Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 4. Senat | Entscheidungsdatum | 12.11.2019 | |
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Aktenzeichen | OVG 4 S 51.19 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2019:1112.OVG4S51.19.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 20 Abs 3 Nr 2 JAO, § 11 Abs 1 JAG, § 105 Abs 1 JGG, § 123 Abs 1 S 2 VwGO, § 20 Abs 2 Nr 2 JAO |
1. Die Versagung der Aufnahme in den juristischen Vorbereitungsdienst wegen einer höheren "Freiheitsstrafe" (§ 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO Berlin) lässt sich nicht auf eine Jugendstrafe stützen.
2. Die Behörde kann mittels einer einstweiligen Anordnung zur Neubescheidung verpflichtet werden.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Juli 2019 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antrag des Antragstellers auf Einstellung in den juristischen Vorbereitungsdienst unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge je zur Hälfte.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf über 7.000 bis 8.000 Euro festgesetzt.
Die zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet.
1. Das Oberverwaltungsgericht prüft gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zunächst nur die vom Antragsteller fristwahrend dargelegten Gründe der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts. Der Antragsteller wendet gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts unter anderem ein, es habe wie zuvor der Antragsgegner verkannt, dass die gegen ihn verhängte Jugendstrafe von vier Jahren keine Freiheitsstrafe im Sinn des § 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO sei. Das trifft zu. § 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO ermöglicht die Versagung der Aufnahme eines Bewerbers in den Vorbereitungsdienst nur dann, wenn er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Jugendstrafe ist nicht Freiheitsstrafe.
Der juristische Vorbereitungsdienst erfolgt in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis außerhalb des Beamtenverhältnisses (§ 10 Abs. 1 Satz 2 JAG), das Ähnlichkeiten mit dem Status von Beamtinnen und Beamten auf Widerruf aufweist und zum Teil unter Anwendung der für diese geltenden Vorschriften durchgeführt wird (vgl. § 10 Abs. 3 JAG). Das Beamtenrecht enthält Regelungen für den Fall, dass Beamtinnen oder Beamte Straftaten begehen. Werden sie wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt, endet ihr Beamtenverhältnis mit der Rechtskraft des Urteils (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG). Dieselbe Regelung galt nach § 83 Satz 1 Nr. 1 LBG in der Fassung vom 19. Mai 2003. Sie war den Ländern bereits durch § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Beamtenrechtsrahmengesetzes in der Fassung vom 22. Oktober 1965 zur Regelung aufgetragen und findet sich seit Langem auch im Bundesbeamtengesetz (siehe dort § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1). Nach einhelliger Auffassung schließen diese Regelungen verhängte Jugendstrafen nicht ein (Plog/Wiedow/Beck, BBG Band 1, BeamtStG § 24 [Stand: Februar 2013] Rn. 3; Tegethoff, in: Kugele, BeamtStG, 2011, § 24 Rn. 7; Zängl, in: Fürst, GKÖD, Beamtenrecht, BBG 2009, § 41 [Stand: 3/10] Rn. 15).
Nach dem Wortlaut liegt es fern, dass „Freiheitsstrafe“ in § 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO jede Verwahrungsstrafe unter Einschluss der Jugendstrafe meint. Die Unterscheidung beider Begriffe war am 4. August 2003, als der Verordnungsgeber die Berliner Juristenausbildungsordnung mitsamt der seither unverändert gebliebenen Regelung in § 20 erließ, gut eingeführt und kurz zuvor im Referenzgebiet des Beamtenrechts durch die Neufassung des Landesbeamtengesetzes aktualisiert worden. Auch auf dem Gebiet des Strafrechts wird die Jugendstrafe als gegenüber der Freiheitsstrafe eigenständig verstanden (Eisenberg, JGG, 20. Auflage 2018, Rn. 4) und wurde zumindest für eine geraume Zeit zudem als wesensmäßig verschieden angesehen (siehe die Nachweise der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in dessen Urteil vom 12. Oktober 1989 – 4 StR 445/89 – juris Rn. 7 mit angedeuteter Distanzierung in Rn. 8).
Aus § 20 Abs. 2 Nr. 2 JAO lässt sich bei systematischer Betrachtung nicht darauf schließen, dass in der Berliner Juristenausbildungsordnung Jugendstrafen generell den Freiheitsstrafen gleichgestellt sein sollen. Es liegt zwar nahe, dass eine Bewerberin oder ein Bewerber, gegen die bzw. den eine Jugendstrafe noch vollzogen wird, nicht gleichzeitig in den juristischen Vorbereitungsdienst aufgenommen sein kann. Die noch vollzogene Jugendstrafe lässt sich jedoch unschwer als (sonstige) „freiheitsentziehende Maßnahme“ gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 2 JAO fassen.
Auch nach Sinn und Zweck der Regelungen über die Versagung der Aufnahme in den juristischen Vorbereitungsdienst schließt die Freiheitsstrafe die Jugendstrafe nicht ohne ausdrückliche Bestimmung durch den Normgeber ein. Wird wie hier das Jugendstrafrecht auf jemanden angewandt, der bei Tatbegehung Heranwachsender war, muss der Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichgestanden haben (so § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG, dessen Anwendung vom Strafgericht gegenüber dem Antragsteller nicht ausgeschlossen werden konnte) oder in der Tat eine Jugendverfehlung erkannt werden (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG). Die darin zum Ausdruck kommende Rücksichtnahme des Gesetzgebers auf eine etwaige entwicklungsbedingte Unreife von Heranwachsenden endet mit Vollendung des 21. Lebensjahres. Werden Lebensältere, aber auch Heranwachsende zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, beruht das auf der gesetzlichen Annahme einer im Wesentlichen ausentwickelten Persönlichkeit. Insoweit lösen gravierende Straftaten im Hinblick auf § 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO größere Bedenken aus als die Straftaten, die noch in juveniler Unreife begangen wurden.
Die vom Antragsgegner betonte Gleichwertigkeit von Jugendstrafe und Gefängnisstrafe (Freiheitsstrafe) hinsichtlich des Vollzugs (so schon der BGH, Urteil vom 7. Mai 1980 – 2 StR 10/80 – juris Rn. 10 und 12) ist für die Bestimmung von Sinn und Zweck des § 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO unergiebig, da diese Ermessensvorschrift erst eingreift, sobald die Strafe nicht mehr vollzogen wird. Wird eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme noch vollzogen, ist die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 2 JAO zwingend zu versagen.
2. Erweisen sich die mit der Beschwerde dargelegten Gründe als berechtigt, setzt eine Stattgabe durch das Oberverwaltungsgericht voraus, dass sich die angefochtene Entscheidung nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 3. August 2015 – OVG 5 S 36.14 – juris Rn. 11 und vom 20. Juni 2017 – OVG 4 S 17.17 – juris Rn. 3 f. m.w.N.). Das ist aus der Formulierung des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu schließen, wonach die Gründe darzulegen sind, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben „ist“.
a. Danach hat das Verwaltungsgericht zu Recht den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit welcher der Antragsgegner verpflichtet worden wäre, den Antragsteller zum Einstellungstermin August 2019 (Hauptantrag) oder zum nächstmöglichen Einstellungstermin danach (Hilfsantrag) in den juristischen Vorbereitungsdienst aufzunehmen. Für eine derart weitgehende einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO fehlt dem Antragsteller ein Anspruch. Denn die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst steht gemäß § 11 Abs. 1 JAG unter dem Vorbehalt der zum jeweiligen Einstellungstermin zur Verfügung stehenden Stellen und der Ausbildungskapazität. Der Antragsteller trägt selbst vor, dass nach einer Bewerbung im Land Berlin mit einer langen Wartezeit zu rechnen sei (siehe dazu den Senatsbeschluss vom 7. März 2019 – OVG 4 S 4.19 – juris). Er hat nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass er unter Außerachtlassung der Wartezeit (§ 11 Abs. 5 JAG) zum nächstmöglichen Termin einzustellen sei oder dass er bei Zugrundelegung einer Rangstelle mit dem Eingangsdatum 2. Juli 2018 bereits hätte eingestellt werden müssen. Letzteres ist dem Senat auch nicht anderweit bekannt geworden. Für ein Recht des Antragstellers auf bevorzugte Einstellung gegenüber anderen Bewerberinnen und Bewerbern ist nichts ersichtlich.
Würde der Senat bei einer nicht absolvierten Wartezeit den Antragsgegner mit einer einstweiligen Anordnung zur Aufnahme des Antragstellers in den Vorbereitungsdienst verpflichten, ginge der Beschluss über das hinaus, was der Antragsteller in der Hauptsache erreichen könnte. Das wäre wegen der dadurch übergangenen, vorrangig zu berücksichtigenden Mitbewerberinnen und Mitbewerber nicht rechtens. Der Senat setzt sich damit nicht in Widerspruch zu seinem Beschluss vom 29. September 2017 – OVG 4 S 32.17 – (juris Rn. 13). Denn in jenem Fall hatte der Bewerber nach Aktenlage einen an sich einstellungsrelevanten Rangplatz erreicht und war nur wegen eines vom Gericht beanstandeten besonderen Umstands von der Behörde im Verwaltungsverfahren ausgeschlossen worden.
b. Der Antragsteller hat allerdings einen nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO durchsetzbaren Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung mit einem entsprechenden Tenor ist möglich (Senatsbeschluss vom 29. September 2017, a.a.O.; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 219; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser u.a., VwGO, 7. Auflage 2018, § 123 Rn. 61; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 123 Rn. 107; offen gelassen vom Bundesverwaltungsgericht im Beschluss vom 1. November 2007 – 4 VR 3001.07 – juris Rn. 12). Müsste der Antragsteller den rechtskräftigen Ausgang seiner Klage gegen den versagenden Bescheid des Präsidenten des Kammergerichts vom 17. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamtes der Länder Berlin und Brandenburg vom 12. Dezember 2018 abwarten, drohte ihm auf geraume Zeit eine Vereitelung seines Rechts auf fehlerfreie Berücksichtigung im Auswahlverfahren gemäß § 11 JAG. Die für den Antragsgegner tragende Begründung der „vorläufigen Zurückweisung“ beruht auf der – wie gezeigt – haltlosen Anwendung von § 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO. Der Antragsgegner wird im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes den Antrag des Antragstellers auf Aufnahme in den juristischen Vorbereitungsdienst zu bescheiden zu haben, ohne ihm die durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 18. Juli 2017 verhängte Jugendstrafe von vier Jahren gemäß § 20 Abs. 3 Nr. 2 JAO entgegenzuhalten.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 (angelehnt an Abs. 6 Satz 1 Nr. 2) GKG. Der Senat legt den Halbjahresbetrag des aktuellen Grundbetrages der Unterhaltsbeihilfe zugrunde. Bezügebestandteile, die vom Familienstand oder von Unterhaltsverpflichtungen abhängig sind, bleiben außer Betracht (§ 52 Abs. 6 Satz 3 GKG). Wegen der angestrebten Vorwegnahme der Hauptsache wird der Streitwert im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht halbiert.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).