Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat | Entscheidungsdatum | 29.12.2010 | |
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Aktenzeichen | OVG 2 S 76.10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 80 Abs 5 VwGO, § 123 VwGO, § 48 AufenthG, § 50 Abs 6 AufenthG, § 51 Abs 1 Nr 6 AufenthG, GKG |
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 3. September 2010 wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. Juli 2010 wird angeordnet.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen die Antragstellerin zu 2/3 und der Antragsgegner zu 1/3.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird für die erste Rechtsstufe auf 7.500 EUR und für die zweite Rechtsstufe auf 5.000 EUR festgesetzt.
Die Beschwerde ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt eine teilweise Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses.
1. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung der Klage VG 10 K 258.10 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 5. Juli 2010 anzuordnen, zu Unrecht mangels Rechtsschutzbedürfnisses abgelehnt. Nach summarischer Prüfung dürfte die Antragstellerin über eine sicherungsfähige Rechtsposition verfügen, weil sie erst durch den o.a. Bescheid, mit dem die rechtzeitig beantragte Verlängerung der ihr letztmalig am 4. Dezember 2006 bis zum 3. Dezember 2009 ehebedingt erteilten Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist, vollziehbar ausreisepflichtig sein dürfte. Es spricht Überwiegendes dafür, dass die Aufenthaltserlaubnis der Antragstellerin nicht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen ist. Gemessen an den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu stellenden Anforderungen hat die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die einzelnen aus verschiedenen Anlässen unternommenen, mehrwöchigen Auslandsreisen der Antragstellerin jeweils keine Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG darstellen dürften. Dies gilt mit Blick auf die maßgeblichen Gesamtumstände des vorliegenden Falles (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 6/08 -, BVerwGE 134, 27) - wie sie sich aus dem Beschwerdevorbringen ergeben - auch für die Reisen der Antragstellerin in ihr Heimatland. Es wird Aufgabe des Hauptsacheverfahrens sein, die Einzelheiten näher aufzuklären. Eine pauschale Addition von Aufenthaltszeiten außerhalb des Bundesgebietes in einem vom Antragsgegner bestimmten Zeitraum entspricht nicht der gebotenen Subsumtion unter die Tatbestandsvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG unter Berücksichtigung der hierfür von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien. Die Erfolgsaussichten der Klage stellen sich bei summarischer Prüfung dennoch als offen dar, weil der Antragsgegner darüber hinaus nicht geprüft hat, ob die Voraussetzungen für die begehrte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vorliegen. Mangels bisher nicht ermittelter, belastbarer Tatsachen ist eine solche Prüfung auf der Grundlage des Akteninhalts nicht möglich, eine dahin gehende Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts sprengt den Rahmen des hiesigen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens.
Angesichts der offenen Erfolgsaussichten der Klage orientiert sich die Entscheidung maßgeblich an der nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Abwägung der auf beiden Seiten betroffenen Interessen. Dabei sind die Folgen, die eintreten, wenn die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes versagt würde, das Verfahren in der Hauptsache hingegen Erfolg hätte, den Auswirkungen gegenüberzustellen, die entstünden, wenn die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt bzw. angeordnet würde, der Rechtsbehelf in der Hauptsache aber keinen Erfolg hätte. Diese Folgenabwägung geht zu Gunsten der Antragstellerin aus. Ihr Interesse an einem vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet wiegt schwerer als das öffentliche Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung, da mit dem angefochtenen Bescheid in ihr seit mehreren Jahren bestehendes Aufenthaltsrecht eingegriffen wird und dieser auf einer nicht hinreichend belastbaren Tatsachengrundlage beruht. Hinzu kommt, dass mit einer Aufenthaltsbeendigung eine Trennung der Antragstellerin von ihren im Bundesgebiet lebenden erwachsenen Töchtern und ihrem Enkelsohn auf ungewisse Zeit einhergeht.
2. Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde hingegen, soweit die Antragstellerin mit ihr begehrt, den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihren ukrainischen Pass herauszugeben. Zutreffend sieht das Verwaltungsgericht § 50 Abs. 6 AufenthG als einschlägige Rechtsgrundlage für die Verwahrung des Passes an, da § 48 Abs. 1 AufenthG die ausweisrechtlichen Pflichten eines Ausländers regelt. Nach der gesetzlichen Regelung des § 50 Abs. 6 AufenthG ist ein sogenanntes intendiertes Ermessen vorgesehen („soll"), d.h. die Ausländerbehörde muss den Pass in der Regel in Verwahrung nehmen und kann bzw. muss nur in Ausnahmefällen dem Ausländer den Pass überlassen (vgl. OVG Mecklenb.-Vorpommern, Beschluss vom 16. Juni 2010 - 2 M 101/10 -, juris; Bay. VGH, Beschluss vom 29. September 2010 - 10 C 10.2413 -, juris). Einzige Voraussetzung der Inverwahrnahme ist das Bestehen der Ausreisepflicht; auf deren Vollziehbarkeit kommt es entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht an (vgl. OVG Mecklenb.-Vorpommern, a.a.O.). Dass in ihrem Fall die Annahme eines Ausnahmefalles rechtfertigende Umstände gegeben seien, legt sie nicht dar. Ebenso wenig ist die von der Antragstellerin geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der §§ 50 Abs. 6, 84 Abs. 2 AufenthG und ihre damit verbundene Forderung nach einer Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in einer den Anforderungen an eine Beschwerdebegründung genügenden Weise dargetan.
Soweit die Antragstellerin mit ihrem Beschwerdeantrag zu 5. (Ausstellung eines Passersatzes) ihren erstinstanzlich gestellten Antrag zu 4. aufrechterhält, genügt sie bereits nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO, da sie sich nicht zu den vom Verwaltungsgericht für die Ablehnung angeführten Erwägungen verhält. Über den Beschwerdeantrag zu 6. (Ausstellung einer Duldungsbescheinigung) war nicht zu entscheiden, da er einen unselbständigen Annex zu dem unter 3. gestellten Hilfsantrag (vorübergehende Aussetzung der Abschiebung) darstellt, der wegen der Stattgabe des Hauptantrags ebenso keiner Entscheidung bedurfte wie der Hilfsantrag zu 2. (Feststellung, dass die Aufenthaltserlaubnis nicht erloschen ist).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die aus dem Tenor ersichtliche verhältnismäßige Teilung der Kosten war geboten, da die Antragstellerin lediglich mit ihrem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage obsiegt, mit ihren Anträgen auf Herausgabe ihres ukrainischen Passes und Erteilung einer Duldung, denen jeweils aus den im Rahmen der Streitwertbemessung darzustellenden Gründen selbständige Bedeutung zukommt, jedoch unterliegt.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 1 Satz 2, 47 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 1 und 2, 52 Abs. 2, 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Das Verwaltungsgericht hat den Verfahrenswert für die von der Antragstellerin erstinstanzlich teils unbedingt, teils hilfsweise gestellten 5 Anträge zu Unrecht auf 2.500 Euro festgesetzt. Bei der Festsetzung des Streitwerts in ausländerrechtlichen Streitigkeiten orientiert sich der Senat an den Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Fassung 7/2004, NVwZ 2004, 1327). Die auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels und die Erteilung eines Passes/Passersatzes gerichteten Anträge sind jeweils mit dem Auffangwert in Höhe von 5.000 Euro (§ 52 Abs. 2 GKG, vgl. Ziffer 8.1 und 8.4 des Streitwertkatalogs) zu bemessen. Das Gleiche gilt nach ständiger Rechtsprechung des Senats für ein auf die Erteilung einer Duldung gerichtetes Verfahren.
Zwar hat die Antragstellerin ihren auf Duldung gerichteten Antrag (Antrag zu 2.) lediglich hilfsweise gestellt, ein hilfsweise geltend gemachter Anspruch ist jedoch mit dem Hauptanspruch zusammenzurechnen, wenn - wie erstinstanzlich geschehen - eine Entscheidung über ihn ergeht und die Ansprüche nicht denselben Gegenstand betreffen (§ 45 Abs. 1 Sätze 2 und 3 GKG). Letzteres ist hier der Fall, da die Feststellung von Abschiebungshindernissen einem anderen Prüfprogramm unterliegt als der geltend gemachte Anspruch auf Verlängerung einer zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis (Antrag zu 1.) und beide Ansprüche nicht auf dasselbe Interesse gerichtet sind (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 10. November 2004 - OVG 3 L 41.02 -, m.w.N.).
Darüber hinaus hat die Antragstellerin im Wege der objektiven Antragshäufung eine Mehrheit von Streitgegenständen geltend gemacht, indem sie neben ihrem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (Antrag zu 1.) die Herausgabe ihres Passes (Antrag zu 3.) beantragt hat. Beide Streitgegenstände sind gemäß § 39 Abs. 1 GKG zusammenzurechnen, weil es sich bei § 50 Abs. 6 AufenthG um eine außerhalb des vierten Kapitels des Aufenthaltsgesetzes stehende ordnungsrechtliche Spezialvorschrift zu § 48 AufenthG handelt mit der Folge, dass die Inverwahrnahme des Nationalpasses im Verhältnis zur Verlängerung eines Aufenthaltstitels einen eigenen Streitgegenstand darstellt (vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 29. März 2007 - 24 C 07.164 -, juris). Der für den Fall der Ablehnung des Herausgabeantrags (Antrag zu 3.) hilfsweise gestellte Antrag auf Ausstellung eines Passersatzes (Antrag zu 4.) ist nicht gesondert in Ansatz zu bringen. Zwar hat das Verwaltungsgericht über ihn entschieden, der auf § 48 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 55 AufenthV gestützte Antrag (richtig: auf Ausweisersatz) hat jedoch vorliegend gegenüber dem Begehren auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sowie Herausgabe des eigenen Nationalpasses kein eigenständiges Gewicht und weist inhaltlich/sachlich keine eigenständige Problematik auf (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 8. Juli 2008 - 13 S 994/08 -, juris).
Die beantragte Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG (Antrag zu 5.) wirkt sich nicht streitwerterhöhend aus, da sie als Annex zum Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu betrachten ist. Der sich nach den vorstehenden Ausführungen insgesamt auf 15.000 Euro belaufende Streitwert ist nach ständiger Rechtsprechung für das vorliegende vorläufige Rechtsschutzverfahren zu halbieren und gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG von Amts wegen auf 7.500 Euro zu ändern.
Für das Beschwerdeverfahren bemisst sich der Verfahrenswert auf 5.000 Euro. Dies ergibt sich in Anwendung der für das erstinstanzliche Verfahren dargestellten Grundsätze aus folgenden Erwägungen: Die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (Beschwerdeantrag zu 1.) und auf Herausgabe des ukrainischen Reisepasses (Beschwerdeantrag zu 4.) sind mit jeweils 2.500 Euro anzusetzen. Die hilfsweise gestellten Anträge auf Feststellung, dass die 2006 erteilte Aufenthaltserlaubnis nicht erloschen ist (Beschwerdeantrag zu 2.), sowie auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Beschwerdeantrag zu 3.) bedurften keiner Entscheidung. Der ebenfalls hilfsweise beantragten Ausstellung eines Passersatzes (Beschwerdeantrag zu 5.) kommt – wie bereits ausgeführt wurde – im Verhältnis zum Beschwerdeantrag zu 4. keine eigenständige Bedeutung zu. Das auf die Ausstellung einer Duldungsbescheinigung gerichtete Begehren (Beschwerdeantrag zu 6.) ist als Annex zum Hilfsantrag auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Beschwerdeantrag zu 3.) zu betrachten.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).