Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 14.11.2014 | |
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Aktenzeichen | L 1 KR 310/14 NZB | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 62 SGB 5, SGB 2, SGB 12 |
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2014 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die gemäß § 145 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2014 ist unbegründet. Denn weder ist die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts bereits kraft Gesetzes zulässig noch sind Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGG gegeben.
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 € nicht übersteigt, es sei denn, dass die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Im erstinstanzlichen Verfahren hat das Sozialgericht über einen Anspruch auf Erstattung von für das Jahr 2011 geleisteten Zuzahlungen in Höhe von 136,56 € entschieden. Im Streit sind damit weder Leistungen für mehr als ein Jahr, noch ist der erforderliche Wert des Beschwerdegegenstandes erreicht. Das zieht auch die Beklagte nicht in Zweifel.
Die Berufung ist auch nicht nach § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen. Hiernach ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3).
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtsache nur zu, wenn von der Entscheidung der Rechtssache erwartet werden kann, dass sie zur Erhaltung und Sicherung der Rechtseinheit und zur Fortbildung des Rechts beitragen wird. Dies ist wiederum nur dann der Fall, wenn es in einem Rechtsstreit um eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage geht, deren Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Klärungsfähigkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn es auf die als grundsätzlich angesehene Rechtsfrage im konkreten Rechtsfall ankommt, wenn sie also für den zu entscheidenden Streitfall rechtserheblich ist. Nicht klärungsbedürftig ist die Rechtsfrage, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, weil sie sich beispielsweise unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder sie bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl. Kummer, Der Zugang zur Berufungsinstanz nach neuem Recht, NZS 1993, S. 337 ff. [341] m. w. Nachw.).
An diesem Maßstab gemessen, hat die Beklagte keine klärungsbedürftige Rechtsfrage formuliert. Sie hält es für fraglich, ob § 62 Abs. 2 Satz 5 und 6 SGB V so verstanden werden können, dass sie (auch) eine Abweichung von den in § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB bestimmten Voraussetzungen ermöglich, unter denen zur Ermittlung von Belastungsgrenzen die Zuzahlungen und Bruttoeinnahmen von in einem Haushalt lebenden Angehörigen zusammen gerechnet werden. Konkret meint die Beklagte, es sei zu prüfen, ob von der in § 65 Abs. 2 Satz 1 SGB V angeordneten Zusammenrechnung von Zuzahlungen und Bruttoeinnahmen des Versicherten, seines Ehepartners und seiner nach § 10 SGB V versicherten Kinder, die in einem Haushalt zusammenleben, dann Abstand zu nehmen ist, wenn der Versicherte selbst Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - SGB II erhält -, sein behindertes Kind aber nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII -.
Diese Frage lässt sich indessen eindeutig aus dem Gesetz dahingehend beantworten, dass § 62 Abs. 2 Satz 5 und 6 SGB V nur eine Regelung dazu enthält, was bei Leistungsbeziehern nach dem SGB II und SGB XII als Bruttoeinnahme heranzuziehen ist. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die geleisteten Zuzahlungen und die Bruttoeinnahmen zusammenzurechnen sind, enthält § 62 Abs. 2 Satz 5 und 6 SGB V dagegen keine eigenständige Regelung, so dass insoweit § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB V maßgeblich bleibt. Entgegen der von der Beklagten vorgelegten Beschwerdebegründung ergibt sich die Antwort auf die von ihr formulierte Rechtsfrage danach ohne Weiteres aus dem Gesetz. Die Beklagte übersieht, dass die in § 60 Abs. 2 Satz 5 und 6 SGB V angeordneten Rechtsfolgen sich ausdrücklich nur auf die Frage des anzurechnenden Einkommens beziehen.
Die Rechtsfrage wird auch nicht dadurch klärungsbedürftig, dass nach Ziffer 4.1 Absatz 12 Beispiel 16 und 17 der Verfahrensgrundsätze zu § 62 SGB V „separat eine Belastungsgrenze“ zu ermitteln ist, wenn ein mit den Eltern in einem Haushalt zusammenlebendes behindertes Kind alleine Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII bezieht. Die von den Verbänden der Krankenkassen beschlossenen Verfahrensgrundsätze sind bloße Verwaltungsvorschriften, denen keine rechtliche (Außen-)Wirkung zukommt. Ihr Inhalt, soweit er hier in Frage steht, verstößt gegen die maßgebenden gesetzlichen Grundlagen. Im Übrigen ist für den Senat schlicht nicht nachvollziehbar, warum in Beispiel 16 der Verfahrensgrundsätze weiter eine Zusammenrechnung nach den Grundsätzen des § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB V trotz anderweitiger Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaft im SGB II-Leistungsbescheid stattfindet, in Beispiel 17 dagegen die in einem SGB XII-Leistungsbescheid getroffene Entscheidung über die Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaft die Zurechnungsprinzipien des § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB V verdrängen können soll.
Die Berufung ist auch nicht wegen einer Abweichung des Sozialgerichts von der Rechtsprechung eines Obergerichts zuzulassen (Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Dieser Zulassungsgrund setzt nach der Rechtsprechung des BSG voraus, dass einerseits ein abstrakter Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung und andererseits ein der Entscheidung eines Obergerichts zu entnehmender abstrakter Rechtssatz nicht übereinstimmen. Dabei muss das abweichende Gericht den mit der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht übereinstimmenden Rechtssatz seiner Entscheidung zugrunde gelegt, insoweit eine die Entscheidung tragende Rechtsansicht entwickelt und damit der obergerichtlichen Rechtsprechung im Grundsätzlichen widersprochen haben. Dagegen genügt nicht ein Rechtsirrtum im Einzelfall, also zum Beispiel eine fehlerhafte Subsumtion des Sachverhalts, eine unzutreffende Beurteilung oder das Übersehen einer Rechtsfrage (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 160 Rn. 13 und 14 m. w. Nachw.).
Die Voraussetzungen eines solchen Zulassungsgrundes sind hier nicht erfüllt. Das Sozialgericht hat keinen von der obergerichtlichen Rechtsprechung abweichenden tragenden Rechtssatz entwickelt. Selbst wenn das Sozialgericht von der obergerichtlichen Rechtsprechung bereits aufgestellte Grundsätze ignoriert oder falsch angewandt haben sollte, würde sich daraus keine grundsätzliche Abweichung von der obergerichtlichen Rechtsprechung ergeben. Insoweit läge lediglich ein unbeachtlicher Rechtsirrtum im Einzelfall vor.
Schließlich ist die Berufung auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG) zuzulassen. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. Der geltend gemachte Mangel muss sich auf das Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil und nicht auf den sachlichen Inhalt des Urteils beziehen. Der Verfahrensmangel muss wesentlich sein, d. h. das angefochtene Urteil muss auf diesem Mangel beruhen können. Dies ist schon dann der Fall, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Verfahrensmangel das Urteil beeinflusst hat, das Gericht also ohne diesen Verfahrensmangel zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Urteil gekommen wäre (Leitherer, a. a. O., § 160 RdNr. 23). Dabei ist bei der Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, von der Rechtsauffassung des Gerichts auszugehen, dem der Verfahrensmangel unterstellt wird. Solche Verfahrensmängel liegen hier indessen nicht vor. Weder hat die Beklagte ihr Vorliegen geltend gemacht, noch sind für den Senat entsprechende Anhaltspunkte ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Durch die zugunsten des Klägers erfolgte Kostenentscheidung hat sich sein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erledigt.
Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden. Nach § 145 Abs. 4 Satz 5 SGG wird das Urteil des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Landessozialgericht rechtskräftig.