Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat | Entscheidungsdatum | 29.01.2014 | |
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Aktenzeichen | L 7 KA 119/11 KL | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 31 S 1 SGB 10, § 45 Abs 3 S 1 SGB 10, § 48 Abs 1 S 1 SGB 10, § 31 Abs 1 S 2 SGB 5, § 34 Abs 6 SGB 5, Anl 5 AMRL, § 29 AMRL |
1. Die Aufnahme eines Medizinprodukts in die Anlage 5 der Arzneimittelrichtlinie (Übersicht der verordnungsfähigen Medizinprodukte) erfolgt durch Verwaltungsakt; die Aufhebung dieser Listung kann nur auf der Grundlage der §§ 45 ff. SGB X erfolgen.
2. "In den tatsächlichen Verhältnissen" im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X tritt eine Änderung ein, wenn der einer Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt sich gewandelt hat; sofern die zuständige Behörde die objektiv bei Bescheiderlass bestehende Sachlage im Nachhinein nur anders beurteilt, liegt keine "Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen" vor.
3. Ein Medizinprodukt, das in Anlage 5 der Arzneimittelrichtlinie gelistet ist, wird nicht allein dadurch unzweckmäßig im Sinne von § 29 Nr. 4 der Arzneimittelrichtlinie, dass nachträglich Konkurrenzprodukte in die Anlage 5 aufgenommen worden sind, deren Zweckmäßigkeit durch Evidenz höherer Qualität belegt ist.
4. Eine Aufhebung der Listung eines Medizinprodukts in Anlage 5 der Arzneimittelrichtlinie kommt auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nur in Betracht, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss den Nachweis in Gestalt neuer Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin führt, dass das Medizinprodukt nicht den Voraussetzungen von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V in Verbindung mit § 29 der Arzneimittelrichtlinie entspricht.
Der Bescheid des Beklagten vom 15. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2011 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Die Klägerin ist Herstellerin des Medizinproduktes Jacutin® Pedicul Fluid und wendet sich gegen dessen Streichung von der Anlage V der Arzneimittelrichtlinie (Übersicht der verordnungsfähigen Medizinprodukte).
Jacutin® Pedicul Fluid besteht aus 100 Prozent reinem Dimeticon (Silikonöl). Das Medizinprodukt wird zur Bekämpfung von Kopfläusen eingesetzt. Seine Hauptwirkweise ist physikalischer Natur, indem die Atemöffnungen der Läuse und Nissen verschlossen werden und die Parasiten so ersticken.
Bei Jacutin® Pedicul Fluid handelt es sich um ein Medizinprodukt in Sinne von § 3 des Medizinproduktegesetzes (MPG). Als solches ist es gemäß § 31 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) in der seit dem 1. Juli 2008 geltenden Fassung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungs- und erstattungsfähig, wenn es in Anlage V der Arzneimittelrichtlinie nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V gelistet ist. Der Beklagte – der Gemeinsame Bundesausschuss – hat gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V in den Arzneimittelrichtlinien festzulegen, „in welchen medizinisch notwendigen Fällen“ Medizinprodukte ausnahmsweise in die Arzneimittelversorgung einbezogen werden.
Am 18. April 2008 beantragte die Klägerin die Aufnahme von Jacutin® Pedicul Fluid in die damalige Anlage 12 (heutige Anlage V) der Arzneimittelrichtlinie. In der Antragsbegründung wies die Klägerin auf die Vorteile des physikalischen Wirkmechanismus bei Kopfläusebefall gegenüber der bislang verbreiteten Behandlung mit insektizidhaltigen Arzneimitteln hin. So seien bei letzteren zu beobachtende Resistenzentwicklungen bei der physikalischen Behandlung unwahrscheinlich; die Therapie sei sicher und nebenwirkungsarm, weil Dimeticon nicht über die Haut resorbiert werde und ungiftig sei. Zum Beleg führte die Klägerin verschiedene klinische Studien an.
Auf dieser Grundlage beschloss der Beklagte in seiner Sitzung vom 19. Juni 2008 (schriftlicher Bescheid vom selben Tag), das Medizinprodukt Jacutin® Pedicul Fluid in die (seinerzeitige) Anlage 12 der Arzneimittelrichtlinie mit folgender Maßgabe aufzunehmen:
„Für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen zur physikalischen Behandlung des Kopfhaares bei Kopflausbefall.“
Zur Begründung heißt es in dem Bescheid im Wesentlichen: Jacutin® Pedicul Fluid sei medizinisch notwendig im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V. Allgemein sei ein Medizinprodukt medizinisch notwendig in diesem Sinne, „wenn
a) es entsprechend seiner Zweckbestimmung nach Art und Ausmaß der Zweckerzielung zur Krankenbehandlung im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V und Nr. 31 geeignet ist,
b) eine diagnostische oder therapeutische Interventionsbedürftigkeit besteht,
c) der diagnostische oder therapeutische Nutzen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und
d) eine andere, zweckmäßigere Behandlungsmöglichkeit nicht verfügbar ist.“
Das Präparat der Klägerin erfülle diese Voraussetzungen. Aus Gründen der Gleichbehandlung mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sei jedoch die Verordnungsfähigkeit des Medizinproduktes dem Alter nach auf versicherte Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr und versicherte Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen zu begrenzen.
Zusammen mit Jacutin® Pedicul Fluid nahm der Beklagte zwei weitere Medizinprodukte zur physikalischen Behandlung des Kopfhaares bei Kopflausbefall in die Anlage 5 der Arzneimittelrichtlinie auf, nämlich EtoPril® (bestehend aus Dimeticon und Cyclomethicon 5) sowie Nyda® (bestehend aus hoch- und niedrigviskosigem Dimeticon, mittelkettigen Triglyceriden, Jojobawachs und Duftstoffen).
Mit Schreiben vom 16. November 2009 hörte der Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Rücknahme des Bescheides vom 19. Juni 2008 an. Eine erneute Überprüfung habe Zweifel an der Qualität der von der Klägerin mit ihrem Antrag vom 18. April 2008 angeführten klinischen Studien aufkommen lassen. Nach der Verfahrensordnung des Beklagten sei die medizinische Notwendigkeit aber anhand von Studien höchstmöglicher Evidenz zu belegen. Für Medizinprodukte zur Behandlung des Kopflausbefalls seien daher auch vor dem Hintergrund der Häufigkeit der Erkrankungen generell randomisierte, kontrollierte Studien angemessener Methodik zu fordern. Jacutin® Pedicul Fluid erfülle die Kriterien zur Aufnahme in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinien aufgrund des nicht ausreichend belegten therapeutischen Nutzens nicht, so dass es aus der Anlage V gestrichen werden müsse.
In einem Schreiben vom 25. Januar 2010 erklärte die Klägerin, die Neubewertung des therapeutischen Nutzens von Jacutin® Pedicul Fluid überrasche, weil gerade dieses Präparat sich seit der Einführung als eines der gegenwärtig wirksamsten und sichersten Produkte zur Behandlung des Kopflausbefalls erwiesen habe. Bedenken gegenüber der Datenlage seien unbegründet. Belegt werde der medizinische Nutzen mit den ursprünglich vorgelegten US-Studiendaten, mit einer ausführlichen, der tatsächlichen Anwendung nachempfundenen experimentellen Untersuchung des Bundesumweltamtes mit außerordentlich guten Resultaten und einer aktuellen vergleichbaren klinischen Untersuchung der Phase 4 sowie den inzwischen umfangreichen Erkenntnissen aus dem Markt. Eine Streichung von der Anlage V der Arzneimittelrichtlinie sei sowohl medizinisch als auch gesundheitspolitisch falsch.
Mit Beschluss vom 15. Juli 2010 (schriftlicher Bescheid vom selben Tag) nahm der Beklagte den Bescheid vom 19. Juni 2008 zurück. Jacutin® Pedicul Fluid sei aus der Übersicht der verordnungsfähigen Medizinprodukte (Anlage V der Arzneimittelrichtlinie) zu streichen. Zur Begründung heißt es in dem Bescheid im Wesentlichen: Die Rücknahmeentscheidung beruhe auf § 45 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X). Der Bescheid vom 19. Juni 2008 sei rechtswidrig, weil bei seinem Erlass die Voraussetzungen für die Aufnahme von Jacutin® Pedicul Fluid in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie nicht vorgelegen hätten. Eine Überprüfung habe nämlich ergeben, dass die Voraussetzungen zum Nachweis eines therapeutischen Nutzens für das Medizinprodukt im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides nicht gegeben gewesen und bis heute nicht erfüllt seien. Die Klägerin habe keine belastbaren, methodisch und statistisch einwandfreien und mit guter Berichtsqualität veröffentlichten Daten der Evidenzstufe 1 zum Nachweis eines therapeutischen Nutzens beim Einsatz von Jacutin® Pedicul Fluid in der beantragten Indikation vorgelegt. Es lasse sich daher nicht feststellen, dass ein durch wissenschaftliche Studien hinreichend untermauerter Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den therapeutischen Nutzen des Präparats bestehe. Andere, zweckmäßigere Behandlungsmöglichkeiten seien verfügbar. Die medizinische Notwendigkeit des Präparats sei daher nicht gegeben. Unter Berücksichtigung aller Umstände halte es der Beklagte daher für sachgerecht, den Bescheid in vollem Umfang zurückzunehmen.
Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs führte die Klägerin im Wesentlichen aus: Die vom Beklagten in Anspruch genommene Ermächtigungsgrundlage in § 45 SGB X rechtfertige die Rücknahme nicht. Denn zum einen sei der aufgehobene Bescheid rechtmäßig. Zum anderen seien auch die Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes eindeutig nicht gegeben. Das Vertrauen der Klägerin in den Fortbestand des Bescheides vom 19. Juni 2008 sei schutzwürdig. Der Rücknahmebescheid sei zudem nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X verfristet, denn der Bescheid vom 19. Juni 2008 sei nachweislich am 23. Juni 2008 zugestellt worden, so dass die Zwei-Jahres-Frist nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X am 23. Juni 2010 abgelaufen sei. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass die im Rahmen des Antragsverfahrens vorgelegten Studien zum Nachweis der medizinischen Notwendigkeit des Präparats für eine positive Bescheidung des Antrages ausreichend gewesen seien. Die Qualität der Daten habe sich seitdem nicht verändert.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. September 2011 zurück. Zur Begründung führt der Beklagte darin im Wesentlichen an: Bei wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse könne ein von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt auch nach § 48 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden. Zum 1. Juli 2008 habe der Gesetzgeber eine Änderung der Rechtslage im Hinblick auf die Erstattungsfähigkeit von Medizinprodukten dergestalt herbeigeführt, dass solche unter dem Vorbehalt einer positiven Bewertung durch den Beklagten verordnungsfähig seien. Der Beklagte habe Jacutin® Pedicul Fluid im Jahre 2008 zur Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Versicherten in den neuen Leistungskatalog aufgenommen und sei dabei auf Grundlage niedrigeren Evidenzniveaus zunächst vom Nachweis des therapeutischen Nutzens ausgegangen. Inzwischen sei eine wesentliche Änderung der Sachlage eingetreten. Mit Beschlüssen vom 20. Mai 2010, 19. August 2010 und 21. Juli 2011 seien weitere Medizinprodukte zur physikalischen Behandlung des Kopfhaares bei Kopflausbefall in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie aufgenommen worden, nämlich Dimet®20, Paranix® ohne Nissenkamm und Mosquito ® med LäuseShampoo. Im Vergleich zu dem Produkt der Klägerin sei der therapeutische Nutzen dieser weiteren Medizinprodukte weitaus besser belegt, nämlich auf der Basis jeweils mindestens einer methodisch adäquaten randomisierten und kontrollierten Studie. Dagegen liege für Jacutin® Pedicul Fluid keine solche Studie hohen Evidenzniveaus vor. Mit dem Beleg für den therapeutischen Nutzen der drei genannten Alternativpräparate sei eine wesentliche Voraussetzung für die Fortgeltung der Verordnungsfähigkeit von Jacutin® Pedicul Fluid nachträglich entfallen. Damit liege eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz SGB X vor. Das Auswechseln der Rechtsgrundlage gegenüber dem Ausgangsbescheid sei insoweit zulässig.
Hiergegen hat die Klägerin am 27. September 2011 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ihr Widerspruchsvorbringen vertieft. Der Bescheid vom 19. Juni 2008 sei rechtmäßig gewesen, so dass § 45 SGB X als Rechtsgrundlage für die Rücknahme nicht in Betracht komme. Selbst der Beklagte habe in seinem Widerspruchsbescheid eingehend dargelegt, warum die Aufnahme von Jacutin® Pedicul Fluid in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie im Jahre 2008 nicht zuletzt im Interesse der betroffenen Patienten erforderlich und damit rechtmäßig gewesen sei. Im Vertrauen auf den Bestand des Bescheides vom 19. Juni 2008 habe sie erhebliche Investitionen in die Produktion und den Vertrieb des Präparats getätigt; diese Aufwendungen seien schützenswert. Falle die Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit weg, verliere sie einen Großteil ihres Umsatzes, weil naturgemäß nur Medizinprodukte zur Bekämpfung von Kopfläusen vertragsärztlich verordnet würden, deren Kosten von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen würden. Auch § 48 SGB X sei keine taugliche Rechtsgrundlage. Diese Vorschrift sei schon deshalb unanwendbar, weil die Rücknahme nach der spezielleren Vorschrift in § 45 Abs. 3 SGB X verfristet und damit ausgeschlossen sei. Für die vom Beklagten behauptete Konstellation eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung schaffe § 45 Abs. 3 SGB X eine Sonderregelung zum Vertrauensschutz mit einer Ausschlussfrist von zwei Jahren. Selbst bei unterstellter Zulässigkeit des Wechsels der Rechtsgrundlage auf § 48 SGB X seien aber die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bescheides vom 19. Juni 2008 nicht erfüllt, denn maßgebliche Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen lägen nicht vor. Eine maßgebliche Änderung der Umstände könne insbesondere nicht in der Aufnahme weiterer Medizinprodukte zur Bekämpfung von Kopfläusen in die Anlage V durch den Beklagten gesehen werden, denn diese Änderung der Sachlage sei vom Beklagten selbst herbeigeführt worden. § 48 SGB X umfasse nämlich vor allem Fälle, in denen die Änderungen aus der Sphäre des Empfängers des Verwaltungsaktes stammten. Wäre die Vorgehensweise des Beklagten rechtens, die Maßstäbe für die Aufnahme von Medizinprodukten in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie nachträglich zu ändern, hätte er es stets in der Hand, eine Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 48 SGB X durch eine Änderung seiner Meinung selbst herbeizuführen und auf diese Weise die Streichung bereits gelisteter Produkte zu erreichen. § 48 SGB X erfasse aber gerade keine von der Behörde veranlassten Veränderungen. Daher liege keine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen vor, sondern lediglich eine abweichende Beurteilung durch den Beklagten. Eine Beobachtungs- und Korrekturpflicht des Beklagten würde den Hersteller von Medizinprodukten zu einer dauerhaften Re-Evaluation seiner Produkte verpflichten, um diese auf der Anlage V der Arzneimittelrichtlinie zu erhalten; es könne nicht von ihm verlangt werden, dauerhaft neu Studien durchzuführen und einzureichen, um die Studienlage auf gleicher Höhe mit denen anderer Produkte zu halten. Zudem dürfe der Beklagte sein in dem Bescheid vom 19. Juni 2008 zugunsten der Klägerin ausgeübtes Ermessen nicht ohne weiteres revidieren. Nur durch die Aufnahme weiterer vergleichbarer und konkurrierender Produkte entfalle der einmal anerkannte medizinischen Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid nicht. So habe der Beklagte etwa mit dem neu aufgenommenen Produkt Dimet®20 der Firma InfectoPharm (bestehend aus Dimeticon und Dodecanol) ein weiteres Produkt gegen Kopflausbefall auf der Basis von Dimeticon gelistet. Damit stehe fest, dass die Behandlung von Kopflausbefall mit Produkten auf Basis von Dimeticon mit physikalischer Wirkweise nach wie vor dem anerkannten Konsens der Fachkreise entspreche und medizinischer Standard sei. Sämtliche derzeit gelisteten Produkte seien in ihrem Wirkprinzip äquivalent. EtoPril®, Nyda® und Dimet®20 enthielten mit Dimeticon sogar denselben Wirkstoff wie Jacutin® Pedicul Fluid. Das renommierte arznei-telegramm (Heft 8/2012, Anlage 1 zum Schriftsatz vom 20. Jan. 2014) empfehle bei Kopflausbefall sogar ausdrücklich die Behandlung mit Jacutin® Pedicul Fluid. Ein weiterer Beitrag im arznei-telegramm (Heft 2/2009, Anlage 3 zum Schriftsatz vom 20. Jan. 2014) zeige zudem, dass bei Jacutin® Pedicul Fluid im Gegensatz etwa zu EtoPril® nicht das Risiko der Entflammbarkeit bestehe. Auch eine Studie des insoweit besonders kompetenten Umweltbundesamtes (Anlage 2 zum Schriftsatz vom 20. Jan. 2014) belege, dass durch die Anwendung von Jacutin® Pedicul Fluid bei einer Einwirkzeit von zehn Minuten eine Tilgung aller mobilen Läusestadien erzielt werde. Schließlich habe Jacutin® Pedicul Fluid im Vergleich zu allen anderen Läusemitteln mit physikalischer Wirkweise mit nur zehnminütiger Einwirkung die kürzeste Behandlungsdauer.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 15. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2011 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bringt er im Wesentlichen vor: Die Klage sei unbegründet. Auch ein von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt könne mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden, wenn nachträglich Umstände eingetreten seien, die eine Aufhebung des ursprünglichen Bescheides nach § 48 SGB X rechtfertigten. Der Austausch der Rechtsgrundlage sei zulässig, soweit der Verwaltungsakt dadurch nicht in seinem Regelungsumfang oder seinem Wesensgehalt verändert oder die Rechtsverteidigung des Betroffenen in unzulässiger Weise erschwert werde. Mit der Anwendung von § 48 SGB X komme es auch zu keiner Umgehung der Vertrauensschutzregelungen. Mit den Anträgen der weiteren Medizinproduktehersteller habe sich die Sachlage entscheidend geändert, wodurch für einen Vertrauensschutz nach § 45 SGB X kein Raum mehr sei. Eine Zwei-Jahres-Frist gelte für die Aufhebung von Verwaltungsakten nach § 48 Abs. 1 SGB X gerade nicht, weil § 48 Abs. 4 SGB X nicht auf § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X verweise. Durch die Beschlüsse vom 20. Mai 2010, 19. August 2010 und 21. Juli 2011 seien mit Dimet®20, Paranix® ohne Nissenkamm und Mosquito ® med LäuseShampoo Medizinprodukte in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie aufgenommen worden, deren therapeutischer Nutzen zur Behandlung des Kopflausbefalls deutlich besser belegt sei als für das Produkt der Klägerin. Die objektive Änderung der Verhältnisse erschöpfe sich daher nicht in einer alleinigen Änderung der Bewertungsgrundlagen durch den Beklagten. Eine tatbestandsrelevante Änderung der Sachlage liege vielmehr in dem Umstand, dass nunmehr zweckmäßigere Behandlungsmöglichkeiten vorlägen, die im Jahr 2008 noch nicht ersichtlich gewesen seien. Die höhere Zweckmäßigkeit der drei später in die Anlage V aufgenommenen Medizinprodukte folge aus dem jeweiligen Vorliegen von Studien höheren Evidenzgrades. Seinerzeit und auch noch heute liege keine veröffentlichte randomisierte und kontrollierte Studie vor, in der Jacutin® Pedicul Fluid getestet worden sei. Für die zwischenzeitlich aufgenommenen Medizinprodukte Dimet®20, Paranix® ohne Nissenkamm und Mosquito ® med LäuseShampoo sei der Nachweis des therapeutischen Nutzens jedoch auf der Basis mindestens einer methodisch adäquaten randomisiert kontrollierten Studie erbracht. Mit der höheren Zweckmäßigkeit der drei neu zugelassenen Produkte sei eine wesentliche Voraussetzung für die Fortgeltung der Verordnungsfähigkeit von Jacutin® Pedicul Fluid nachträglich entfallen. Hierin liege zugleich eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X. Jacutin® Pedicul Fluid sei auch nicht wirkstoffgleich mit den neu gelisteten Medizinprodukten. Die Behauptung der Klägerin, es stehe fest, dass dimeticonhaltige Medizinprodukte auf Basis wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprächen, sei damit nicht zutreffend. Die Klägerin könne nicht beanspruchen, sich dauerhaft an der für sie im Jahr 2008 günstigen Tatsachengrundlage festhalten zu lassen. Es gebe keinen Vertrauenstatbestand dahin, dass sie ihr Produkt dauerhaft als erstattungsfähig im Markt der gesetzlichen Krankenversicherung positionieren könne.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.
A. Für die Streitigkeit ist der Senat erstinstanzlich zuständig. Die Klage richtet sich unmittelbar „gegen Entscheidungen und Richtlinien“ des Beklagten im Sinne von § 29 Abs. 4 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn streitgegenständlich ist die Frage, ob das Medizinprodukt Jacutin® Pedicul Fluid weiter in der Anlage 5 der Arzneimittelrichtlinie nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V gelistet sein darf (§ 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Der Senat behandelt die Streitsache als eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts im Sinne der §§ 10 Abs. 2 Nr. 1, 31 Abs. 2 SGG (siehe auch Abschnitt B II 1 a [2] des „zusammenfassenden Standpunktes des 1., 3. und 6 Senats des Bundessozialgerichts zu § 10 Abs. 2 SGG“).
B. Die Klage ist zulässig und begründet. Die Aufhebung des Bescheides vom 19. Juni 2008, mit dem der Beklagte das streitige Jacutin® Pedicul Fluid in die Übersicht der verordnungsfähigen Medizinprodukte (heute Anlage 5 der Arzneimittelrichtlinie) aufgenommen hatte, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin als Herstellerin dieses Medizinprodukts in ihren Rechten.
I. An der Zulässigkeit der Klage bestehen keine Bedenken.
Statthaft ist die Klage als Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG), denn bei der Entscheidung des Beklagten, Jacutin® Pedicul Fluid aus der Anlage V der Arzneimittelrichtlinie zu streichen, handelt es sich trotz des normgeberischen Zusammenhangs um einen Verwaltungsakt (insbesondere um eine Regelung mit unmittelbarer Rechtswirkung) im Sinne von § 31 Satz 1 SGB X.Entscheidendes Merkmal der „Regelung“ ist, dass sie die Rechtsstellung des Betroffenen ohne weiteren Umsetzungsakt berührt sowie einseitig und verbindlich einen Lebenssachverhalt gestaltet. Durch die Regelung muss ein subjektives Recht unmittelbar begründet, aufgehoben, beeinträchtigt, geändert, festgelegt oder verneint werden. So liegt es hier mit der Entscheidung des Beklagten, die Listung von Jacutin® Pedicul Fluid in der Anlage V der Arzneimittelrichtlinie aufzuheben (vgl. zur Abgrenzung das Urteil des Senats vom 15. Mai 2013, L 7 KA 105/12 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 36 [Bestandsmarkt-Nutzenbewertung]). Unabhängig davon ergibt sich die Verwaltungsaktsqualität des angefochtenen Bescheides mit § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V, letzter Halbsatz i.V.m. § 34 Abs. 6 SGB V auch aus dem materiellen Recht [vgl. hierzu unten B. II. 1.a)].
Als Herstellerin des fraglichen Medizinprodukts ist die Klägerin auch klagebefugt im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG, denn jedenfalls berührt die Aufhebung der mit Bescheid vom 19. Juni 2008 erlangten Begünstigung sie in ihrem Grundrecht auf freie Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG (vgl. Urteil des Senats vom 15. Mai 2013, L 7 KA 113/10 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 26 [Otobacid®]; Beck in jurisPK SGB V, Rdnr. 41 zu § 34). Das Vorverfahren, § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG, wurde ordnungsgemäß durchgeführt. Die Klagefrist, § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG, ist gewahrt.
II. Die Klage ist auch begründet. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der bestandskräftigen Entscheidung, Jacutin® Pedicul Fluid in die Anlage V (vormals 12) der Arzneimittelrichtlinie aufzunehmen, liegen nicht vor.
1. a) Die Aufhebung des begünstigenden Bescheides vom 19. Juni 2008 muss sich an den Regelungen der §§ 45 ff. SGB X messen lassen.
Materiellrechtlich maßgeblich ist insoweit zunächst § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V. Dieser regelt seit dem 1. Juli 2008 inhaltlich unverändert, dass der Beklagte in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V festzulegen hat, in welchen medizinisch notwendigen Fällen Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die als Medizinprodukte nach § 3 Nr. 1 oder Nr. 2 des Medizinproduktegesetzes zur Anwendung am oder im menschlichen Körper bestimmt sind, ausnahmsweise in die Arzneimittelversorgung einbezogen werden. In seinem letzten Halbsatz ordnet § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V zugleich die entsprechende Geltung u.a. von § 34 Abs. 6 SGB V an. Diese Vorschrift sieht die Durchführung eines besonderen Verwaltungsverfahrens vor, beginnend mit einem Antrag des pharmazeutischen Unternehmers und endend mit einer Bescheidung durch den Beklagten einschließlich einer Rechtsmittelbelehrung. Es gelten die allgemeinen Regelungen des Sozialverwaltungsverfahrens (vgl. Pflugmacher in Eichenhofer/Wenner, SGB V, Rdnr. 16 zu § 34); der Beklagte hat hier in der Rechtsform des Verwaltungsakts zu handeln, obwohl er mit der Aufnahme eines Medizinprodukts in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie nach § 91 Abs. 6 SGB V gleichzeitig (untergesetzliche) Normgebung betreibt (vgl. zu Herkunft und Einordnung von § 34 Abs. 6 SGB V: Urteil des Senats vom 27. Februar 2013, L 7 KA 114/11 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 41 bis 44). Stellt aber eine Entscheidung über die Aufnahme eines Medizinproduktes in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie einen Verwaltungsakt dar, hat seine Aufhebung als actus contrarius die Regelungen der §§ 45 ff. SGB X zu berücksichtigen.
b) Die Aufhebung bestandskräftiger begünstigender Verwaltungsakte kann nach den §§ 45 ff. SGB X nicht einschränkungslos erfolgen, weil Rechtssicherheit und Vertrauensschutz klare Grenzen setzen. Von dem Instrumentarium, das das Gesetz insoweit anbietet, um einen Ausgleich zu finden zwischen individuellem Bestandsschutzinteresse und dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung der materiellrechtlich zutreffenden Rechtslage (vgl. von Wulffen/Schütze, SGB X, Rdnr. 2 zu § 45), kommen für den vorliegenden Fall § 45 sowie § 48 als Rechtsgrundlage für eine Aufhebung des Bescheides vom 19. Juni 2008 in Betracht. Indessen sind die Voraussetzungen keiner dieser beiden Vorschriften erfüllt. Die Aufhebung des Bescheides vom 19. Juni 2008 ist zur Überzeugung des Senats nach jeder Betrachtungsweise rechtswidrig.
2. Rechtlich unproblematisch ist es dabei, dass der Beklagte seinen Ausgangsbescheid vom 15. Juli 2010 auf § 45 SGB X (Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts) gestützt und für die Begründung des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2011 ausschließlich auf § 48 SGB X (Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse) zurückgegriffen hat. Hierin liegt nur ein Austausch der Begründung bzw. der Rechtsgrundlage, der die getroffene Regelung nicht berührt (vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar, Rdnr. 8 zu § 48 SGB X).
3. Die Voraussetzungen für die Anwendung von § 45 SGB X liegen, wie der Beklagte bei Erlass des Widerspruchsbescheides offenbar selbst erkannt hat, nicht vor. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ob der Bescheid des Beklagten vom 19. Juni 2008 rechtswidrig war oder ob der Rücknahme Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB X entgegen steht, kann hier offen bleiben, denn jedenfalls steht einer Rücknahme nach § 45 Abs. 1 SGB X die Fristregelung in § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X entgegen. Danach kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - soweit Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB X nicht entgegensteht - nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Diese zwei Jahre waren hier bei Erlass des Bescheides vom 15. Juli 2010 abgelaufen, denn der begünstigende Bescheid vom 19. Juni 2008 wurde der Klägerin am 23. Juni 2008 bekannt gegeben (VV vor Bl. 41), so dass die Zweijahresfrist am 23. Juni 2010 ablief. Für eine Erweiterung der Rücknahmefrist auf zehn Jahre nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X ist nichts ersichtlich, weil die erschwerenden Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X (unrichtige oder unvollständige Angaben der Klägerin bei Antragstellung; Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts) ersichtlich nicht vorliegen; auch der Beklagte behauptet solches nicht.
4. Ebenso wenig trägt § 48 SGB X die Entscheidung des Beklagten, den Bescheid vom 19. Juni 2008 (mit Wirkung für die Zukunft) aufzuheben.
a) Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ermessen besteht bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nicht (vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar, Rdnr. 8 zu § 34 SGB X).
Die Sollvorschrift aus § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X mit der Möglichkeit einer rückwirkenden Aufhebung ist vorliegend nicht anwendbar, weil unstreitig keiner der Tatbestände des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 SGB X erfüllt ist; hiervon hat der Beklagte auch keinen Gebrauch gemacht.
Für die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsakts nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gibt es keine fristmäßige Begrenzung auf zwei Jahre, denn § 48 Abs. 4 SGB X ordnet nur die entsprechende Geltung von § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 SGB X an, nicht aber die von § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X.
b) Ein grundsätzlich nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufhebbarer Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt mit dem Bescheid des Beklagten vom 19. Juni 2008 vor. Das ist angesichts des Regelungsinhalts des Bescheides offensichtlich und wird von keinem Beteiligten bestritten.
Ebenso offensichtlich liegt keine wesentliche Änderung „in den rechtlichen Verhältnissen“ vor, denn das dem Bescheid vom 19. Juni 2008 zugrunde liegende Recht (§ 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V) hat sich nicht geändert; das wird auch vom Beklagten nicht behauptet.
c) Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten ist aber auch in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheides vom 19. Juni 2008 vorgelegen haben, keine wesentliche Änderung eingetreten. Offen bleiben kann dabei, was unter „wesentlicher“ Änderung zu verstehen ist (vgl. hierzu Heße in BeckOK SGB X § 48 Rdnr.12: „entscheidungsrelevant“). Denn jedenfalls fehlt es überhaupt an einer Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen.
aa) „In den tatsächlichen Verhältnissen“ im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X tritt eine Änderung ein, wenn der einer Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt sich gewandelt hat; dies muss entscheidungserhebliche Umstände betreffen. Erforderlich ist im Ausgangspunkt, dass die Behörde anders bzw. nicht entschieden hätte bzw. den Verwaltungsakt (so) nicht hätte erlassen dürfen, wenn die gegenwärtige Sachlage bereits im Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Bescheides vorgelegen hätte, etwa weil der im Bescheid festgestellte Anspruch materiellrechtlich nicht mehr besteht (vgl. Heße, a.a.O., Rdnr. 15; Steinwedel in Kasseler Kommentar, SGB X, Rdnr. 13 zu § 48; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, Rdnr. 8 zu § 48; Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Februar 1986, RAr 55/84, zitiert nach juris, dort Rdnr. 15). Eine relevante Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen liegt so etwa vor (siehe Beispiele bei Heße, a.a.O., Rdnr. 16) im Falle der Verbesserung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei Bezug einer Erwerbsminderungsrente, bei Hinzutreten oder Änderung anrechenbaren Einkommens, im Falle der Beendigung einer Ausbildung bei Bezug einer Waisenrente, im Falle der Wiederverheiratung einer Witwe oder bei rückwirkender Bewilligung einer Unfallrente, auf die für denselben Zeitraum wie für eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ein Anspruch besteht.
Im Gegensatz dazu reicht es für eine „Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen“ nicht aus, dass sich inzwischen die Anschauungen oder Erkenntnisse (zum Beispiel über die Entstehung einer als Unfallfolge anerkannten Gesundheitsschädigung) gewandelt haben. Keine „Änderung“ im Rechtssinne ist daher etwa die nachträgliche Erkenntnis einer Fehldiagnose. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eröffnet nämlich nicht die Möglichkeit, entscheidungsrelevante tatsächliche Umstände nachträglich völlig neu - originär - zu bewerten. Die Änderung oder Aufhebung eines Bescheides zuungunsten eines Begünstigten, ohne dass eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen vorliegt, ist nur unter den deutlich engeren Voraussetzungen des § 45 SGB X zulässig (vgl. Steinwedel, a.a.O., Rdnr. 18; Bundessozialgericht, Urteil vom 23. Juni 1977, 2 RU 93/75, zitiert nach juris, dort Rdnr.16 [zu § 622 Abs. 1 RVO]). Mit anderen Worten: Sofern die zuständige Behörde die objektiv bei Bescheiderlass bestehende Sachlage im Nachhinein anders beurteilt, liegt keine „Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen“ vor (vgl. Heße, a.a.O., Rdnr. 15; BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 1990, 6 C 33/88, zitiert nach juris, dort Rdnr. 27 [zu § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG]).
bb) Hieran gemessen erlaubt der vorliegende Sachverhalt nur die Schlussfolgerung, dass eine „Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen“ im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht vorliegt. Die bloße Neubewertung des im Jahre 2008 vorliegenden Erkenntnismaterials zum medizinischen Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid erlaubt keine Aufhebung des bestandskräftigen Bescheides vom 19. Juni 2008, mit dem dieses Medizinprodukt vom Beklagten in die Übersicht der verordnungsfähigen Medizinprodukte aufgenommen worden war.
(1) Es gibt keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Schlussfolgerung zuließen, dass Jacutin® Pedicul Fluid im Gegensatz zu der mit Bescheid vom 19. Juni 2008 getroffenen Wertung nicht von medizinischem Nutzen im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V ist. Mit ihrem Antrag vom 18. Juni 2008 hatte die Klägerin auf verschiedene medizinische Studien Bezug genommen. Diese Studienlage, auf die hier nicht näher eingegangen werden muss, genügte dem Beklagten, um zu der Bewertung zu gelangen, dass es sich bei Jacutin® Pedicul Fluid um ein medizinisch notwendiges Medizinprodukt im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V handele. Sämtliche in § 29 der Arzneimittelrichtlinie näher bestimmten Voraussetzungen wurden als erfüllt angesehen: Jacutin® Pedicul Fluid sei entsprechend seiner Zweckbestimmung nach Art und Ausmaß der Zweckerzielung zur Krankenbehandlung im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V geeignet, es bestehe eine diagnostische oder therapeutische Interventionsbedürftigkeit, der diagnostische oder therapeutische Nutzen entspreche dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und eine andere, zweckmäßigere Behandlungsmöglichkeit sei nicht verfügbar.
Auch der Beklagte hat keine Studien oder sonstigen Erkenntnisse angeführt, nach denen der medizinische Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid heute anders zu bewerten wäre. Tatsächlich gibt es auch nach den Nachforschungen des Senats keine Erkenntnisse für mangelnden medizinischen Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid. Im Gegenteil gibt es – nach wie vor – konkrete Anhaltspunkte für den medizinischen Nutzen.
Allgemein werden dimeticonhaltige Medizinprdukte als Alternative zu insektizidhaltigen Arzneimitteln angeführt. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) – ein nach § 139a SGB V vom Beklagten errichtetes Expertengremium, das in seiner persönlichen und fachlichen Integrität und Qualität durch Transparenz und Unabhängigkeit gesetzlich und institutionell besonders abgesichert ist (siehe Bundessozialgericht, Urteil vom 1. März 2011, B 1 KR 10/10 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 75) – führt in seinem „Merkblatt: Kopfläuse“ http://www.gesundheitsinformation.de/merkblatt-kopflaeuse.344.de.html) vom 5. März 2008 mit letzter Aktualisierung vom 22. Oktober 2013 an, Studienergebnisse zeigten, dass Insektizide nicht wirksamer seien als Dimeticon-Lösung auf Siliconbasis, zudem habe Dimeticon seltener Hautreizungen ausgelöst als Insektizide. Das Merkblatt äußert sich ohne Vorbehalte positiv zur Behandlung des Kopflausbefalls mit dimeticonhaltigen Medizinprodukten. Hiervon ist auch das Produkt der Klägerin umfasst, denn Jacutin® Pedicul Fluid besteht aus 100 Prozent reinem Dimeticon.
Eine unmittelbare Empfehlung für die Anwendung von Jacutin® Pedicul Fluid gibt sogar das ansonsten als pharmakritisch einzuschätzende, für seine Neutralität und Unabhängigkeit bekannte arznei-telegramm in seinem Heft 8/12 ab. Im Rahmen einer Besprechung des insektizidhaltigen Arzneimittels Malathion heißt es abschließend: „Angesichts der insgesamt unbefriedigenden Datenlage empfehlen wir, ein vom Umweltbundesamt geprüftes und auf der Entwesungsliste gelistetes Präparat zu verwenden, in erster Linie das physikalisch wirkende dimeticonhaltige Jacutin® Pedicul Fluid.“
Zusammenfassend gibt es damit seit 2008 nicht nur keine Anhaltspunkte, die gegen einen medizinischen Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid sprechen; vielmehr gibt es sogar jüngste Bewertungen aus ernst zu nehmenden Quellen, die auf einen medizinischen Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid deuten. In eine abschließende Bewertung des medizinischen Nutzens von Jacutin® Pedicul Fluid tritt der Senat an dieser Stelle gleichzeitig nicht ein, weil es rechtlich nicht darauf ankommt.
(2) Die Aufhebung des Bescheides vom 19. Juni 2008 basiert demgegenüber lediglich auf einer im Rahmen von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht relevanten anderen (und strengeren) Beurteilung der seit 2008 unverändert gegebenen Sachlage. Der Beklagte hält das im Jahre 2008 von der Klägerin vorgelegte Studienmaterial nun nicht mehr für ausreichend, um den medizinischen Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid zu belegen, weil eine bestimmte Evidenz nicht erreicht sei. Der Beklagte hat damit seine Anschauung gewandelt und will den medizinischen Nutzen von Jacutin® Pedicul Fluid nachträglich originär völlig neu bewerten. Diese Herangehensweise verletzt jedoch die in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufgestellten Voraussetzungen und damit das schützenswerte Interesse der Klägerin am Fortbestand der ihr mit Bescheid vom 19. Juni 2008 zugesprochenen Begünstigung. Der Beklagte hat damit in seinem Bemühen, dem materiellen Recht zu einer ständig sich aktualisierenden Geltung zu verhelfen, die Grenzen der §§ 45 ff. SGB X verkannt.
Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten führt die durch Beschlüsse vom 20. Mai 2010, 19. August 2010 und 21. Juli 2011 erfolgte Aufnahme der drei Medizinprodukte Dimet®20, Paranix® ohne Nissenkamm und Mosquito ® med LäuseShampoo in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie nicht zu einer „Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen“ im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Entscheidend ist insoweit, dass mit der Zulassung dieser drei Medizinprodukte zur physikalischen Behandlung des Kopfhaares bei Kopflausbefall nichts gesagt ist über den medizinischen Nutzen des Konkurrenzpräparats der Klägerin. Entscheidende therapeutische Vorteile dieser drei Produkte gegenüber Jacutin® Pedicul Fluid – bzw. relevante therapeutische Nachteile bei Jacutin® Pedicul Fluid – sind nach dem Inhalt der Akten auch nicht erkennbar. Auch sie haben physikalische Wirkweise und zielen auf ein Ersticken der Läuse ab; zudem ist mit Dimet®20 eines der drei Präparate auch dimeticonhaltig.
Dass die Aufnahme der drei genannten Präparate in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie – wie der Beklagte anführt – auf Grundlage höherwertiger Evidenz erfolgte, ist für den Verbleib von Jacutin® Pedicul Fluid in der Anlage V rechtlich unerheblich. Denn die Evidenzlage in Bezug auf Konkurrenzprodukte begründet so lange keine maßgebliche „Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen“ im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, wie damit nicht zugleich - zum Beispiel durch eine vergleichende Studie - der fehlende medizinische Nutzen des bereits gelisteten Produkts erwiesen ist; nicht ansatzweise ist hierfür aber etwas ersichtlich. Insgesamt unterliegt der Beklagte damit einer Fehlwertung, wenn er meint, ein später in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie aufgenommenes Medizinprodukt sei allein dadurch „zweckmäßiger“ im Sinne von § 29 Nr. 4 der Arzneimittelrichtlinie, dass es über eine Evidenz höheren Grades verfügt als ein schon länger in der Anlage V gelistetes Produkt.
Sofern der Beklagte Medizinprodukte listet, die nicht über optimale Evidenz verfügen, weil er die Versorgung der Versicherten sicherstellen will, ist er ohne Weiteres nach § 32 Abs. 2 Nr. 1 SGB X berechtigt, die Aufnahme eines Produkts in die Anlage V der Arzneimittelrichtlinie nach pflichtgemäßem Ermessen mit einer zeitlichen Befristung zu versehen, um die Zweckmäßigkeit des Präparats später im Lichte neuer Forschungsergebnisse erneut beurteilen zu können. Hiervon hat der Beklagte auch im Falle des Konkurrenzprodukts NYDA® Gebrauch gemacht, nicht aber im Falle des Produkts der Klägerin.
Eine Aufhebung der Listung von Jacutin® Pedicul Fluid in der Anlage V der Arzneimittelrichtlinie kommt damit nur in Betracht, wenn der Beklagte den Nachweis in Gestalt neuer Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin führt, dass das Medizinprodukt der Klägerin nicht den Voraussetzungen von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V in Verbindung mit § 29 der Arzneimittelrichtlinie entspricht (vgl. zur Beweislast Steinwedel a.a.O., Rdnr. 22). Hierfür hat der Beklagte jedoch nichts unternommen, so dass es bei der begünstigenden Entscheidung vom 19. Juni 2008 bleiben muss.
C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zuzulassen.