berechnung des RLV eines Arztes auf die Fallzahl des Arztes im Vorjahresquartal abgestellt. Auch zur Ermittlung des Arztgruppenfallwertes beziehe man sich auf das Vorjahresquartal. Daher sei der Vergleich mit dem arztindividuellen RLV-relevanten Fallwert aus dem jeweiligen Aufsatzquartal (Vorjahresquartal) bei der Prüfung der Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht zu beanstanden. Auf den Fallwert des betroffenen Quartals könne schon deshalb nicht abgestellt werden, weil der Antrag auf Anerkennung von Praxisbesonderheiten vor Beginn oder während des jeweiligen Quartals gestellt werde. Würde indes der arztindividuelle Fallwert des betroffenen Quartals, für das die Anerkennung von Praxisbesonderheiten begehrt werde, als Vergleich herangezogen werden, könnte über den Antrag erst nach Vorlage des Honorarbescheides entschieden und somit die durch das RLV gewollte Steuerungswirkung nicht erreicht werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. November 2011 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Bescheide vom 30. März 2009 und 15. Dezember 2009 aufgehoben und die Beklagte zur Neubescheidung verpflichtet.
A. Der Zulässigkeit der Klage steht nicht entgegen, dass wegen desselben Streitgegenstandes (RLV des Klägers im Quartal I/09) ein weiterer Rechtsstreit anhängig ist.
I.Die Beklagte hat – wie sich aus dem hiesigen Rechtsstreit sowie den am selben Tag entschiedenen Verfahren L 7 KA 154/11, L 7 KA 140/11 und L 7 KA 80/11 ergibt – bezüglich der Höhe des RLV eines Vertragsarztes für ein bestimmtes Quartal mehrere Verwaltungsverfahren unabhängig voneinander durchgeführt. So hat sie in Verfahren, in denen Widerspruch gegen den RLV-Zuweisungsbescheid (§ 87b Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB V in der vom 1. Juli 2008 bis 22. September 2011 geltenden Fassung <alte Fassung – aF>) erhoben wurde, nur bestimmte Einwände der Vertragsärzte (z.B. zur Arztgruppenzuordnung, Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des EBewA) berücksichtigt; alle Umstände, die wegen der Anerkennung von Praxisbesonderheiten zu einem höheren RLV führen können, hat sie demgegenüber – auf An-trag – in einem separaten Verwaltungsverfahren geprüft.
II. Die Ursachen für diese Vorgehensweise liegen einerseits in § 87b Abs. 5 SGB V aF sowie andererseits in § 6 Abs. 3 der Anlage 1 zum HV 2009. Nach § 87b Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB V aF obliegt die Zuweisung der RLV an den Arzt oder die Arztpraxis einschließlich der Mitteilung der Leistungen, die außerhalb der RLV vergütet werden, sowie der jeweils geltenden regionalen Preise der Kassenärztlichen Vereinigung; die Zuweisung erfolgt erstmals zum 30. November 2008 und in der Folge jeweils spätestens vier Wochen vor Beginn der Geltungsdauer des RLV. Gemäß § 6 Abs. 3 der Anlage 1 zum HV 2009 können wegen im einzelnen aufgeführter arzt- bzw. praxisindividueller Umstände (z.B. urlaubs- oder krankheitsbedingte Vertretung, Praxisaufgabe in der näheren Umgebung) auf Antrag des Arztes und nach Genehmigung durch die Kassenärztliche Vereinigung Berlin Leistungen über das arzt-/praxisbezogene RLV hinaus mit den Preisen der regionalen Euro-Gebührenordnung vergütet werden. Dass derartige Umstände bei der Ermittlung des RLV nur antragsabhängig Beachtung finden können, ist sachgerecht, weil sie der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) typischerweise nicht bekannt sind. Dies gilt gleichermaßen für nach § 87b Abs. 3 Satz 3 SGB V aF zwingend zu berücksichtigende Praxisbesonderheiten, auch wenn deren Einbeziehung in die Ermittlung des RLV der im Quartal I/09 geltende HV noch nicht ausdrücklich vorsah.
1. Diese Praxis der Beklagten begegnet gleichwohl rechtlichen Bedenken, weil die identische Regelung (Höhe des RLV eines Vertragsarztes in einem bestimmten Quartal) Gegenstand zweier Verwaltungs- bzw. Vorverfahren und sogar unterschiedlicher Rechtsstreite wurde, was zu divergierenden bestandskräftigen Festsetzungen zur Höhe des RLV führen könnte. Außerdem könnte die Frage, welcher Fachgruppe ein Vertragsarzt zuzuordnen ist, Voraussetzung für die Anerkennung von Praxisbesonderheiten sein (da diese vor allem durch eine wesentliche Abweichung vom Leistungsverhalten der Fachgruppe gekennzeichnet sind), sodass bei einem Streit auch um die Arztgruppenzugehörigkeit vor der Bestandskraft des RLV-Zuweisungsbescheids wegen Vorgreiflichkeit nicht abschließend über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten entschieden werden dürfte. Werden daher die beiden Verwaltungsverfahren völlig unabhängig voneinander geführt, bleibt unbeachtet, dass es nicht um unterschiedliche Lebenssachverhalte geht, sondern nur um unterschiedliche Begründungen für ein und dieselbe Regelung.
Deshalb spricht einiges dafür, dass die Beklagte nicht hinsichtlich desselben Regelungsgegenstandes mehrere Widerspruchsverfahren durchführen, sondern im Hinblick auf § 86 SGG nur einen Widerspruchsbescheid hätte erlassen dürfen, in dem sie auf die Einwände sowohl gegen den RLV-Zuweisungsbescheid als auch wegen nicht oder nur teilweise anerkannter Praxisbesonderheiten eingeht.
2. Über die Tragweite dieser Bedenken muss der Senat indes nicht abschließend befinden. Nähme man sie ernst, bedeutete dies für den hiesigen Rechtsstreit, dass die Beklagte mit dem Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2013 nicht erneut über das RLV des Klägers für das Quartal I/09 hätte entscheiden dürfen. Denn nachdem die Widerspruchsstelle bereits mit dem Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2009 über diesen Streitgegenstand entschieden hatte, wäre sie zu einer erneuten Befassung hiermit nicht befugt (vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 2003 – B 11 AL 47/02 R –, juris; BSGE 75, 241). Gleichwohl wäre der Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2013, soweit er das RLV für das Quartal I/09 betrifft, gemäß § 96 SGG Gegenstand des hiesigen Rechtsstreits geworden (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Juni 2012 – L 7 R 923/11 –, juris). Allerdings können die Beteiligten im Rahmen von § 96 SGG aufgrund ihrer allgemeinen Dispositionsbefugnis durch eine ausdrückliche Erklärung über den neu einbezogenen Verwaltungsakt verfügen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 10.A., § 97 Rd. 11a m.w.N.). Eine solche Erklärung haben die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abgegeben. Der Rechtsstreit S 71 KA 211/13 wird in der Folge getrennt vom hiesigen Verfahren geführt, der Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2013 somit, soweit er das RLV für das Quartal I/09 betrifft, nicht Gegenstand des hiesigen Rechtsstreits.
3. Der Senat verkennt in diesem Zusammenhang nicht, dass die gesetzliche Vorgabe, das RLV zur Gewährleistung von Kalkulationssicherheit (vgl. den Entwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD für das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, BT-Drs. 16/3100, S. 216) rechtzeitig vor Beginn eines Quartals dem Vertragsarzt zuzuweisen, mit der aus § 87b Abs. 3 Satz 3 SGB V aF und Teil F Nr. 3.6 des Beschlusses des EBewA vom 27./28. August 2008 resultierenden Pflicht der KV, ihr bis dato in der Regel unbekannte und daher nur auf Antrag berücksichtigungsfähige Umstände als mögliche Praxisbesonderheiten einer Prüfung zu unterziehen und in Folge dessen ggf. ein höheres RLV festzusetzen, kollidiert. Insbesondere bezüglich des hier allein streitigen Quartals I/09 war es typischerweise ausgeschlossen, dass zum gesetzlich vorgegebenen Zeitpunkt der Zuweisung Praxisbesonderheiten der KV bereits mitgeteilt waren und von ihr auch geprüft und anerkannt werden konnten.
Angesichts dessen dürfte einiges dafür sprechen, § 6 Abs. 3 (und ebenso die mit Wirkung ab dem Quartal II/09 eingefügten Regelungen in § 5 Abs. 9) der Anlage 1 zum HV 2009 dahin auszulegen, dass die – zwingend vor Quartalsbeginn zu erfolgende – RLV-Zuweisung unter dem Vorbehalt einer späteren antragsabhängigen RLV-Erhöhung infolge der Anerkennung von Praxisbesonderheiten steht. Bei dieser Auslegung wäre gewährleistet, dass einerseits die RLV-Zuweisung rechtzeitig vor Quartalsbeginn erfolgen kann und andererseits Praxisbesonderheiten antragsabhängig geltend gemacht werden und zu einer RLV-Erhöhung noch für dieses Quartal führen können, ohne dass – etwa durch die Aufspaltung in zwei voneinander unabhängige Verwaltungsverfahren – geltendes Verwaltungsverfahrens- oder Prozessrecht verletzt wird.
Auf der Umsetzungsebene hätte dies zur Folge, dass alle RLV-Zuweisungsbescheide unter dem nicht ausdrücklich aufgenommenen Vorbehalt stehen, dass das darin festgesetzte RLV nur solange Wirkung entfaltet, bis infolge eines Antrags nach § 6 Abs. 3 (bzw. ab dem Quartal II/09 nach § 5 Abs. 9) der Anlage 1 zum HV 2009 ein höheres RLV festgesetzt wird. Ein solcher Vorbehalt wäre gemäß § 32 Abs. 1, 2. Alt. SGB X zulässig, da auf diese Weise eine RLV-Festsetzung unter Wahrung der o.g. kollidierenden normativen Vorgaben sichergestellt ist. Dieser Vorbehalt dürfte im Übrigen auch die Verwaltungspraxis der Beklagten widerspiegeln, da dem Senat – zumindest derzeit – kein Fall bekannt ist, in dem die Beklagte trotz anerkannter Praxisbesonderheiten und daraus resultierender RLV-Erhöhung das geringere RLV aus dem Zuweisungsbescheid der Honorarberechnung zugrunde gelegt hat. Hiermit übereinstimmend hat die Terminsvertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, dass sich die Beklagte nicht auf die Bestandskraft des ein niedrigeres RLV beinhaltenden Zuweisungsbescheids berufen werde.
B. Soweit das Sozialgericht der Klage stattgegeben hat, ist dies nicht zu beanstanden. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig. Der Kläger kann eine erneute Bescheidung seines Antrags auf Zuweisung eines höheren RLV unter Berücksichtigung möglicher Praxisbesonderheiten verlangen.
I. Gemäß § 153 Abs. 2 SGG verweist der Senat auf die zutreffenden und überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts, soweit sie
- die Rechtsgrundlagen,
- die Erforderlichkeit gesamtvertraglicher Vereinbarungen zur Anerkennung von Praxisbesonderheiten,
- die „für die Versorgung bedeutsame fachliche Spezialisierung“ i.S.v. Teil F Ziffer 3.6 des Beschlusses des EBewA vom 27./28. August 2008,
- die uneingeschränkte gerichtliche Prüfungskompetenz im Hinblick auf Praxisbesonderheiten,
- die Mitwirkungsobliegenheiten des Vertragsarztes bei der Geltendmachung von Praxisbesonderheiten,
- die Ungeeignetheit des von der Beklagten vorgenommenen Fallzahlvergleichs zwischen den Quartalen III/02 bis II/03 und I/08,
- die Berechnung der dem Fallwertvergleich zugrunde zu legenden Fallwerte,
- der Zeitpunkt, zu dem über Praxisbesonderheiten zu befinden ist (nämlich im Zusammenhang mit dem RLV-Zuweisungsbescheid) sowie
- den Beurteilungsspielraum der Beklagten bei der Bestimmung der sich aus festgestellten Praxisbesonderheiten resultierenden Fallwerterhöhung
betreffen.
II. Das Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren überzeugt nicht. Da die Beklagte im Wesentlichen auf ihr Vorbringen im Klageverfahren verweist und das Sozialgericht sich überzeugend und nahezu erschöpfend mit diesem Vorbringen auseinandergesetzt hat, erübrigen sich weitere umfangreiche Ausführungen des Senats.
1. Dass die Gesamtvertragsparteien in ihrem wechselseitigen Schriftverkehr ein Einvernehmen über eine Regelung zu Praxisbesonderheiten für das Quartal I/09 hergestellt haben, steht einer Regelung innerhalb des HV nicht gleich und ersetzt eine solche auch nicht. Es steht den Gesamtvertragsparteien nicht frei, Elemente der Honorarverteilung außerhalb des HV und ohne Publizierung zu vereinbaren. Denn es ist weder nach dem Vorbringen der Beklagten noch anderweitig ersichtlich, dass diese einvernehmlichen Regelungen – wie für Normen jeglicher Art unerlässlich (BSG, Urteil vom 17. September 1997 – 6 RKa 36/97 –, juris) – überhaupt veröffentlicht wurden. Nach § 13 ihrer Satzung erfolgen Bekanntmachungen der Beklagten im „Mitteilungsblatt der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin“, durch Rundschreiben oder – bei entsprechendem Hinweis im Mitteilungsblatt – auf ihrer Internetseite. Ohne Veröffentlichung kommt den normativ wirkenden Regelungen zu Praxisbesonderheiten im Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Beklagter keine Verbindlichkeit zu.
2. Ein Anspruch des Klägers auf Neubescheidung wäre nur dann zu verneinen, wenn es einer Änderung des HV mit dem Ziel, ihn um Regelungen zu Praxisbesonderheiten zu ergänzen, deshalb nicht bedürfte, weil die Anerkennung von Praxisbesonderheiten unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ausgeschlossen wäre. Dies ist nicht der Fall.
Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass ohne gesamtvertragliche Regelungen zur Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten nicht davon ausgegangen werden kann, dass nur eine Spezialisierung, die sich in einem Anteil von mindestens 20 % des (angeforderten) Gesamtpunktzahlvolumens niederschlägt, eine Praxisbesonderheit begründen kann. Allerdings wurde dieser Grenzwert in der Rechtsprechung des BSG immer wieder aufgegriffen: So hat es zunächst diesen Wert herangezogen, um einen Versorgungsschwerpunkt zu kennzeichnen, der eine Ausnahme von der 1996/97 geltenden Teilbudgetierung erlaubt (BSG, Urteil vom 6. September 2000 – B 6 KA 40/99 R –, juris), in der Folgezeit aber auch verdeutlicht, dass dieser Grenzwert nicht unbesehen auf jede andere Form der Schwerpunktsetzung oder Spezialisierung übertragen werden darf (für Zusatzbudgets: BSG, Urteil vom 16. Mai 2001 – B 6 KA 53/00 R –, juris, Rd. 26). In jüngerer Zeit hat es einerseits im Zusammenhang mit Praxisbesonderheiten eine Überschreitung des Durchschnitts bzw. einen Anteil der Spezialleistungen am Gesamtpunktzahlvolumen von mindestens 20 % als überdurchschnittlich angesehen (BSG, Urteil vom 29. Juni 2011 – B 6 KA 17/10 R –, juris), andererseits aber auch einen Anteil von 15 % des Gesamtleistungsbedarfs nicht beanstandet (BSG, Beschluss vom 28. August 2013 – B 6 KA 24/13 B –, juris). Der Senat teilt daher die Rechtsauffassung des Sozialgerichts, dass die Beklagte im Rahmen ihrer Gestaltungsfreiheit einen anderen Grenzwert festsetzen oder einen grundsätzlich anderen Maßstab zur Quantifizierung von Praxisbesonderheiten heranziehen darf.
III. Vorsorglich weist der Senat indes auch darauf hin, dass am Ende der von der Beklagten durchzuführenden Prüfung auf Praxisbesonderheiten nicht zwangsläufig eine Erhöhung des klägerischen RLV für das Quartal I/09 stehen muss. Denn das Sozialgericht und der Senat beanstanden nahezu ausschließlich methodische Fehler der Beklagten im Rahmen der bisherigen Prüfung. Ein methodisch korrektes Vorgehen muss nicht automatisch ein anderes, dem Kläger günstigeres Ergebnis zur Folge haben.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht ersichtlich sind.