Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat | Entscheidungsdatum | 22.02.2012 | |
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Aktenzeichen | L 7 KA 106/09 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 44 SGB 10, § 54 SGG |
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2009 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten im Zugunstenverfahren eine Neubescheidung.
Im Zusammenhang mit der Einführung der so genannten Praxisgebühr nach § 28 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) führte die Beklagte zu Abrechnungszwecken so genannte Pseudoziffern ein, anhand derer sie darüber entschied, in welchen Behandlungsfällen vom Honorarsanspruch des einzelnen Vertragsarztes ein Abzug wegen des Einbehalts der Praxisgebühr vorzunehmen war. Diese Pseudoziffern hatten im Einzelnen u.a. folgende Bedeutung:
8030 Erhebung der Praxisgebühr gemäß § 28 Abs. 4 SGB V
8031 keine Erhebung der Praxisgebühr
8032 keine Erhebung der Praxisgebühr, da die Befreiung von der Zuzahlung nachgewiesen ist
8033 keine Erhebung der Praxisgebühr, da ein Quittung über die bereits gezahlte Praxisgebühr vorgelegt und entwertet wurde
8040 keine Erhebung der Praxisgebühr aus sonstigen Gründen
Im Rahmen der Honorarberechnung für das Quartal I/04 setzte die Beklagte bei der Klägerin, einer seit dem 15. Mai 2003 in B vertragsärztlich tätigen Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, wegen des Einbehalts von Praxisgebühren 7.690.- Euro ab und setzte ihr Honorar mit am 31. August 2004 zugegangenen Bescheid in Höhe von 29.330,70 Euro fest. In den Folgequartalen beliefen sich die Absetzungen auf 8.940.- Euro (Quartal II/04) bzw. 7.300.- Euro (Quartal III/04) und die festgesetzten Honorare auf 31.634,98 Euro (Quartal II/04, Bescheid am 30. November 2004 zugegangen) bzw. 34.407,10 Euro (Quartal III/04, Bescheid am 23. Februar 2005 zugegangen).
Gegen die Honorarbescheide für diese Quartale legte die Klägerin mit am 11. April 2005 bei der Beklagten eingegangenem Schreiben Widerspruch ein und beantragte mit einem weiteren Schreiben (bei der Beklagten eingegangen am 4. Mai 2005) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie hilfsweise die Rücknahme der Honorarbescheide gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Mit (Widerspruchs-)Bescheid vom 13. Juni 2005 lehnte die Beklagte die Wiedereinsetzung ab und wies die Widersprüche als unzulässig zurück. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Berlin mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 5. März 2008 abgewiesen, weil der Widerspruch verfristet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren sei.
Den Antrag auf Aufhebung der Honorarbescheide gemäß § 44 Abs. 2 SGB X lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Dezember 2005 ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2006 hob sie – auf einen Widerspruch der Klägerin vom 27. Juli 2005 hin – „die Entscheidung der Widerspruchsstelle vom 13.06.2005“ auf und wies den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 12. Dezember 2005 zurück. Zur Begründung führte sie u.a. aus: Die Honorarbescheide für die Quartale I/04 bis III/04 seien rechtmäßig. Von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sei für die Umsetzung die Praxisgebühr im Hinblick auf die Quartalsabrechnungen der Vertragsärzte ein Katalog mit Pseudoziffern herausgegeben worden, welcher sowohl von den Kassenärztlichen Vereinigungen als auch von den Vertragsärzten ab dem 1. Januar 2004 zu berücksichtigen sei. Die Beklagte habe diese Pseudoziffern einschließlich der erfolgten Aktualisierung jeweils über Rundschreiben an alle Berliner Vertragsärzte termingerecht bekannt gegeben. Es sei unabdingbar, dass der Leistungserbringer die Behandlungsfälle, in denen Patienten auf Überweisung eines anderen Arztes in seine Praxis kommen, auch entsprechend als Mit- bzw. Weiterbehandlung kennzeichnen. Durch diese Eintragung ändere sich auf den abzurechnenden Behandlungsscheinen das Scheinkennzeichen von „A“ (ambulante kurative Behandlung) in „M“ (Mit- und Weiterbehandlung). Während die Pseudoziffern 8030 und 8031 ausschließlich von der Beklagten auf den zur Abrechnung eingereichten Behandlungsscheinen zugesetzt worden sei, seien die Pseudonummern 8032 bis 8046 nur vom Vertragsarzt und nur bei Vorliegen von Befreiungstatbeständen bzw. bei nicht erfolgreichem Einzug der Praxisgebühr sowie dem Entstehen von Portokosten hinsichtlich der Zuzahlungspflicht der Versicherten auf den abzurechnenden Originalschein als Kennzeichnung einzutragen gewesen. Sofern bei der Quartalsabrechnung in keiner Weise Befreiungstatbestände bzw. erfolglose Einziehungsversuche auf den eingereichten Behandlungsscheinen erkennbar seien, müsse die Beklagte davon ausgehen, dass es sich bei denen zur Abrechnung eingereichten Fällen jeweils um Versicherte handele, die ohne Einschränkung die Praxisgebühr zu zahlen und gezahlt hätten. Da die Festsetzung der Honorarhöhe nur aufgrund der von der Klägerin eingereichten Abrechnungsdaten erfolgen könne und sie auch mit der Angabe der Abrechnungsunterlagen die Richtigkeit der von ihr gemachten Angaben bestätige, sei der Abzug der Praxisgebühr in den von der Klägerin beanstandeten Fällen rechtmäßig.
Selbst wenn die Honorarbescheide rechtswidrig wären, stünde ihre Aufhebung in ihrem – der Beklagten – Ermessen. Es wäre ermessensfehlerfrei, die Aufhebung abzulehnen. Die Höhe der einbehaltenen Praxisgebühr sei im Rahmen der Rechnungslegung gegenüber den Krankenkassen ausgewiesen worden. Eine Rückforderung von bereits in Abzug gebrachten Praxisgebühren von den Krankenkassen komme nicht in Betracht. Einerseits wäre es bei einer Anzahl von etwa 260 Krankenkassen mit einem nicht vertretbaren Aufwand verbunden, in allen Fällen, in denen Leistungserbringer Fehler bei der Kennzeichnung zuzahlungsbefreiter Fälle gemacht hätten, diese gegenüber sämtlichen betroffenen Kassen geltend zu machen. Zum anderen würde die Beklagte die Beweispflicht treffen, dass der jeweilige Patient die Praxisgebühr tatsächlich nicht entrichtet habe. Eine derartige Beweisführung sei nicht möglich, da die Beklagte nur über die vom Leistungserbringer gemachten Angaben verfüge, ohne den tatsächlichen Ablauf in der Praxis zu kennen.
Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, dass 459 Überweisungspatienten im Quartal I/04, 525 Überweisungspatienten im Quartal II/04 und 414 Überweisungspatienten im Quartal III/04 irrtümlich als zuzahlungspflichtig gebucht worden seien, weil die Arzthelferin es unterlassen habe, die Nummer des überweisenden Arztes in die Behandlungsmaske einzufügen. Ihre irrtümlich falsche Abrechnung habe die Beklagte über die lange Zeit von 4 Quartalen hinweg nicht bemerkt. Die Honorarbescheide seien rechtswidrig, weil tatsächlich vom Vertragsarzt einbehaltene Zuzahlungen seinen Vergütungsanspruch minderten. Aus diesem Grund seien auch die Krankenkassen nicht zu einer Kürzung gegenüber der Beklagten berechtigt gewesen. Die Ausschlussfrist des hier maßgeblichen HVM der Beklagten beinhalte eine ebenso gravierende Auswirkung wie in dem vom BSG (Urteil vom 29. August 2007, Az.: B 6 KA 29/06 R) entschiedenen Fall.
Die Beklagte habe das ihr nach § 44 Abs. 2 SGB X zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Insbesondere habe sie nicht gewürdigt, dass sie ein erhebliches Mitverschulden an der verspäteten Feststellung der fehlerhaften EDV-Abrechnung der Überweisungspatienten getroffen habe. Weil die Beklagte im Rahmen der vertragsärztlichen Honorarabrechnung die Überweisungsscheine im Original erhalten habe (vgl. § 24 Abs. 2 BMV-Ä) – das Gericht möge diese beiziehen –, bestehe das von der Beklagten genannte Beweisproblem nicht. Außerdem liege deshalb ein offensichtlicher Abrechnungsfehler vor. Bezüglich der streitgegenständlichen Quartale in der unmittelbaren Nachgründungsphase habe sie – die türkischstämmige Klägerin – sich auf eine pflichtgemäße Prüfung verlassen dürfen.
Die Beklagte hat erwidert, dass ihr keine von der Klägerin eingereichten Scheine in Papierform (mit Ausnahme der die „sonstigen Kostenträger betreffenden) vorliegen, weil sie mittels Datenträgeraustauschverfahrens abgerechnet habe. Der Klägerin sei erst durch eine Mitarbeiterin der Beklagten im Quartal I/05 auf die hohe Zahl der Patienten, die nach ihren Angaben eine Zuzahlung leisteten, hingewiesen worden. Durch die angegriffenen Entscheidungen gingen der Klägerin nur etwa 15% des ihr zustehenden Honorars verloren.
Mit Urteil vom 15. April 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung die im Widerspruchsbescheid enthaltenen Überlegungen der Beklagten aufgegriffen. Die Honorarbescheide seien nicht zu beanstanden. Mit den vom BSG entschiedenen Fällen sei die Klägerin schon deshalb nicht zu vergleichen, weil bei ihr der Ausnahmefall einer Existenzgefährdung nicht gegeben sei. Bei sorgfältiger Prüfung hätte die Klägerin die Fehlerhaftigkeit ihrer Angaben erkennen können und müssen. Selbst wenn die Beklagte „die Rücknahme des Bescheides nach § 44 SGB V hätte prüfen müssen“, wäre die Ermessensentscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
Gegen dieses ihm am 3. Juli 2009 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin, zu deren Begründung sie sich die Ausführungen der 83. Kammer des Sozialgerichts Berlin in seinem Urteil vom 14. Januar 2009 im Rechtsstreit S 83 KA 223/06 zu Eigen macht. Ferner verweist sie auf ihr erstinstanzliches Vorbringen, welches sie wie folgt ergänzt: unzutreffend sei das Sozialgericht davon ausgegangen, dass die Beklagte die irrtümlich fehlerhafte Kennzeichnung der Behandlungsscheine nicht habe erkennen können. Die Beklagte könne sich auch nicht auf die Unverhältnismäßigkeit des Verwaltungsaufwands berufen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung der Honorarbescheide für die Quartale I/04 bis III/04 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2005 zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über ihren Honoraranspruch für diese Quartale zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
Zwar sind die Honorarbescheide der Beklagten für die Quartale I/04 bis III/04 insofern rechtswidrig und nicht begünstigend i.S.v. § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X, als sie den Honoraranspruch der Klägerin um die Praxisgebühr auch in solchen Behandlungsfällen verringern, die die Klägerin mit ihren Honoraranforderungen zunächst fehlerhaft nicht als Überweisungsfälle gekennzeichnet hat. Insoweit verweist der Senat auf seine Urteile vom 22. Februar 2012 in den Verfahren L 7 KA 16/09 und L 7 KA 43/08.
Eine Ermessensentscheidung kann jedoch nur daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 54 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG), also nur darauf, ob ein Ermessensnichtgebrauch, -fehlgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung vorliegt. Dabei ist auch zu prüfen, ob die Behörde in der Begründung ihrer Entscheidung die Gesichtspunkte erkennen lässt, von denen sie bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (BSGE 101, 235 m.w.N.).
Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen, bezogen auf die hier einzig in Betracht kommende Rücknahme für die Vergangenheit (§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X), fehlerfrei ausgeübt. Die im Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2006 angeführten Erwägungen lassen Ermessensfehler nicht erkennen. Die Beklagte durfte ihre Entscheidung, die Honorarbescheide der Klägerin nicht zurückzunehmen, auf den damit verbundenen Verwaltungsaufwand sowie die ihr im Verhältnis zu den Krankenkassen obliegende Beweislast stützen. Ein irgendwie geartetes Mitverschulden an der (objektiven) Rechtswidrigkeit der Bescheide ist der Beklagten nicht anzulasten. Dass die Klägerin zahlreiche Behandlungsfälle unzutreffend nicht als Überweisungsfälle gekennzeichnet hat, musste die Beklagte nicht erkennen. Dass weitere Ermessensgesichtspunkte hätten berücksichtigt werden müssen, ist weder dem klägerischen Vorbringen zu entnehmen noch anderweitig ersichtlich.
Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zur Rechtsauffassung des Senats bezüglich der rechtswidrigen Weigerung der Beklagten, solche die Zuzahlungspflicht betreffenden Angaben des Vertragsarztes, die dieser erst nach der Rechnungslegung gegenüber den Krankenkassen korrigiert hat, nicht mehr zu berücksichtigen. Denn in die Ermessensausübung darf die Beklagte auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen einfließen lassen, die bei der Prüfung, ob die von ihr vorgenommene Honorarminderung rechtmäßig war, nicht zulässig sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.