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Drittanfechtungsklage - Vertrauensschutz - Verwirkung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 1. Senat Entscheidungsdatum 01.03.2012
Aktenzeichen L 1 KR 44/10 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 45 SGB 10, § 49 SGB 10

Tenor

Die Berufungen werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Im Streit steht der Sache nach die Frage, ob der Beigeladene zu 1) und Berufungskläger zu 1) (nachfolgend nur noch: „der Beigeladene“) im Rahmen seiner Tätigkeit für die Beigeladene zu 2) und Berufungsklägerin zu 2) (nachfolgend nur noch: „die Beigeladene“) in abhängiger Beschäftigung ab dem 1. Juli 2004 in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.

Der Beigeladene ist seit diesem Tag Mitglied der Beklagten. Zuvor war er bei der DAK versichert.

Am 1. April 2004 beantragte er bei der Beklagten die Mitgliedschaft. Er übersandte zugleich einen „Feststellungsbogen zur versicherungsrechtlichen Beurteilung“. Die Beklagte gelangte nach Prüfung der Unterlagen zu dem Ergebnis, dass er seit dem 24. November 1997 in keinem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis mehr stehe. Dieses Ergebnis teilte sie unter anderem der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als damaligem Rentenversicherungsträger und Rechtsvorgängerin der jetzigen Klägerin (nachfolgend nur noch „die Klägerin“) mit Schreiben vom 19. April 2004 mit. Diese antwortete mit Schreiben vom 27. Mai 2004, ihrer Auffassung nach unterliege der Beigeladene als Fremdgeschäftsführer der Versicherungspflicht.

Mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 3. Juni 2004 - gerichtet an den Beigeladenen - stellte die Beklagte fest, dass dieser in seiner Beschäftigung für die Beigeladene selbständig tätig sei. Eine Rechtsmittelbelehrung war dem Bescheid nicht beigefügt. Er war (nur) an den Beigeladenen adressiert. Dieser erhob zunächst Widerspruch. Die Beklagte teilte ihm daraufhin mit Schreiben vom 1. Juli 2004 mit, aus den eingereichten Unterlagen gehe eindeutig hervor, dass er aufgrund seiner Vorstandseigenschaft beim einzigen Gesellschafter der Beigeladenen sich selbst Weisungen erteilen könnte, so dass nicht von einer abhängigen Beschäftigung ausgegangen werden könne.

Der Beigeladene nahm daraufhin seinen Widerspruch zurück. Er schloss zur Altersvorsorge mit Versicherungsbeginn 1. Dezember 2004 eine Rentenversicherung zu einem Beitrag von 300,- Euro monatlich (bei der S Versicherung), eine fondsgebundene Rentenversicherung mit demselben Versicherungsbeginn und demselben monatlichen Beitrag (bei der A) sowie eine Risikolebensversicherung mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung mit Versicherungsbeginn 1. Juni 2005 und einem zu Beginn zu zahlenden Monatsbeitrag von 193,79 Euro (U) ab.

Die Beklagte teilte der Klägerin unter dem 26. Juli 2005 mit, ihren Rechtsstandpunkt beizubehalten. Den bereits ergangenen Bescheid erwähnte sie dabei nicht. Die Klägerin antwortete mit Schreiben vom 1. September 2005 und bat „erneut, Ihren Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2004 aufzuheben und dies auch der DAK mitzuteilen“.

Der Beigeladene schrieb am 27. September 2005 an die Beklagte, mittlerweile habe er sich auf die Einstufung als Selbständiger eingestellt. Die abgeschlossenen privaten Versicherungen könnten nur mit hohen Verlusten rückabgewickelt werden. Der Einschätzung der Beklagten habe sich auch die DAK angeschlossen. Die Beklagte nahm dies zum Anlass, der Klägerin mit Schreiben vom 14. Oktober 2005 mitzuteilen, ihren Bescheid vom 3. Juni 2004 mittlerweile als einen rechtswidrigen begünstigen Verwaltungsakt nach § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) anzusehen. Eine Aufhebung dieses Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit und auch für die Zukunft könne aufgrund des Vertrauens, welches der Beigeladene in die getroffenen Vermögensdispositionen genieße, nicht vorgenommen werden.

Die Klägerin erhielt am 27. Dezember 2004 von der DAK unter anderem den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2004 übersandt. Bei den ihr übersandten Unterlagen handelte es sich um einen Antrag auf Beitragserstattung, welche die Beigeladenen bei der DAK für den Zeitraum bis 30. Juni 2004 eingereicht hatten. Die Klägerin bat den Beigeladenen in diesem Zusammenhang mit Schreiben vom 22. Februar 2005 um einen Verzicht auf die Schutzwirkung einer zwischenzeitlich erfolgten Betriebsprüfung im Hinblick auf § 26 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV). Sie machte in der Folgezeit gegenüber der Beklagten weiterhin geltend, es sei von einer abhängigen Beschäftigung auszugehen. Eine entsprechende Mitteilung wurde ausweislich eines Aktenvermerkes der Klägerin am 29. Juni 2005 dem Beigeladenen telefonisch mitgeteilt. Dieser erläuterte mit Faxschreiben vom 29. Juni 2005 daraufhin seinen Standpunkt und bat die Klägerin, den Fall endlich zu klären. Die Beklagte lehnte es gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 14. Oktober 2005 erneut ab, den Bescheid vom 3. Juni 2004 zurückzunehmen.

Die Klägerin hat am 17. Oktober 2005 beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2004 erhoben.

Das SG hat mit Urteil vom 14. Januar 2010 den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2004 aufgehoben, soweit dieser die Versicherungsfreiheit des Beigeladenen in der gesetzlichen Rentenversicherung festgestellt hat. Es hat festgestellt, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Tätigkeit für die Beigeladene in der Zeit ab dem 1. Juli 2004 versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung sei.

Zur Begründung hat des SG unter anderem ausgeführt, der Bescheid sei bereits deshalb rechtswidrig, weil er inhaltlich nicht hinreichend bestimmt sei. Aus ihm werde nicht ersichtlich, für welchen Zeitraum die getroffene Feststellung gelten solle. Weiter sei das Vertrauen des Beigeladenen auf den Bestand des angefochtenen Bescheides nicht nach § 45 Abs. 1 bis 4 SGB X geschützt. Es sei bereits zweifelhaft, ob es sich überhaupt um einen begünstigenden Verwaltungsakt handele. Zunächst habe der Beigeladene selbst Widerspruch erhoben. Die Regelung des § 45 SGB X gelte jedenfalls aufgrund § 49 SGB X nicht. Die Klägerin sei, obwohl sie Versicherungsträgerin sei, Dritte im Sinne dieser Vorschrift. Die Anwendung des § 49 SGB X sei nicht davon abhängig, ob der durch ihn Begünstigte bei seinem Erlass damit hätte rechnen können, dass er von der Klägerin noch mit der Klage angefochten werden könnte (Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 1. Juli 1999 - B 12 KR 2/99 R - BSGE 84, 136).

Gegen dieses Urteil richten sich die Berufungen des Beigeladenen zu 1) und der Beigeladenen zu 2). Sie wenden sich ausdrücklich nicht gegen die Annahme des SG, der Beigeladene sei abhängig beschäftigt gewesen. Die etwaige mangelnde Bestimmtheit des Bescheides vom 3. Juni 2004 führe nicht zu dessen Nichtigkeit. Die Beigeladenen könnten sich deshalb auf Vertrauensschutz berufen. § 49 SGB X sei nicht einschlägig, weil diese Ausnahmevorschrift voraussetze, dass der Verwaltungsakt während des sozialgerichtlichen Verfahrens aufgehoben werde. Anderenfalls würde der Bestandsschutz immer bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung entfallen.

Auch nach dem Urteil des LSG Berlin vom 3. Juni 1998 (L 9 KR 49/97) sei der Vertrauensschutz des § 45 Abs. 2 SGB X zu beachten.

Der Beigeladene zu 1) beantragt,

1.das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Januar 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
2.festzustellen, dass eine Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 3. Juni 2004 der Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB X entgegenstehe.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beigeladenen zu 1) zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Berufungen sind durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuweisen. Der Senat hält sie einstimmig für unbegründet. Er hält auch eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind auf die Absicht, so vorzugehen, zuletzt mit Verfügung vom 9. Januar 2012 hingewiesen worden.

Der Senat geht davon aus, dass sich die Beigeladene zu 2) dem Berufungsantrag des Beigeladenen auch ohne ausdrücklichen Antrag kostenunschädlich anschließt.

Die Berufungen bleiben ohne Erfolg.

Das SG hat die Klage zu Recht als zulässig und begründet angesehen. Auf seine Ausführungen - mit Ausnahme der zur vorgeblichen Unbestimmtheit des Bescheides - wird zunächst nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen.

Die Klage ist als Kombination von Anfechtungsklage und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) zulässig.

Vor Erhebung der Anfechtungsklage bedurfte es keines Vorverfahrens, weil die Klägerin ein Versicherungsträger nach der Ausnahmevorschrift des § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. SGG ist.

Die Klägerin ist auch klagebefugt, § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG. Sie macht geltend, durch den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2004 in eigenen Rechten verletzt zu sein. Ist der Verwaltungsakt wie hier gegenüber einem Dritten ergangen, ist eine Rechtsverletzung möglich, sofern zumindest mittelbar eigene rechtliche Interessen der Klägerin betroffen sind (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 54 Rdnr. 14 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, BSGE 61, 27). Eine solche rechtliche Beschwer der Klägerin besteht hier, wie sogleich auszuführen ist. Die Feststellungen der Beklagten zur Versicherungsfreiheit haben Auswirkung auf deren Beitragsansprüche.

Die Klage ist auch fristgemäß erhoben. Die Monatsfrist des § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG beginnt gemäß § 66 Abs. 1 SGG nur dann zu laufen, wenn der "Beteiligte" über den Rechtsbehelf schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Die Klägerin ist Beteiligte, auch wenn sie als mittelbare Bundesverwaltung keiner Rechtsmittelbelehrung bedarf. Beteiligte sind nämlich nach § 69 SGG (alle) Kläger. Statt der Monatsfrist hat deshalb gemäß § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG eine Jahresfrist seit Bekanntgabe gegolten.

Die Klägerin hat das Klagerecht auch nicht verwirkt (siehe dazu aufgrund des Zusammenhangs mit dem geltend gemachten Vertrauensschutz unten).

Die Klage ist auch begründet:

Die Beigeladenen können sich nicht auf den Vertrauensschutz der §§ 45ff SGB X berufen. Rücknahmevorschriften sind nämlich bereits nicht einschlägig: Der angefochtene Bescheid ist nie bestandskräftig geworden (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 30. August 2011 - L 1 KR 88/10 -).

Das Vertrauen des Beigeladenen auf den Bestand des angefochtenen Bescheides wäre auch dann nicht nach § 45 Abs. 1 bis 4 SGB X geschützt. Diese Regelungen gelten nach § 49 SGB X nicht, wenn - wie hier - ein begünstigender Verwaltungsakt von einem Dritten - hier der Klägerin - angefochten wurde. Auf Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB X können sich die Beigeladenen nicht berufen, weil § 49 SGB X dies selbst dann ausschließt, wenn der Versicherungsträger selbst aus Anlass des Drittwiderspruchs eine Rücknahme- oder Widerrufsentscheidung trifft. Für das Gericht und die Widerspruchsstelle als zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit berufene Stellen kommt es bei einer Aufhebung im laufenden Verfahren nur auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und die Rechtsverletzung des Dritten an, nicht hingegen darauf, ob der Verwaltungsakt in einem gesonderten Verwaltungsverfahren widerrufen, aufgehoben oder zurückgenommen werden könnte.

Die Beigeladenen können sich für anderes auch nicht mit Erfolg auf die von ihnen angeführte Entscheidung des LSG Berlin berufen. Zu Recht hat die Klägerin in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass sich die Ausführungen des LSG Berlin zu § 45 SGB X nur auf einen Zweitbescheid bezogen haben. Vorliegend jedoch hat die Klägerin erstmals und nur mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 3. Juni 2004 die Sozialversicherungspflicht verneint.

Auch die von den Beigeladenen angeführte Kommentierung von Steinwedel (Kassler Kommentar, § 49 SGB X Rdnr. 5) stellt nur darauf ab, dass der Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig geworden sein darf. Dem Widerspruch bzw. der Klage des Dritten im Sinne des § 49 SGB X soll nicht (lediglich) eine Überprüfung nach § 44 SGB X oder ähnliches zu Grunde liegen.

Von Bestandskraft wäre allerdings auszugehen, wenn die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt hätte und diese als unzulässig zurückzuweisen wäre (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Urteil vom 23. Juli 2009 (- L 1 KR 406/08 -; juris).

Besondere Umstände, die eine Verwirkung auslösen, liegen vor, wenn der Verpflichtete (hier: die Beigeladenen) in Folge eines bestimmten Verhaltens (Verwirkungsverhalten) berechtigt vertrauen durfte, dass der Berechtigte (hier: die Klägerin) das Recht (hier: Klagerecht mit der möglichen Konsequenz im Falle eines obsiegenden Urteils, Beiträge nachfordern zu können) nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich in Folge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten) dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (so bereits Urteil des Senats vom 17. April 2008 - L 1 KR 356/06 - unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 29. Januar 1997 BSGE 80, 41, Juris-Rdnr. 18 mit weiteren Nachweisen der ständigen Rechtsprechung des BSG). Bloße Untätigkeit alleine reicht für ein Verwirkungsverhalten nicht aus. Es müssen vielmehr besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer die spätere Geltendmachung als Verstoß gegen Treue und Glauben empfunden wird.

Hier kommt als entsprechendes Verhalten der Klägerin den Beigeladenen gegenüber lediglich das Schreiben vom 22. Februar 2005 im Zusammenhang mit der Beitragserstattung für die Zeit vor dem 30. Juni 2004 in Betracht. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beigeladene aber bereits die beiden privaten Rentenversicherungen abgeschlossen. Eine Kausalität scheidet aus.

Zudem betraf die Erstattung einen anderen Zeitraum und ließ objektiv betrachtet allenfalls marginal und inzident ein Vertrauen erwecken, dass die Klägerin die Rechtsauffassung der Beklagten teilen bzw. akzeptieren könnte.

Der Beklagten gegenüber hat sich die Klägerin zudem immer eindeutig positioniert, wie auch der Beigeladene ausweislich seines Faxschreibens vom 29. Juni 2005 wusste. Auch deshalb scheidet Vertrauen aus.

Die von den Beigeladenen begehrte Feststellung ist als sachdienlich und damit zulässig anzusehen (ständige Rechtsprechung des Senats). Sie hat jedoch aus den genannten Gründen keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung richtet sich für das zweitinstanzliche Verfahren nach § 193 SGG. § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG ist in diesem Rechtszug nicht einschlägig, weil der Beigeladene als Berufungskläger als Versicherter zum Personenkreis des § 183 Satz 1 SGG gehört. Die Entscheidung entspricht dem Ergebnis in der Sache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.