Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat | Entscheidungsdatum | 13.11.2013 | |
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Aktenzeichen | L 9 KR 254/13 B ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 240 Abs 4 SGB 5, § 44 SGB 10 |
Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gebietet es, vorläufigen Rechtsschutz gegen die Vollstreckung eines bestandskräftigen Bescheides zuzulassen, um verhindern zu können, dass er vollzogen wird, obwohl schon im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eindeutig zu erkennen ist, dass der belastende Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und deshalb dem betroffenen Versicherten im Hauptsacheverfahren ein Aufhebungsanspruch zusteht.
Ein Fall, in dem die Rechtswidrigkeit eines Beitragsbescheides evident ist, ist nur dann gegeben, wenn der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch auf Einstellung der Vollstreckung völlig unzweifelhaft besteht (Fallkonstellation 1) oder die Interessenlage zu Gunsten der Antragstellerin so eindeutig ist, dass eine Fortsetzung der Vollstreckung nicht in Betracht kommen darf (Fallkonstellation 2).
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juli 2013 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juli 2013 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss – im Ergebnis zu Recht – den Antrag der Antragstellerin zurückgewiesen, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, bis zur (bestandskräftigen) Entscheidung über ihren Antrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X), der auf die Aufhebung des Beitragsbescheides vom 14. Juni 2012 gerichtet ist, diesen Bescheid zu vollstrecken.
1.) Bezogen auf das Begehren der Antragstellerin, die Antragsgegnerin vorläufig zur Unterlassung von Vollstreckungsmaßnahmen aus dem genannten Beitragsbescheid bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den von ihr gestellten Überprüfungsantrag zu verpflichten, erweist sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG zunächst als zulässig. Ungeachtet der Frage des richtigen Prüfungsstandorts (Rechtsschutzbedürfnis oder Anordnungsanspruch) steht der Zulässigkeit des Antrags insbesondere nicht entgegen, dass der Beitragsbescheid des Antragsgegners vom 14. Juni 2012, mit dem die Antragsgegnerin für die Zeit vom 01. November 2010 bis zum 29. Februar 2012 rückständige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung i.H.v. 5.522,80 € verlangt, bestandskräftig geworden ist (in diesem Sinne auch LSG Berlin-Brandenburg, 25. Senat, Beschluss vom 12. Februar 2009, L 25 AS 70/09 B ER). Auch wenn damit derzeit zwischen den Beteiligten nach § 77 SGG bindend feststeht, dass die Antragstellerin zur Zahlung der von der Antragsgegnerin geforderten Beiträge verpflichtet ist, bedeutet dies jedoch nicht, dass der Antragstellerin kein der vorläufigen Regelung fähiges Recht zur Seite stünde, eine Vollstreckung des bindenden Bescheides vorläufig zu unterbinden. Denn es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragstellerin bereits am 26. Juli 2012 bei der Antragsgegnerin beantragt hat, die Bestandskraft des Bescheides vom 14. Juni 2012 zu durchbrechen und die streitige Beitragsfestsetzung aufzuheben. Der diesen Antrag ablehnende Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Februar 2013, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2013, ist noch nicht bestandskräftig geworden, weil die Antragstellerin dagegen Klage (S 81 KR 1081/13) erhoben hat, über die noch nicht entschieden worden ist. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gebietet es, in Fällen wie dem vorliegenden, vorläufigen Rechtsschutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen eines bestandskräftigen Bescheides zuzulassen, um verhindern zu können, dass ein Beitragsbescheid von der Krankenkasse mit möglicherweise erheblichen, irreversiblen Folgen für den Versicherten vollzogen wird, obwohl schon im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eindeutig zu erkennen ist, dass der belastende Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist und deshalb dem betroffenen Versicherten im Hauptsacheverfahren ein Aufhebungsanspruch zusteht. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes darf allerdings nicht so weit gehen, dass dadurch die Bestandskraft des Beitragsbescheides beseitigt würde; er ist deshalb – wie hier geschehen – auf die vorläufige Einstellung der Vollstreckung zu richten, um die Hauptsache nicht vorwegzunehmen.
2.) Aus den vorstehenden Erwägungen wird bereits deutlich, dass ein Anordnungsanspruch auf Einstellung der Vollstreckung nur dann vorliegen kann, wenn sich der Beitragsbescheid als ganz offensichtlich rechtswidrig erweist, um der Tatsache der Bestandskraft des schon nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Beitragsbescheides nicht jede Bedeutung zu nehmen. Ein Fall, in dem die Rechtswidrigkeit eines Beitragsbescheides in diesem Sinne evident ist, weil sie schon im vorläufigen Rechtsschutzverfahren so eindeutig auf der Hand liegt, dass eine Fortsetzung der Vollstreckung für den Betroffenen sich als klares Unrecht erwiese, ist nur dann gegeben, wenn der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch auf Einstellung der Vollstreckung völlig unzweifelhaft besteht (Fallkonstellation 1) oder die Interessenlage zu Gunsten der Antragstellerin so eindeutig ist, dass eine Fortsetzung der Vollstreckung nicht in Betracht kommen darf (Fallkonstellation 2). Die Fallkonstellation 1 ist nur dann gegeben, wenn sich der von der Antragstellerin zur Begründung ihres Begehrens geltend gemachte Anspruch auf Einstellung der Vollstreckung sowohl in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht ohne aufwändige Prüfung feststellen lässt. Dies setzt auf der Tatsachenebene voraus, dass sämtliche tatsächlichen Voraussetzungen des Anspruchs zwischen den Beteiligten unstreitig sind oder sich aus dem Vortrag der Beteiligten oder den Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin ohne weiteres feststellen lassen, so dass an ihrem Vorliegen kein vernünftiger Zweifel bestehen kann. In rechtlicher Hinsicht ist zu verlangen, dass die entscheidungserheblichen Rechtsfragen geklärt sind oder die Einwände der Antragsgegnerin nach der bisherigen Rechtsprechung so wenig Substanz haben, dass sie ohne weiteres widerlegt werden können. Die Fallkonstellation 2 ist nur dann gegeben, wenn die Interessenlage jede andere Entscheidung als die zugunsten der Antragstellerin als sachwidrig und damit willkürlich erscheinen ließe. Denn nur bei Vorliegen so gearteter Fallkonstellationen erscheint eine Berufung auf die Bestandskraft des Beitragsbescheides als bloße Förmelei und würde den verfahrensrechtlichen Wirkungen der Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG widersprechen (vgl. zu den hier entwickelten Voraussetzungen bereits LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Oktober 2013, L 7 KA 77/13 B ER).
3.) Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Denn die entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind jedenfalls nicht im Sinne der Antragstellerin geklärt. Die Antragstellerin war im entscheidungserheblichen Zeitraum vom 01. November 2010 bis zum 29. Februar 2012 hauptberuflich selbständig erwerbstätig und im Hinblick darauf bei der Antragsgegnerin freiwillig versichert. Ihr Krankenversicherungsbeitrag war zumindest für die Zeit ab 01. Juli 2010 aufgrund des Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. Juli 2010 endgültig festgesetzt. Es spricht derzeit alles dafür, dass die angefochtene Beitragsfestsetzung nicht zu beanstanden ist, durch die die Antragsgegnerin die Beiträge auf der Grundlage des dreißigsten Teils der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze festgesetzt hat. Denn nach § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB V gilt für freiwillige Mitglieder, die hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind, als beitragspflichtige Einnahme für den Kalendertag der dreißigste Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze (§ 223 SGB V), nur bei Nachweis niedrigerer Einnahmen mindestens der vierzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße. Diesen Nachweis hat die Antragstellerin nach der derzeit maßgeblichen höchstrichterlichen Rechtsprechung erst durch die Vorlage des maßgeblichen Einkommensteuerbescheides für das Kalenderjahr 2009 am 02. August 2012 erbracht; denn erst zu diesem Zeitpunkt lag der Antragsgegnerin dieser Einkommensteuerbescheid vor. Nach § 240 Abs. 4 Satz 6 SGB V können Veränderungen der Beitragsbemessung auf Grund eines vom Versicherten geführten Nachweises nach Satz 2 nur zum ersten Tag des auf die Vorlage dieses Nachweises folgenden Monats wirksam werden. Auf die bereits am 09. März 2012 bei der Antragsgegnerin eingegangene Auskunft des Finanzamtes Spandau von Berlin, die zu einer Beitragsfestsetzung auf der Grundlage des vierzigsten Teils der monatlichen Bezugsgröße berechtigt hätte, kommt es nach der Rechtsprechung des 12. Senats des BSG nicht an. Mit seinem Urteil vom 02. September 2009, B 12 KR 21/08 R (zitiert nach juris), hat das BSG entschieden, dass bei hauptberuflich selbstständig erwerbstätigen freiwilligen Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse eine Anpassung der Beitragshöhe an ein niedrigeres Einkommen erst und nur zum Beginn des auf die Vorlage des letzten (maßgeblichen) Einkommensteuerbescheids (hier des Jahres 2009) folgenden Monats vorgenommen werden darf. Neue für die Beitragsbemessung bei freiwillig versicherten selbstständig Erwerbstätigen relevante Daten lägen erst vor, wenn diese einen neuen Einkommensteuerbescheid vorlegten. Nur derartige Unterlagen kämen als "Nachweis" i.S. von § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V in Betracht. Erst mit dem Beginn des auf den Zeitpunkt der Vorlage folgenden Kalendermonats könnten nach der zwingenden gesetzlichen Regelung in § 240 Abs 4 Satz 6 SGB V Veränderungen der Beitragsbemessung aufgrund eines vom Versicherten geführten Nachweises niedrigerer Einnahmen nach Satz 2 wirksam und der Beitragsbemessung zugrunde gelegt werden. Zwar ist das BSG in der zitierten Entscheidung davon ausgegangen, dass die Krankenkassen wegen des Steuergeheimnisses (§ 30 der Abgabenordnung) ohne ausdrückliche Zustimmung der Versicherten keine Informationen über deren Einnahmen von den Finanzämtern erhalten würden. Hier hat das zuständige Finanzamt der Antragsgegnerin auf ihr Amtshilfesuchen die erbetene Auskunft über den Zeitpunkt der Erstellung der Steuerbescheide für 2009 sowie die Summe der im Jahre 2009 bezogenen Einkünfte zutreffend erteilt und die vom BSG aufgestellte Vermutung widerlegt. Ob dies die Antragsgegnerin dazu zwingt, die Auskunft des Finanzamtes statt des Einkommensteuerbescheides der Beitragsbemessung zugrunde zu legen, ist jedoch erst im Hauptsacheverfahren zu klären; in diesem sollte die Sache dem BSG vorgelegt werden, damit dieses klären kann, ob es an seiner sehr rigiden Rechtsauffassung, dass nur der Einkommensteuerbescheid als Nachweis im Sinne des § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB V gelte, festhalten will. Selbst wenn man hiervon im vorliegenden Fall gegen die Rechtsprechung des BSG abweichen wollte, wäre die Rechtslage aber keineswegs zugunsten der Antragstellerin geklärt, so dass der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch auf Einstellung der Vollstreckung gerade nicht völlig unzweifelhaft besteht. Die Interessenlage lässt auch nicht jede andere Entscheidung als die zugunsten der Antragstellerin als sachwidrig und damit willkürlich erscheinen. Die Beitragsfestsetzung der Krankenkassen bei freiwillig versicherten hauptberuflich selbständigen Mitgliedern würde erheblich erschwert, wenn die Krankenkassen sich nicht mehr darauf verlassen dürften, nur Einkommensteuerbescheide der Beitragbemessung zugrunde zu legen. Insbesondere dann, wenn die Krankenkassen - wie hier die Antragsgegnerin - Versicherte mehrfach und unter Hinweis auf die Rechtsfolgen, die eine Nichtvorlage des Steuerbescheides nach sich zögen, vergeblich zur Vorlage eines bereits vorliegenden Einkommensteuerbescheides aufgefordert haben, kann die Beitragsfestsetzung ohne bzw. mit Berücksichtigung des maßgeblichen Steuerbescheides erst zu dem in § 240 Abs. 4 Satz 6 SGB V angegebenen Zeitpunkt nicht als sachwidrig und willkürlich angesehen werden. Denn der von der Antragstellerin geforderte Nachzahlungsbetrag von 5.522,80 € ist auch nicht so hoch, dass sie diesen nicht jedenfalls in Raten abzahlen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).