Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 16.08.2012 | |
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Aktenzeichen | OVG 1 S 108.12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 8 GG, § 15 Abs 1 Alt 2 VersammlG |
1. Der Versammlungsbegriff bzw. dessen Schutzbereich ist nicht weiter auszudehnen, als dies zur Schutzgewährung nach Art. 8 GG erforderlich ist.
2. Nicht jede Begleiterscheinung einer Versammlung oder eine für dessen Durchführung begehrte Infrastruktur (Zelte, Sitzgelegenheiten, Ver- und Entsorgungseinrichtungen etc.) unterfällt dem Schutzbereich von Art. 8 GG.
Dies ist nur dann anzunehmen, wenn die in Rede stehenden Gegenstände und Hilfsmittel zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional oder symbolisch für die kollektive Meinungskundgabe wesensnotwendig sind.
3. Das Aufstellen von Sitzgelegenheiten gehört grundsätzlich nicht zu den essentiell notwendigen Voraussetzungen einer Versammlung unter freiem Himmel.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. August 2012 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsteller.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000 Euro festgesetzt; insoweit wird die erstinstanzliche Wertfestsetzung geändert.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Der Antragsteller meldete am 1. August 2012 eine Versammlung zum Thema „Asylrecht“ unter freiem Himmel an, die durchgehend vom 3. August (14:00 Uhr) bis zum 3. Dezember 2012 auf dem H...platz in Berlin als Dauermahnwache stattfinden soll und im Internet („http://a....com“) unter dem Motto „R...“ begleitend dokumentiert wird. Bei der Veranstaltung sollten überdachte Informationstische, ein selbstständig stehender Regen- bzw. Sonnenschutz, ein Pavillon, Stühle sowie sog. Euro-Paletten als Anbringungsmöglichkeit für Informationsmaterial und Schlafmöglichkeiten für eine Nachtwache eingesetzt werden.
Mit für sofort vollziehbar erklärtem Auflagenbescheid vom 2. August 2012 untersagte der Antragsgegner gemäß § 15 Abs. 1 Alt. 2 Versammlungsgesetz die Aufstellung und Nutzung der vorgenannten Gegenstände ohne die erforderliche straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis nach § 11 Berliner Straßengesetz; anderes gelte für die Euro-Paletten, soweit diese zum Anbringen von Informationsmaterial (als Stellwand) genutzt würden. Auf den vorläufigen Rechtsschutzantrag des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung seines hiergegen erhobenen Widerspruchs nur hinsichtlich der Aufstellung eines überdachten „Infotisches“ wiederhergestellt und den Antrag im Übrigen abgelehnt, weil die übrigen Aufbauten und Hilfsmittel nicht als wesensnotwendige Bestandteile der Versammlung anzusehen seien.
Mit seiner Beschwerde erstrebt der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs auch in Bezug auf das Verbot des Aufstellens und der Nutzung des Pavillons und von Stühlen. Er beruft sich unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrages darauf, dass der Pavillon und die (nicht genannte Anzahl) Stühle wesensnotwendige Bestandteile der Versammlung und damit zur Verfolgung des Grundrechts aus Art. 8 GG erforderlich seien. Anders als ein zudem optisch neutrales Zelt solle der Pavillon nicht (mehr) zum Schlafen genutzt werden; vielmehr seien zahlreiche Transparente mit Forderungen und Informationen daran befestigt, wie im Internet zu sehen sei. Der Pavillon sei ein für die Mahnwache entscheidendes Element, das die bundesweit stattfindenden Mahnwachen u.a. in A... (Bayern), B..., R... und D... auch optisch miteinander verbinde. Die Mahnwache in Berlin habe sich aus mehreren Solidaritätsaktionen für die Mahnwache in W... gebildet und sehe sich damit in Zusammenhang stehend. Die Protestveranstaltung solle inhaltlich wie äußerlich die dortige Mahnwache nachempfinden. Der Pavillon sei ein Symbol für Obdach und Wohnen, stünde für die Versammlungsteilnehmer in besonderem Maße für Flüchtlingsbelange und solle nicht zuletzt an die Flüchtlingscamps der UN in Krisenregionen erinnern. Weder dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 23. Dezember 2003 - VG 1 A 361.03 - noch dem des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. September 1991 - OVG 5 B 2541/91 - (NVwZ-RR 1992, 360 f., und juris) könne ein generelles Verbot von Zelten oder Pavillons entnommen werden, da es im Einzelfall durchaus möglich sei, mittels eines oder mehrerer Zelte eine kollektive Aussage zu treffen. So verhalte es sich hier; der Pavillon diene nicht vorrangig dem Schutz der Teilnehmer vor witterungsbedingten Erschwernissen bei der Durchführung der Versammlung bzw. deren Bequemlichkeit. Die Mahnwache verstehe sich als eine rund um die Uhr arbeitende Versammlung mit einem umfassenden Programm (Diskussions- und Informationsveranstaltungen, Arbeitsgruppentreffen, Film- und Musikvorführungen) zum Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik; dafür seien Stühle erforderlich, auch um älteren und behinderten Menschen eine Teilnahme und eine genaue Erklärung und Auseinandersetzung mit den Kernforderungen der Mahnwache zu ermöglichen. Es sei geplant, dass sich an unterschiedlichen Orten in Deutschland zur gleichen Zeit öffentlich sichtbar Menschen auf unterschiedlichste Arten mit Asyl- und Flüchtlingspolitik befassten und ihre Forderungen kundtäten. Dieses städteübergreifende Konzept könne nur durchgeführt werden, wenn die Versammlung sowie wesentliche Arbeitsmittel (Computer, Lautsprecheranlage und Beamer) vor Witterungseinflüssen geschützt seien.
Diese für die Prüfung des Senats maßgeblichen Darlegungen der Beschwerdebegründung (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen eine Änderung des angefochtenen Beschlusses nicht.
Dass es sich bei der geplanten Veranstaltung grundsätzlich um eine dem Schutz von Art. 8 GG unterfallende Versammlung handelt, stellen Antragsgegner und Verwaltungsgericht zu Recht nicht in Frage. Da der Antragsteller von seiner ursprünglichen Absicht, den Pavillon auch zu Übernachtungszwecken zu nutzen, im Beschwerdeverfahren Abstand genommen hat, steht mittlerweile (wohl) auch außer Streit, dass, wenn ein Zelt oder eine andere Art der Überdachung zum Übernachten oder zu sonstigen rein logistischen Zwecken genutzt wird, derartiges nicht mehr dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfällt, sondern als straßenrechtliche Sondernutzung erlaubnisbedürftig ist (st.Rspr. der Berliner Verwaltungsgerichte, vgl. nur OVG Berlin, Beschluss vom 30. Dezember 2004 - OVG 1 S 86.03 -, Abdruck S. 3 f.; sowie - jeweils zu den aktuellen Parallelveranstaltungen der hiesigen Versammlung - Bayerischer VGH, Beschluss vom 2. Juli 2012 - 10 CS 12.1419 -, Abdruck Rn. 22 ff. m.w.Nachw. zur eigenen Rspr.; zuletzt VG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Juli 2012 - 18 L 1140/12 -, juris Rn. 10 ff. m.w.Nachw.). Streitig ist hier daher nur (noch), ob der nach den im Internet (a.a.O.) veröffentlichten Bildern einen Großteil des H...platzes einnehmende Pavillon und die Stühle, wobei es sich bei letzteren augenscheinlich um lange Klappbänke (sog. Bierbänke) handelt, nach den im Eilverfahren zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln ebenfalls nicht dem Schutzbereich des Versammlungsgrundrechts unterfallen, wovon der Senat aus folgenden Erwägungen ausgeht:
Ausgangspunkt der Beurteilung ist die herausgehobene Bedeutung der Versammlungsfreiheit (vgl. dazu grundlegend BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81 u.a. - „Brokdorf II“, BVerfGE 69, 315 ff. [346 f.], juris Rn. 59 ff.), die wegen des hohen Rangs dieses Grundrechts regelmäßig zu einer entsprechenden Zurückdrängung der Freiheitsrechte Anderer, namentlich von Anwohnern, Verkehrsteilnehmern und Gewerbetreibenden führt. Allerdings kommt es mit einer zunehmenden zeitlichen oder örtlichen Verfestigung der Versammlung in verstärktem Maße zu Überschneidungen zwischen den Zwecken einer kollektiven Meinungskundgabe mit Formen einer individuellen Lebensgestaltung, also etwa dem „Wohnen im Zelt“ (vgl. Dietlein, NVwZ 1992, 1066 f.); dies bedingt eindeutige und praktisch handhabbare Abgrenzungskriterien, um die Reichweite des Versammlungsgrundrechts und die damit einhergehende Inanspruchnahme öffentlichen Straßenraums nicht nach Belieben ausufern zu lassen.
Ebenso wenig wie es für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 GG ausreicht, dass die Teilnehmer einer Veranstaltung durch einen beliebigen Zweck miteinander verbunden sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12. Juli 2001 - 1 BvQ 28/01 u.a -, NJW 2001, 2459, juris Rn. 19, und vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, BVerfGE 104, 92, juris Rn. 41; Senatsbeschluss vom 10. Mai 2012 - OVG 1 S 72.12 -, Abdruck S. 4), kann auch nicht jede Begleiterscheinung einer Versammlung oder eine für deren Durchführung begehrte Infrastruktur (Zelte, Sitzgelegenheiten, Ver- und Entsorgungseinrichtungen etc.) dem Schutzbereich von Art. 8 GG unterfallen. Dies ist vielmehr nur dann anzunehmen, wenn die jeweils in Rede stehenden Gegenstände und Hilfsmittel zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional oder symbolisch für die kollektive Meinungskundgabe wesensnotwendig sind, denn der Versammlungsbegriff bzw. dessen Schutzbereich ist nicht weiter auszudehnen, als dies zur Schutzgewährung nach Art. 8 GG erforderlich ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12. Juli 2001, a.a.O., und vom 24. Oktober 2001, juris Rn. 54; weitere Nachweise bei Dietel/Gintzel/Kniesel, VersG, 16. Aufl., § 1 Rn. 8 zu Fußn. 14 f., sowie Kanther, NVwZ 2001, 1239 ff.).
Hiervon ausgehend bestimmen die Teilnehmer einer Versammlung zwar selbst darüber, was sie zum Gegenstand der öffentlicher Meinungsbildung machen, und im Rahmen ihrer Typen- und Gestaltungsfreiheit auch, welcher Ausdrucksformen der kommunikativen Einwirkung sie sich bedienen wollen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Juli 2001, juris Rn. 30); von daher ist der Vortrag der Beschwerde, der Pavillon stehe symbolisch für das Versammlungsmotto (Flüchtlingsbelange, Situation von Asylbewerbern) und verbildliche zudem eine städteübergreifende Solidarität mit anderen Mahnwachen, auch nicht von vornherein unerheblich. Eine solche Wertung unterstellt die Beschwerde dem angegriffenen Beschluss freilich zu Unrecht; denn das Verwaltungsgericht hat in Anwendung der vorstehenden Maßstäbe zutreffend darauf abgehoben, dass der Pavillon und die begehrten Sitzgelegenheiten nach den Umständen des vorliegenden Falles voraussichtlich keine wesensnotwendigen Bestandteile der angemeldeten Versammlung sind, sondern vorrangig dem Schutz der Teilnehmer und der vom Veranstalter eingesetzten Arbeitsmittel vor witterungsbedingten Erschwernissen bei der Durchführung der Versammlung bzw. der bequemeren Durchführung der Veranstaltung dienen. Diese Würdigung wird von der Beschwerde nicht durchgreifend in Zweifel gezogen.
Anders als möglichweise das „Roma-Zeltlager“ vor dem nordrhein-westfälischen Landtag (vgl. Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., juris Rn. 5; kritisch dazu Dietlein, a.a.O.; vgl. auch Kanther, a.a.O.) oder andere in der Literatur genannte Beispiele (vgl. etwa Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 1 Rn. 54: Demonstration von medizinischem Personal unter Zuhilfenahme von Betten und medizinischem Gerät zum Thema Pflegenotstand) kann der vorliegend behauptete wesensnotwendige Zusammenhang zwischen dem immerhin viermonatigen großflächigen Dauereinsatz eines Pavillons auf einem im Verhältnis dazu eher kleinen öffentlichen Platz und dem Versammlungsthema bzw. -zweck (u.a. „Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten, Solidarität mit den Hungerstreikenden in W...“) nicht damit glaubhaft gemacht werden, dass diese nach Art der Errichtung einem größeren Zelt gleichstehende Installation wegen der Anbringung von großflächigen Transparenten und Informationsmaterial zur Verwirklichung des Versammlungszwecks wesentlich sei (ebenso in Bezug auf ein Mannschaftszelt: Bayerischer VGH, Beschluss vom 20. April 2012 - 10 CS 12.854 -, juris Rn. 18); dafür könnten auch die (ausdrücklich nicht untersagten) Euro-Paletten oder der überdachte Informationstisch dienen (vgl. in diesem Sinne schon OVG Berlin, Beschluss vom 30. Dezember, a.a.O.), den das Verwaltungsgericht für vom Schutzzweck der Versammlungsfreiheit umfasst angesehen hat. Dass der Pavillon die Mahnwache in Berlin mit der in W... auch optisch miteinander verbinde, erschließt sich nur über die Bilder im Internet, nicht aber dem Teilnehmer vor Ort; hierauf kommt es jedoch an, da eine Versammlung gerade durch die physische Präsenz vor Ort geprägt wird (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 1 Rn. 5). Ebenso wenig überzeugt der Vergleich der Beschwerdebegründung eines an den Seiten offenen Pavillons mit Flüchtlingscamps der UN in Krisenregionen. Soweit geltend gemacht wird, der Pavillon diene der Durchführung von Diskussions- und Informationsveranstaltungen, Arbeitsgruppentreffen sowie Film- und Musikvorführungen und schütze wesentliche Arbeitsmittel vor Witterungseinflüssen, erfüllt er überwiegend logistische Funktionen, um möglichst optimale und bequeme Rahmenbedingungen für die Versammlung zu schaffen; dazu wurde das Erforderliche bereits ausgeführt.
Auch das Aufstellen von Sitzgelegenheiten gehört nicht zu den essentiell notwendigen Voraussetzungen einer Versammlung unter freiem Himmel (ebenso Sächsisches OVG, Beschluss vom 16. Juli 2003 - 3 BS 216/03 -, juris; sowie bayerischer VGH, Beschluss vom 28. April 1978 - Nr. 91 VIII/78 -, NJW 1978, 1939 f.; anders wohl die aktuelle, oben zitierte Rspr. dieses Gerichts). Eine Versammlung unter freiem Himmel ist strukturell nach außen gewandt und soll jedermann durch schlichtes Hinzutreten die Teilnahme gestatten und umgekehrt auch einfaches Weggehen ermöglichen. Sie ist regelmäßig zeitlich straffer und konzentrierter als Versammlungen in geschlossenen Räumen, so dass ein dauerhaftes Verweilen über Monate an einem Ort nicht dem herkömmlichen Bild der Versammlung unter freiem Himmel entspricht, was bei der Bestimmung der notwendigen Reichweite dieses Grundrechts nicht außer Acht bleiben kann. Das Recht, sich unter freiem Himmel zu versammeln, beinhaltet danach nicht ohne Weiteres das Recht, dabei auch sitzen zu müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG. Hierbei war zu berücksichtigen, dass im vorliegenden Eilverfahren die Entscheidung in der Hauptsache faktisch vorweggenommen wird; daher war die erstinstanzliche Festsetzung von Amts wegen zu ändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 GKG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).