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Multiple Sklerose - MS - Off-Label-Use - IVIG


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 1. Senat Entscheidungsdatum 13.07.2012
Aktenzeichen L 1 KR 30/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 2 Abs 1a SGB 5, § 31 Abs 1 SGB 5

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Im Streit steht, ob die Beklagte die Klägerin mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG) zur Behandlung ihrer Multiplen Sklerose (MS) zu versorgen hat.

Die 1953 geborene und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Klägerin leidet seit ca. 1994 an einer schubförmig verlaufenden MS. Die Erstdiagnose dieser Erkrankung erfolgte im Mai 2004. Die Klägerin erhielt zunächst bis November 2004 eine Therapie mit dem Arzneimittel Copaxone® (Wirkstoff: Glatirameracitat).

Mit Schreiben vom 27. April 2005 beantragte sie bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine IVIG-Therapie mit Octagam®. Beigefügt war eine Bescheinigung des J Krankenhauses B, Prof. Dr. med. H. Danach seien die unter Copaxone® aufgetretenen Nebenwirkungen auch unter einer Interferontherapie zu erwarten, da hier im Zusammenhang mit grippeähnlichen Nebenwirkungen ausgeprägte Tachycardien aufträten. Für die Therapien erster Wahl bestünden somit eine Unverträglichkeit bzw. Gegenanzeigen. Empfohlen werde deshalb entsprechend der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie als Zweite-Linie-Therapie 10 Gramm IVIG pro Monat. Die Kosten lägen nicht über den Kosten der Erste-Wahl-Therapien.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. R vom 21. Juni 2005 ein und beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) mit einer gutachterlichen Stellungnahme, welche unter dem 22. Juni 2005 erging.

Mit Bescheid vom selben Tag lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme für das Medikament Octagam® ab. Die Voraussetzungen eines zulassungsüberschreitenden Off-Label-Use lägen nicht vor, da die klinisch relevante Wirksamkeit der Therapie nicht durch Studien der Phase III belegt sei.

Die Klägerin erhob Widerspruch. Sie wies unter anderem auf die bei ihr bestehende EBV-Infektion (Eppstein-Bar-Virus; Auslöser des Pfeifferschen Drüsenfiebers), bei welchem Octagam® weitere Infektionen verhindere. Auch heile Octagam® ihre Candida-Allergie. Die Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer Stellungnahme der Prof. Dr. H und eines neuerlichen MDK-Gutachtens mit Widerspruchsbescheid vom 30. September 2005 bestandskräftig zurück.

Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 22. November 2005 eine Überprüfung der Ablehnung gemäß § 44 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X). Ihrer bereits geschilderten Herzproblematik, aufgrund derer sie Betaferon® nicht vertrüge, sei keine Beachtung geschenkt worden, auch nicht ihren weiteren Erkrankungen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 1. Februar 2006 eine Rücknahme ihres Bescheides vom 22. Juni 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 30. September 2005 ab.

Die Klägerin erhob erneut Widerspruch, in dem sie auf neuere wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie eine weitere Stellungnahme von Prof. Dr. H verwies.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17. März 2006 zurück.

Hiergegen hat sich die beim Sozialgericht Berlin (SG) am 13. April 2006 erhobene Klage gerichtet.

Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe Copaxone® zunächst gut vertragen. Im September 2005 seien jedoch tagelang spontan massive unterschiedliche Herzrhythmusstörungen aufgetreten. Auch habe sie an starker Hitzewallung, Angstgefühlen, hängenden Augenlidern, blauen Augenhöhlen, Schlaflosigkeit und Schwäche gelitten. Nach Absetzen des Medikamentes seien diese Nebenwirkungen verschwunden. Bereits im Oktober 2004 sei bei ihr ein Mitralklappenprolaps mit Mitralinsuffizienz diagnostiziert worden. Nach einem erneuten Schub im Mai 2005, welcher mit Cortison im Krankenhaus behandelt wurde, habe sie an Fieber, Muskelschmerzen, Skelettschmerzen, einem schmerzhaften Husten, Schnupfen und Schwäche gelitten. Ihr Zustand habe sich lange nicht gebessert. Der Hausarzt habe eine chronisch-reaktive EBV-Infektion festgestellt, welche durch die Cortison-Therapie ausgelöst worden sei. Bereits im April 2004 sei es ihr nach der Cortison-Stoß-Therapie ähnlich ergangen. Nach einem erneuten Schub habe sie im Dezember 2005 erstmals IVIG verabreicht bekommen, welche sie gut vertragen habe und die wirksam gewesen seien. Ein erneuter Schub im März 2006 sei vom Krankenhaus aufgrund fehlender Kostenübernahme nicht mit IVIG behandelt worden. Ihr stehe ein Anspruch auf Versorgung mit Octagam® zu. Die Voraussetzungen eines zulassungsüberschreitenden Off-Label-Use nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien erfüllt. Es lägen insbesondere außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse vor, aufgrund derer innerhalb der beteiligten Fachkreise ein wissenschaftlicher Konsens über die Wirksamkeit des Präparates bestehe. Die Klägerin hat sich ferner auf ein Sachverständigengutachten berufen, welches das SG Berlin - 23. Kammer - in einem anderen Rechtsstreit in Auftrag gegeben hatte.

Das SG hat im parallelen Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes (Aktenzeichen SG Berlin S 86 KR 661/06 ER) einen Befundbericht des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. R und beim Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) eine Stellungnahme eingeholt. Im genannten Eilverfahren hat das SG die Beklagte mit Beschluss vom 3. Juli 2006 einstweilen verpflichtet, der Klägerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache nach ärztlicher Verordnung die ambulante Gabe von IVIG (Octagam) zu gewähren.

Die Beklagte hat eine Stellungnahme des MDK Westfahlen-Lippe (Arbeitsgruppe M5 „Arbeitsmittel“ der MDK-Gemeinschaft zum Einsatz von Immunglobulinen bei MS) „Update Stand Dezember 2005“ eingereicht. Auf Veranlassung des SG hat schließlich auch das Paul-Ehrlich-Institut - Bundesamt für Sera und Impfstoffe – (PEI) unter dem 7. Mai 2009 Stellung genommen.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 14. Januar 2010 die Klage abgewiesen.

Der Klägerin stehe der geltend gemachte Anspruch auf Übernahme der Kosten der IVIG-Behandlung nicht zu. Die Voraussetzungen für einen zulassungsüberschreitenden Off-Label-Use läge bei der Gabe von IVIG zur Behandlung der MS weder vergangenheitsbezogen noch aktuell vor (Bezugnahme auf LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.06.2009 - L 24 KR 213/08). Am medizinischen Sachstand habe sich seit jener Entscheidung nichts Wesentliches geändert.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin.

Der GBA hat in seiner Sitzung am 20. Oktober 2011 beschlossen, die Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie) in der Fassung vom 18. Dezember 2008/22. Januar 2009 (BAnz. Nr. 49a vom 31. März 2009), aufgrund der zur Umsetzung in der Arzneimittel-Richtlinie zugeleiteten Empfehlung „Bewertung der Expertengruppe Off- Label im Bereich Neurologie/Psychiatrie nach § 35b Abs. 3 SGB V zur Anwendung von Intravenösem Immunglobulin G (IVIG) im Anwendungsgebiet Multiple Sklerose“ (Stand 21. Juni 2010) nicht zu ändern.Auf Basis der Empfehlung der Expertengruppe lasse sich weder eine positive noch eine negative Bewertung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis feststellen.

Mit Blick auf die divergierenden Studienergebnisse halte die Expertengruppe weitere methodisch angemessene Studien für erforderlich, insbesondere für die viel versprechende, aber bisher unzureichend gesicherte Indikation Schwangerschaft und Stillzeit, da hier ein besonderer Mangel an Therapiealternativen bestehe. Angesichts der Heterogenität in der Bewertung der aktuellen Evidenzlage und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die wissenschaftliche Diskussion zu den widersprüchlichen Ergebnissen älterer randomisierter Studien im Vergleich zur PRIVIG-Studie anhalte, werde von einer Umsetzung in die Arzneimittel-Richtlinie abgesehen. In der am selben Tag aktualisierten Information des PEI zur Therapie der schubförmigen MS mit IVIG, die so bis heute von diesem im Internet veröffentlicht ist (vgl. http://www.pei.de/cln_236/nn_154580/sid_E9F6C706425500B89ED36BD7DA00D6E9/DE/infos/fachkreise/arzneimittelhinweise-ohne-sicherheitsinformationen/ablage/2005-10-21-ms-ig.html), heißt es u.a.:

„Auswirkungen neuerer Daten auf die Zulassungssituation in Deutschland

Aus den z.T. widersprüchlichen Daten der oben ausgeführten Studien, kann keine klare Aussage zur Wirksamkeit der Immunglobuline bei der Behandlung der schubförmigen MS abgeleitet werden. Ein postiver Effekt bei der Reduktion der postpartalen Schübe müsste weiter erhärtet werden.

Die Erteilung einer Zulassung eines bestimmten Produktes für die Indikation "schubförmige MS" unterliegt der Voraussetzung, dass eine kontrollierte, adäquat durchgeführten Phase III-Studie für das jeweilige Produkt durchgeführt wird. Nur so können Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit eines gegebenen Präparates ausreichend beurteilt werden. Somit liegen aus Sicht des Paul-Ehrlich-Instituts noch immer keine Voraussetzungen zur Erteilung einer Zulassung für die Indikation „schubförmige MS“ für ein gegebenes Immunglobulinpräparat vor. Für andere, bereits zugelassene Produkte wie Beta-Interferone oder Copaxone lagen solche Studien vor Zulassung vor, weswegen die Datenlage für diese Produkte sehr viel verlässlicher ist.

Das Paul-Ehrlich-Institut wird die Diskussion mit Herstellern von Immunglobulinen und mit Ärzten, die Patienten mit Multipler Sklerose behandeln, weiterhin fortführen. Es beabsichtigt, nach dem Bekanntwerden neuer Erkenntnisse diese Stellungnahme zu aktualisieren.“

Die Klägerin führt zur Berufungsbegründung aus, die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use lägen vor. Es gebe sowohl Studien als auch ein Konsens in Fachkreisen, welcher auch durch die Therapieempfehlungen und Leitlinien unterstützt werde. Auch sei damit zu rechnen, dass die dem GBA zuarbeitende Expertengruppe beim Bundesinstitut für Arzneimittel zu einem positiven Ergebnis kommen werde.

Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und beim Beklagten eine erneute Einschaltung des MDK angeregt. Die Sachverständige des MDK Dr. S nahm mit Gutachten vom 24. Januar 2012 umfassend Stellung, auf das ergänzend verwiesen wird.

Die Klägerin zweifelt die Kompetenz der MDK-Gutachterin an und wiederholt und vertieft ihr Vorbringen, es gäbe für sie zur Langzeitprophylaxe keine Alternativen zu den IVIG und die Kortisongabe zur Schubbehandlung sei kontraindiziert.

Sie beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Januar 2010 sowie den Bescheid vom 1. Februar 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 22. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. September 2005 zurückzunehmen und die Beklagte zu verpflichten, sie nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit einer Immunglobulin-Therapie zu versorgen .

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Entscheidung des Senats vom 15. April 2011 (L 1 KR 326/08) sei eine Einzelfallentscheidung gewesen, welche auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar sei. Auch habe die Expertengruppe zum Off-Label-Use am 21. Juni 2010 keine positive Bewertung zum Einsatz von IVIG bei MS abgegeben.

Entscheidungsgründe

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Die Klägerin hatte und hat keinen Anspruch auf die begehrte Versorgung mit IVIG. Die Beklagte muss deshalb den dies aussprechenden Ablehnungsbescheid vom 22. Juni 2005 nicht zurücknehmen (vgl. § 44 SGB X).

Zur Vermeidung bloßer Wiederholungen verweist der Senat zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Gerichtsbescheid (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Medikamenten, soweit diese nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind.

Grundsätzlich ist dabei ein Fertigarzneimittel, welches keine arzneimittelrechtliche Zulassung für dasjenige Indikationsgebiet besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll, mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urt. v. 30.06.2009 B 1 KR 5/09 R , Rdnr. 19ff m. w. N.).

Ausnahmen vom Grundsatz, dass nur für andere Anwendungsgebiete zugelassene Arzneimittel nicht geleistet werden dürfen, gibt es nach der Rechtsprechung des BSG für einen sogenannten Off-Label-Use (grundlegend: BSG, Urt. v. 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184) bei einer schwerwiegenden Erkrankung, für die eine andere Therapie nicht verfügbar ist und wenn aufgrund einer spezifischen Datenlage ein begründetet Behandlungserfolg in der Form besteht, dass mit einer künftigen Zulassung gerechnet werden kann (BSG, Urt. v. 26.09.2006 - B 1 KR 1/06 -).

Die Klägerin hatte und hat unter Anwendung dieser Grundsätze allerdings keinen Anspruch auf Versorgung mit IVIG.

Es ist bereits nicht ersichtlich, dass für sie keine andere Therapie verfügbar ist. Zudem kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass IVIG künftig zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen werden:

Nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. S im Gutachten des MDK vom 24. Januar 2012 leidet die Klägerin an MS mit vorherrschend schubförmigem Verlauf (ICD-10: G35.10 ohne Angabe einer akuten Excerbation oder Progression. Sie könnte als Basistherapie mit Interferonen oder mit Glatirameraceat behandelt werden, auch unter der nicht nachgewiesenen Annahme, dass sie auch an einer Herzerkrankung leidet. Die grippeähnlichen Begleiterscheinungen der Behandlung mit Interferonen sind therapierbar. Laut Gutachten gibt es daneben selbst bei hoher Krankheitsaktivität Alternativen, die zumindest geprüft werden können (vgl. Gutachten S. 18, vorletzter Absatz). Es könne weiter nicht davon ausgegangen werden, dass etwaige MS-Schübe nicht mit Kortisonen bzw. bei Nichtansprechen mit Plasmapherese angegangen werden könnten. Insbesondere hätten - so die Gutachterin Dr. St überzeugend - die Ärzte bis Mai 2005 keine Kontraindikation zur Durchführung einer Kortison-Stoß-Therapie gesehen bzw. einer Schubprophylaxe mit Copaxone, auch nicht im Hinblick auf kardiologisch relevante Symptome oder aufgrund einer gesicherten aktiven EBV-Infektion oder kardiologischen Beschwerden oder Befunden (Gutachten Seite 14).

Es liegen überdies jedenfalls die generellen Voraussetzungen an die mutmaßliche Evidenz der Qualität und Wirksamkeit einer Behandlung der schubförmigen MS mit IVIG derzeit nach wie vor nicht vor (ebenso bereits aus jüngerer Zeit: BSG, Urt., 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R -; Urt. v. 05.05.2010 - B 6 KA 24/09 R -; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 18.02.2010 - L 9 KR 2/08 -; v. 04.06.2009 - L 24 KR 213/08).

Die mittlerweile publizierte Phase-III-Studie PRIVIG für das IVIG-Arzneimittel Gamunex® hat laut Dr. S den Nachweis, besser als Placebo-Infusionen zu wirken, nicht erbracht. Dies gilt sowohl im Hinblick auf Schubprophylaxe als auch auf eine Verzögerung der Krankheitsprogression. Es ist – insbesondere auch nach der eingeführten und in der mündlichen Verhandlung erörterten Information des PEI und dem Beschluss des GBA - nicht zu erwarten, dass die IVIG in absehbarer Zeit zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen sein werden. Aus Sicht des PEI wird nach der PRIVIG-Studie die Einschätzung der klinischen Wirksamkeit von IVIG bei schubförmiger MS gerade erschwert. Die Wirkung bei schubförmiger MS kann danach derzeit weder bestätigt noch widerlegt werden.

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Versorgung mit IVIG auch nicht in zulassungsüberschreitender Anwendung nach den Grundsätzen einer notstandsähnlichen Situation in verfassungskonformer Ergänzung des einfach-gesetzlich geregelten Systems zu.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat zwar im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25-51) ausgeführt, dass es mit den Grundrechten aus Art 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, generell von der Gewährung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Seit 1. Januar 2012 ist dieser Anspruch auch in das SGB V aufgenommen worden, § 2 Abs. 1a SGB V (eingeführt durch Art. 1 Nr. 1 des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes v. 22.12.2011 BGBl I 2983).

Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige GBA diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat (zusammenfassend BSGE 94, 221 RdNr 23 = SozR 4-2400 § 89 Nr. 3 Rdnr. 24 m.w.N.), verstößt nach dieser Rechtsprechung des BVerfG aber nur dann gegen das Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

- Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor,

- bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung;

- bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine "auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf (so weitgehend wörtlich BSG U. v. 04.04.2006 -B 1 KR 7/05 R. Rdnr. 19ff),

Diese Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln (BSG, a.a.O. Rdnr. 18).

Hier fehlt es jedenfalls an den ersten beiden Voraussetzungen.

Speziell zur MS hat das BSG für einen Fall sekundär-progredienter Verlaufsform selbst in schweren Krankheitsfällen eine Lebensgefahr verneint (BSG, U. v. 17. 03.2007 - B 1 KR 17/96 R, Rdnr. 15, 20ff).

Die MS-Erkrankung der Klägerin stellt auch nach den sachverständigen Äußerungen der Frau Dr. S jedenfalls aktuell keine lebensbedrohliche Krankheit dar. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass angesichts der Schwere der bereits bestehenden bzw. auch vor Beginn der laufenden IVIG-Therapie vorliegenden Behinderung ihre Lebenserwartung in dem Sinne deutlich reduziert wäre bzw. reduziert gewesen wäre, dass sich ein voraussichtlich tödlicher Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklicht hätte bzw. verwirklichen wird oder ein Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer hervorgehobenen Körperfunktion akut gedroht hätte bzw. droht und nicht kompensierbar (gewesen) wäre (vgl. zu den Voraussetzungen BSG, Urt. vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 15/07 R – juris).

Die verfassungskonforme Auslegung des Leistungsrechts kommt daneben auch bei Krankheitssituationen in Betracht, die lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen vergleichbar (im Sinne von gleichsetzbar) sind (vgl. BSG, Urteil vom 04. April 2006 B 1 KR 12/04 R , BSGE 96, 153 Rdnr. 31), beispielsweise bei drohender Erblindung (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 -B 1 KR 27/92 R , BSGE 93, 236).

Die Beeinträchtigungen der Klägerin sind jedoch ausweislich der Dokumentation auch in den letzten Schüben noch moderat gewesen (vgl. Gutachten S. 15: EDSS von 3,5 bzw. 3,0: Gehfähigkeit erhalten, leichte bis mäßig MS-assozierte Behinderung; die Expended Disability Status Scale [EDSS] geht von 0 (normale neurologische Untersuchung) bis 10 (Tod infolge MS).

Es gibt ferner - wie bereits ausgeführt - für die Klägerin Behandlungsalternativen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Dem Rechtsstreit kommt im Hinblick auf die vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung zu, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.