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Zulassung der Berufung; ernstliche Zweifel; fehlerhafte Beweiswürdigung; Altersbestimmungsgutachten; fremdsprachige Beweisurkunde; Anordnung der Beibringung einer Übersetzung; ausländische öffentliche Urkunde; Echtheit; materielle Beweiskraft; freie Beweiswürdigung; Einstellung des Legalisationsverfahrens; Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes; Aufdrängen einer Aufklärungsmaßnahme (verneint)


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat Entscheidungsdatum 19.07.2011
Aktenzeichen OVG 2 N 82.09 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 124a Abs 4 S 4 VwGO, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 86 Abs 1 VwGO, § 184 GVG, § 142 Abs 3 ZPO, § 418 Abs 3 ZPO, § 438 ZPO, § 32 AufenthG

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Juli 2009 wird abgelehnt.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt der Kläger mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5000 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der sinngemäß geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor. Derartige Zweifel setzen voraus, dass ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009 – 1 BvR 812/09 -, NJW 2010, 1062, 1063). Das im Zulassungsantrag Dargelegte (vgl. § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO) erfüllt diese Anforderungen nicht.

1. Ohne Erfolg wendet sich der Kläger gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, er habe nicht nachweisen können, dass er im Zeitpunkt der Beantragung des Visums zur Familienzusammenführung zu seinen in Deutschland lebenden Eltern 13 Jahre alt gewesen sei. Die Ausführungen des Klägers im Zulassungsverfahren lassen nicht erkennen, dass die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts fehlerhaft sein könnte. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es darf aber bei seiner Überzeugungsbildung nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht in Erwägung zieht. Soweit eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gerügt wird, liegt der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO folglich nur dann vor, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts augenscheinlich nicht zutreffen oder beispielsweise wegen gedanklicher Lücken oder Ungereimtheiten ernstlich zweifelhaft sind. Allein die Möglichkeit einer anderen Bewertung der Beweisaufnahme rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht (vgl. m.w.N. Beschluss des Senats vom 15. März 2011 – OVG 2 N 75.09 -, BA S. 3). Hieran gemessen hat der Kläger in Bezug auf die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts keine ernstlichen Zweifel dargelegt.

a) Ohne Erfolg rügt er, das Verwaltungsgericht hätte das in englischer Sprache vorliegende Altersbestimmungsgutachten vom 18. März 2007 nicht verwerten dürfen. Daraus, dass die Gerichtssprache deutsch ist (§ 55 VwGO i.V.m. § 184 GVG), folgt nicht, dass das Verwaltungsgericht eine in fremder Sprache abgefasste Beweisurkunde nicht verwerten dürfte, soweit es selbst der Fremdsprache mächtig ist (vgl. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, Band 5 22. Aufl. 2006, vor § 415 Rn. 15). Es liegt vielmehr nach § 173 VwGO i.V.m. § 142 Abs. 3 ZPO im Ermessen des Gerichts, ob es die Beibringung einer Übersetzung anordnen will (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 1996 – 9 B 418.95 -, juris Rn. 6). Hierzu hatte das Verwaltungsgericht auch mit Blick auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO) keinen Anlass, da der anwaltlich vertretene Kläger nicht geltend gemacht hat, den Inhalt des im Verwaltungsvorgang der Beklagten enthaltenen und im angefochtenen Bescheid vom 15. März 2008 erwähnten Altersgutachtens nicht erfassen zu können.

b) Soweit der Kläger die Ausführungen des Verwaltungsgerichts bezüglich seines Lichtbildes für falsch hält, weil ein Lichtbild nichts darüber aussage, wie alt eine Person sei, hat er einen nach oben dargelegten Maßstäben beachtlichen Fehler in der Beweiswürdigung nicht dargetan. Das Verwaltungsgericht hat die von der Beklagten geltend gemachten Zweifel an dem angegebenen Alter des Klägers aufgrund einer Inaugenscheinnahme des Lichtbildes für nachvollziehbar gehalten und ist daher in eine Beweiserhebung betreffend das Alter des Klägers eingetreten. Der Kläger legt nicht dar, weshalb dieses Vorgehen einen zulassungsrechtlich beachtlichen Fehler in der Beweiswürdigung begründen sollte.

c) Mit seinen Angriffen gegen die Würdigung Verwaltungsgerichts, die von ihm mit Schriftsatz vom 7. Mai 2008 vorgelegte Geburtsurkunde stelle ein ungeeignetes Beweismittel dar, dringt der Kläger nicht durch. Insoweit sich der Kläger gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts wendet, dass der Geburtsurkunde schon deshalb keine volle Beweiskraft zukomme, weil die Urkundsperson nicht Zeuge der Geburt des Klägers gewesen sei, und er geltend macht, dass danach jede Geburtsurkunde ohne Beweiswert wäre, setzt er sich nicht mit der vom Verwaltungsgericht angewendeten gesetzlichen Beweisregel des § 418 Abs. 3 ZPO auseinander. Diese Vorschrift betrifft die Reichweite der Beweiskraft öffentlicher Urkunden – auch ausländischer öffentlicher Urkunden i.S.v. § 438 ZPO – und bestimmt, dass bei Urkunden, die nicht den in den §§ 415, 417 ZPO bezeichneten Inhalt haben, grundsätzlich nur dann den vollen (materiellen) Beweis erbringt, wenn die bezeugten Tatsachen von der Behörde oder Urkundsperson selbst wahrgenommen wurden oder wenn eigene Handlungen der Behörde oder Urkundsperson bezeugt werden (vgl. Stein/Jonas/Leipold, a.a.O., § 418 Rn. 5). Wenn sich die materielle Beweiskraft einer Urkunde nicht auf das Beweisthema (hier: Geburtsdatum des Klägers) erstreckt, hat das Gericht in freier Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zu erwägen, ob die Erklärung der Wahrheit entspricht (vgl. Stein/Jonas/Leipold, a.a.O. § 418 Rn. 10 u. 11). In Anwendung dieser Grundsätze ist das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der vom afghanischen Innenministerium ausgestellten und vom afghanischen Außenministerium legalisierten Urkunde kein Beweiswert für die Frage zukomme, wie alt der Kläger ist. Dabei hat es berücksichtigt, dass die Beurkundung erst im Jahr 2008 stattfand und die vorgelegte Originalurkunde nicht in einer der Amtssprachen Afghanistans ausgestellt worden ist. Zudem hat es auf die fehlende Zuverlässigkeit des Urkundswesens in Pakistan und Afghanistan abgestellt, die darauf beruhe, dass die Mitarbeiter der ausstellenden Behörden dieser Länder nicht über eine westlichen Standards entsprechende Ausbildung verfügten und Eintragungen oft nach den Angaben der Antragsteller getätigt würden, weshalb das Legalisationsverfahren für afghanische und pakistanische Urkunden schon vor mehreren Jahren eingestellt worden sei. Gegen diese Beweiswürdigung erhebt der Kläger keine zulassungsrechtlich relevanten Einwände. Der Kläger kritisiert lediglich die durch das Verwaltungsgericht im Rahmen der Beweiswürdigung angestellten Wertungen, ohne etwa einen Verstoß gegen gesetzliche Beweisregeln oder Denkgesetze darzutun. Seine Behauptung, die Auffassung des Gerichts, dass die ausstellenden Behörden westliche Standards nicht erreichten, würde bedeuten, dass Urkunden aus mindesten 90 % aller Staaten keinen Beweiswert hätten, ist zudem durch nichts belegt.

d) Indem der Kläger darauf verweist, dass die Beurkundungen durch A... wie auch die Bestätigung der „Menschenrechtskommission“ und das in der mündlichen Verhandlung überreichte Notenverzeichnis/Abiturzeugnis (Secondary School) vom 15. Juli 2008 durchaus geeignete Beweismittel in Bezug auf sein Geburtsdatum seien, legt er ebenfalls keinen beachtlichen Fehler in der Beweiswürdigung dar. Das Verwaltungsgericht hat die genannten Dokumente bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigt und in Bezug auf die Aussage des Herrn Fattah und das Dokument der „Menschenrechtskommission“ ausgeführt, dass sie nichts zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers aussagten. In dem Notenverzeichnis/Abiturzeugnis vom 15. Juli 2008 sei zwar als Geburtsdatum des Klägers der 1. Januar 1992 angegeben, ein echter Bezug der Urkunde zu diesem Datum könne aber nicht hergestellt werden. Aus den Angaben des vorgelegten Zeugnisses könne nicht geschlossen werden, wie alt er Kläger sein müsste, wenn er wirklich die Prüfungen für die Secondary School im April 2008 durchlaufen haben sollte. Hierzu fehlten weitere Dokumente, die die Schulkarriere des Klägers nachvollziehbar dokumentierten. Soweit der Kläger hiergegen im Zulassungsvorbringen einwendet, dass das Fehlen weiterer Schuldokumente auf die Kriegswirren in Afghanistan zurückzuführen sei, so ist dieser Einwand bereits unschlüssig, weil die Schullaufbahn des Klägers nach den Angaben seiner Mutter in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erst nach der Flucht aus Afghanistan im Jahr 2000 in Pakistan begonnen hat.

e) Ohne Erfolg wendet sich der Kläger gegen die Würdigung des Gerichts, der am 7. März 2005 in Kabul (Afghanistan) ausgestellte Reisepass der Mutter des Klägers, in dem der Kläger als deren Sohn mit dem Geburtsdatum „1992“ eingetragen ist, sei aufgrund der Unzulänglichkeiten des afghanischen Urkundswesens ebenfalls ungeeignet, das behauptete Geburtsdatum zu beweisen. Insoweit der Kläger darauf verweist, es handele sich um einen echten Reisepass, mit dem nachgewiesen sei, dass er 1992 geboren sei, übersieht er, dass das Verwaltungsgericht auch bei Vorliegen einer echten (ausländischen) öffentlichen Urkunde, die dem Anwendungsbereich des § 418 Abs. 3 ZPO unterfällt, die materielle Beweiskraft des fraglichen Inhalts der Urkunde im Wege freier Beweiswürdigung zu ermitteln hat. Dass dem Verwaltungsgericht hierbei beachtliche Fehler unterlaufen sind, hat der Kläger nicht dargetan.

f) Nicht durchzudringen vermag der Einwand des Klägers, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass durch Vorlage der Heiratsurkunde seiner Eltern (Ikrar Nama), die ausweist, dass er im Jahr 2001 neun Jahre alt gewesen ist und deren Echtheit von der Beklagten im Visumsverfahren bestätigt worden ist, ein weiterer Urkundsbeweis geführt sei. Der Kläger übersieht, dass nach den hier anwendbaren Vorschriften über den Urkundsbeweis der Zivilprozessordnung zwischen der (formellen) Echtheit einer Urkunde und deren (materieller) Beweiskraft zu unterscheiden ist (vgl. Stein/Jonas/Leipold, a.a.O., § 438 Rn. 3). Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass die als echt bestätigte Urkunde nichts über die inhaltliche Richtigkeit des in Bezug genommenen Alters des Klägers aussage und auf die gewichtigen Zweifel am Urkundswesen in Afghanistan verwiesen. Mit seinem Hinweis auf die Echtheit der Heiratsurkunde, die das Verwaltungsgericht nicht in Frage gestellt hat, hat der Kläger einen beachtlichen Fehler in der Beweiswürdigung nicht dargetan.

g) Die durch den Kläger erhobenen Einwände gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Würdigung der Aussagen der vier in der mündlichen Verhandlung vernommenen Zeugen führen ebenfalls nicht auf einen zulassungsrechtlich beachtlichen Fehler in der Beweiswürdigung. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass die Aussagen der Zeugen nicht geeignet seien, zu belegen, dass der Kläger im Jahr 1992 geboren sei. Diese Würdigung hat es durch zahlreiche aus dem Inhalt der Aussagen und dem Verhalten der Zeugen bei der Vernehmung abgeleitete Anhaltspunkte belegt. Der Kläger benennt in der Zulassungsbegründung lediglich Argumente, die allenfalls für die Möglichkeit einer anderen Bewertung der Zeugenaussagen sprechen könnten. Beachtliche gedankliche Widersprüche oder Lücken bei der Beweiswürdigung hat er nicht dargetan. Soweit der Kläger wiederholt rügt, indem das Gericht den Verdacht äußere, die Zeugen hätten sich abgesprochen und verfahrensangepasste Aussagen gemacht, stelle es bloße Spekulationen, Vermutungen und Unterstellungen an, die nicht erwiesen seien, ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) derartige argumentativ unterlegte Wertungen zulässig sind.

h) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts sind auch nicht mit der Rüge dargetan, das Verwaltungsgericht sei aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) verpflichtet gewesen, ein neues Altersbestimmungsgutachten einzuholen. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aus Gründen der Amtsermittlung nicht geboten gewesen sei, ein erneutes Altersbestimmungsgutachten einzuholen. Der Kläger, der weder in der mündlichen Verhandlung einen förmlichen Beweisantrag, gerichtet auf die Einholung eines Altersbestimmungsgutachtens gestellt, noch dies im gerichtlichen Verfahren schriftsätzlich angeregt hat, hat mit seinem Zulassungsvorbringen nicht dargetan, dass sich dem Verwaltungsgericht diese Aufklärungsmaßnahme hätte aufdrängen müssen (vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 -, NJW 1997, 3328).

2. Auf das weitere Vorbringen des Klägers zu der Frage, ob sein Lebensunterhalt gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesichert ist, kommt es nicht mehr an. Hat das Verwaltungsgericht – wie hier – sein Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, ist die Zulassung der Berufung nur möglich, wenn jede dieser Begründungen erfolgreich mit Zulassungsgründen angegriffen wird. Daran fehlt es hier, weil der Kläger – wie dargelegt – den ersten Begründungsteil betreffend der altersbezogenen Voraussetzungen für einen Kindernachzug nach § 32 Abs. 3 AufenthG nicht mit zulassungsrechtlich relevanten Erwägungen angreift.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).