Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 7. Senat | Entscheidungsdatum | 03.09.2013 | |
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Aktenzeichen | OVG 7 M 27.13 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 166 VwGO, §§ 114ff ZPO, § 48 VwVfG, § 49 VwVfG, § 51 VwVfG, § 53 AufenthG, § 55 AufenthG, § 56 AufenthG, § 45 AuslG 1990, § 47 AuslG 1990, § 48 AuslG 1990, Art 6 Abs 1 EWGAssRBes 1/80, Art 7 EWGAssRBes 1/80 |
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 23. Januar 2013 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Die Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren erster Instanz, in dem der Kläger das Wiederaufgreifen der mit Bescheid vom 4. September 2002 gegen ihn verfügten Ausweisung begehrt, zu Recht wegen nicht hinreichender Erfolgsaussichten (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO) abgelehnt.
Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger, der gegenwärtig eine lebenslange Haftstrafe wegen Anstiftung zum Mord in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung und Anstiftung zum unerlaubten Führen einer halbautomatischen Selbstladewaffe sowie wegen erpresserischen Menschenraubs verbüßt, keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs.1 Nr. 1 bis 3 oder Abs. 5 VwVfG habe.
Eine Änderung der Sachlage durch die weitere Entwicklung nach Bestandskraft der Ausweisung, hinsichtlich derer die seinerzeit erhobene Klage als verspätet abgewiesen worden sei (Gerichtsbescheid vom 11. April 2003 – VG 22 A 427.02 -), sei im Rahmen der Befristung der Wirkungen der Ausweisung, die als spezialgesetzliche Regelung vorgehe, zu prüfen; einen Befristungsantrag wolle der Kläger jedoch nicht stellen. Eine Änderung der Rechtslage liege nicht vor. Soweit der Kläger geltend mache, er hätte als türkischer Staatsangehöriger nur aufgrund einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürfen, in deren Rahmen auch die Verhältnismäßigkeit nach dem Maßstab des Art. 8 EMRK zu prüfen gewesen sei, sei lediglich die Rechtslage durch die Rechtsprechung konkretisiert worden; die Rechtsordnung habe sich nicht geändert. Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Widerruf bzw. Rücknahme der Ausweisung nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48 bzw. 49 VwVfG sei durch den angefochtenen Bescheid des Beklagten erfüllt. Eine Reduzierung zum Anspruch liege nicht vor, weil das Festhalten an der Ausweisung des Klägers nicht wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit oder Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme schlechthin unerträglich sei. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben seien erst nach Erlass der Ausweisung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts bekannt geworden, so dass der Beklagte sie noch nicht beachten konnte, als die Ausweisung verfügt wurde.
Die Beschwerde führt zu keinem anderen Ergebnis. Dem Kläger kann grundsätzlich nicht darin gefolgt werden, dass seine Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Ausweisung hindert oder gar – ein Wiederaufgreifen entbehrlich machend – zu deren Nichtigkeit führen würde. Höchstrichterlich ist vielmehr anerkannt, dass der Umstand, dass ein Ausländer wegen der von ihm begangenen Straftaten nicht in sein Heimatland abgeschoben werden kann, eine Ausweisung nicht ausschließt; diese könne ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers, sondern nur zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führe (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 2004 – 1 C 25.03 – BVerwGE 121, 356, juris Rn. 15 m.w.N.). Es verhält sich im Übrigen auch nicht so, dass der Umstand der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe eine Abschiebung des Klägers in die Türkei ausschließen würde; eine solche ist vielmehr möglich, wenn die Strafvollstreckungsbehörde von der – weiteren – Vollstreckung der Freiheitsstrafe absieht (vgl. § 456a Abs. 1 StPO).
Die Verurteilung des Klägers zu lebenslanger Freiheitsstrafe steht deshalb auch nicht der Anwendbarkeit der Befristungsbestimmung in § 11 AufenthG als spezieller Regelung zur Erfassung im Anschluss an die Ausweisungsverfügung eingetretener, für den Ausländer günstiger Entwicklungen entgegen, die einen Rückgriff auf die allgemeine Bestimmung des § 51 Abs. 1 VwVfG bei nachträglichen Änderungen der Sachlage ausschließt.
Eine Änderung der Rechtslage liegt entgegen der Auffassung des Klägers ebenfalls nicht vor. Eine Änderung der Rechtslage kann zunächst nicht in der Ablösung des AuslG 1990 durch das AufenthG 2004 gesehen werden, weil die Ausweisungsbestimmungen, soweit sie im Fall des Klägers anzuwenden sind, sich inhaltlich nicht zugunsten des Klägers geändert haben. Das kann bereits als Beleg dafür dienen, dass die Modifikationen bei der Anwendung dieser Vorschriften durch die Rechtsprechung des EuGH (betr. Unionsbürger: Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri -, DVBl 2004, 876) und des BVerwG (Urteil vom 3. August 2004 – 1 C 29.02 -, BVerwGE 121, 315) das geschriebene Recht nicht verändert haben, sondern nur seine Auslegung im Sinne einer Vereinbarkeit mit dem Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht dahin, dass auch bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Regelausweisung in Bezug auf gemäß ARB 1/80 privilegierte türkische Staatsangehörige Ermessen auszuüben ist und sich die Gründe, die für die Ausweisung herangezogen werden dürfen, darauf reduzieren, dass der Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt.
Soweit sich der Kläger darauf beruft, dass eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG aufzufassen sei, wenn sie eine neue allgemeine Rechtsauffassung begründet, missversteht er den Gehalt der von ihm herangezogenen Rechtsmeinung. Denn diese zielt nicht auf solche Entscheidungen, die das geschriebene Recht anders auslegen und dadurch seine Anwendung modifizieren, sondern auf Rechtsprechung, mit der ungeschriebenes Recht, etwa Gewohnheitsrecht, anerkannt und fortgebildet wird oder die die Grundsätze betrifft, die bei der Anwendung für solche Änderungen offener Generalklauseln des Rechts zu beachten sind. Denn insoweit mögen Änderungen der Rechtsprechung zugleich die allgemeine Rechtsauffassung in vergleichbarer Weise beeinflussen können, wie dies bei einer Änderung geschriebenen Rechts der Fall ist. In diese Kategorie fällt indessen die Rechtsprechung zu Ausweisungen durch die Regelungen des ARB 1/80 privilegierter türkischer Staatsangehöriger nicht, weil damit keine allgemeinen Rechtsgrundsätze modifiziert werden, sondern davon lediglich die gemeinschafts- bzw. unionskonforme Auslegung des geschriebenen Rechts betroffen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26.08 – BVerwGE 135, 137 Rn. 16). Soweit der Kläger eine weitergehende Auffassung vertreten will, folgt der Senat dem nicht und sieht darin auch keinen Anlass, dem Kläger Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist auch nicht im Hinblick auf die Ausführungen des Klägers zur vermeintlichen Erforderlichkeit eines Vorverfahrens bei der Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger geboten. Ein solches Erfordernis wurde zwar nach der Ausweisung des Klägers angenommen (vgl. zum sog. Vier-Augen-Prinzip: EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 – Rs. C-136/03 – Dörr und Ünal, juris; BVerwG, Urteil vom 13. September 2005 – 1 C 7.04 – BVerwGE 124, 217). Das bleibt aber – unabhängig davon, ob diese Rechtsprechung als Änderung der Rechtslage qualifiziert werden kann - für das mit der Klage geltend gemachte Verpflichtungsbegehren des Klägers ohne Auswirkung. Denn für die Entscheidung darüber ist die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz maßgeblich, so dass für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage im Prozesskostenhilfeverfahren die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats zugrunde zu legen ist. Insofern hat sich die Rechtslage jedoch nicht zu Gunsten des Klägers geändert. Nachdem vom Europäischen Gerichtshof klargestellt worden ist, dass auf privilegierte türkische Staatsangehörige weder die Bestimmungen der außer Kraft getretenen Richtlinie 64/221/EWG noch diejenigen der Unionsbürgerrichtlinie (Rili 2004/38/EG) Anwendung finden, sondern die sog. Drittstaatsangehörigenrichtlinie (2003/109/EG) den Bezugsrahmen für die Reichweite ihrer assoziationsrechtlichen Privilegierung bildet (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 – Rs. C-371/08 – Ziebell, NVwZ 2012, 422, Rn. 68 – 74), und das Bundesverwaltungsgericht sich in seiner Rechtsprechung umfassend mit der vom Kläger vertretenen Rechtsansicht zur Erforderlichkeit eines behördlichen Vorverfahrens auseinandergesetzt hat (vgl. etwa Beschluss vom 15. April 2013 – 1 B 22.12 – juris Rn. 4 – 15) und auch der Senat insoweit keinen Klärungsbedarf mehr sieht (vgl. Urteil vom 15. August 2013 – OVG 7 B 24.13 – zur Veröffentlichung in juris vorgesehen), kann nicht angenommen werden, dass für entsprechende Ausweisungsentscheidungen ein behördliches Vorverfahren zwingend vorgeschrieben wäre.
Erfolgsaussichten können der Klage auch nicht mit Blick auf die Ausführungen des Klägers zu der Begründung des Verwaltungsgerichts bezüglich des Anspruchs auf ermessenfehlerfreie Entscheidung über die Aufhebung der früheren Ausweisungsentscheidung im Wege des Widerrufs oder der Rücknahme eingeräumt werden. Der Senat ist bei summarischer Prüfung der Auffassung, dass der Kläger seinerzeit – bei ggf. erforderlicher Anstellung der notwendigen Ermessenserwägungen – rechtmäßig hätte ausgewiesen werden können, so dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Festhalten an der Ausweisung den Kläger unzumutbar und schlechthin unerträglich trifft. Die abschließenden Ausführungen der Beschwerde lassen überdies Zweifel aufkommen, ob der Kläger die abgeurteilte Straftat während der bisherigen Strafverbüßung bereits umfassend aufgearbeitet hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es wegen der gesetzlich bestimmten Festgebühr nicht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).