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Ghetto-Beitragszeiten - Glaubhaftmachung - Ghetto Bershad/Transnistrien


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 10.08.2017
Aktenzeichen L 3 R 38/15 ECLI ECLI:DE:LSGBEBB:2017:0810.L3R38.15.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 44 SGB 10, § 48 SGB 10, § 55 SGB 6, § 63 SGB 6, § 1 ZRBG, § 2 ZRBG, § 3 ZRBG

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 08. Mai 2014 sowie der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2012 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, die Zeit der Beschäftigung des Versicherten Z M vom 01. Januar 1942 bis zum 31. August 1943 im Ghetto Bershad als ZRBG-Beitragszeit festzustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat die der Klägerin entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu fünf Sechsteln zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin ist die Witwe des 1924 in C/Rumänien geborenen und 2015 in Israel verstorbenen Versicherten Z M (im Weiteren: Versicherter). Sie begehrt als Sonderrechtsnachfolgerin von der Beklagten die Neuberechnung der Altersrente des Versicherten unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

Der Versicherte, der die israelische Staatsbürgerschaft besaß, ist als Verfolgter im Sinne von § 1 des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz – BEG) vom 29. Juni 1956 (BGBl. I S. 562) anerkannt. Mit Feststellungsbescheid C vom 29. August 1963 hatte das Bezirksamt für Wiedergutmachung Koblenz festgestellt, dass der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 BEG ist und aufgrund der von Juli 1941 bis März 1944 erlittenen Verfolgung (Sterntragen im Ghetto) aus Gründen der Rasse einen Schaden an Freiheit erlitten und damit einen Anspruch auf Entschädigung für 31 Monate in Höhe von 4.650,- DM habe.

Im Juni 1983 beantragte er bei der Beklagten die Zulassung zur Entrichtung freiwilliger Beiträge und am 30. Dezember 1986 die Gewährung eines Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG).

Mit Bescheid vom 22. Oktober 1991 ließ die Beklagte den Versicherten entsprechend seines konkretisierten Antrages gemäß Art. 12 der Durchführungsvereinbarung zum deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommen zur Nachtentrichtung von freiwilligen Beiträgen für die Zeit vom 01. Januar 1956 bis zum 30. Juni 1980 in Höhe von 83.544,- DM zu, welche der Versicherte am 15. April 1992 auch durchführte.

Mit Bescheid vom 25. Januar 1993 gewährte die Beklagte dem Versicherten ab dem 01. Juni 1989 Altersruhegeld (1.592,87 DM netto monatlich ab dem 01. April 1993) mit einer Nachzahlung für den Zeitraum vom 01. Juni 1989 bis zum 31. März 1993 in Höhe von 69.268,83 DM.

Im Dezember 2010 stellte der Versicherte bei der Beklagten einen Antrag auf Anerkennung von Versicherungszeiten für die Beschäftigung im Ghetto einschließlich Ausfall- und Ersatzzeiten und Zahlung einer sich daraus ergebenden Altersrente. Soweit bereits frühere Versicherungszeiten angerechnet worden seien, stelle er einen Antrag auf Überprüfung des Sachverhaltes gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nach Maßgabe der Vorschriften des ZRBG.

Auf Anfrage der Beklagte beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV), ob der Versicherte dort einen Antrag auf eine Anerkennungsleistung nach der "Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war und bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist" gestellt hat, übersandte die Bezirksregierung Düsseldorf (Bundeszentralkartei) der Beklagten im Februar 2011 zwei dort gestellte Anträge in Kopie.

Der eine Antrag - ohne Datum - lautet auf den Namen „M, Z“ und ist mit „M Z“ unterschrieben. Als Geburtsname ist handschriftlich „M“, als Geburtsort „(B) N“ und als Geburtsdatum der „1924“ angegeben. Nach den dortigen Angaben hielt sich der Versicherte von 1941 bis 1944 im Ghetto Bershad auf, wo er von 1942 bis 1943 im Wald außerhalb des Ghettos beim Holzschneiden gearbeitet habe. Der Versicherte kreuzte in dem Antrag unter Punkt 4.4 zu der Frage „Wie kam es zur Arbeitsaufnahme innerhalb oder außerhalb des Ghettos?“ den Passus "Ich wurde unter Anwendung oder Androhung von körperlicher Gewalt zur Arbeitsaufnahme gezwungen" an, nicht hingegen eine der beiden alternativen Antworten „Ich habe mir die Arbeit selbst gesucht.“ bzw. „Die Arbeit wurde mir auf Anfrage vermittelt.“.

Der andere Antrag gibt den Namen des Versicherten handschriftlich als „M, Z“ an und ist unter dem 17. Januar 2010 mit „M Z“ unterschrieben. In der Rubrik "Angaben zur Person des Antragstellers" sind als Geburtsdatum „ 1924“ und als Geburtsort "Z (C)" angegeben. Unter "Angaben zur Ghetto-Arbeit" wurde lediglich angegeben, dass sich der Antragsteller/Versicherte von November 1943 bis Dezember 1943 im Ghetto „NIKOLAIW“ aufgehalten habe. Als „Wohnsitz zur Zeit der Verfolgung“ war angegeben „BER-schad“ Land: „UKRAINA“ von „1941-1944“.

Gegenüber der Beklagten gab der Versicherte in dem von ihm am 10. April 2011 unterschriebenen Formular ZRBG 100 "Antrag auf Altersrente für ehemalige Ghettobeschäftigte mit Wohnsitz im Ausland" unter Punkt 4 „Angaben zur Ghetto-Arbeit“ an, dass er sich von Oktober 1941 bis März 1944 im Ghetto „Bershad, Transnistrien“ aufgehalten habe und dort von der Stadtverwaltung („Arbeitgeber“) als Holzhacker beschäftigt gewesen sei.

Im Rahmen der weiteren Bearbeitung des Antrages des Versicherten zog die Beklagte die Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg bei. Diese beinhaltet eine vor dem Notar Z, Tel Aviv, am 15. November 1956 persönlich abgegebene eidesstattliche Erklärung des – ausweislich der Urkunde - am 14. Mai 1924 in C geborenen M Z, unter anderem mit folgendem Inhalt:

„Von Juli 1941 bis Oktober 1941 bin ich taeglich von Gendarmen aus dem Haus geholt und zu schweren Zwangsarbeiten gefuehrt worden. Ich habe bei der Pruthbruecke und bei der Eisenbahn unter Leitung der O. T. gearbeitet. Fuer diese Arbeit habe ich weder Bezahlung noch irgendetwas Essen bekommen. Anfang Oktober musste ich mit meiner Familie, innerhalb einiger Stunden unsere Wohnung verlassen und in das Getto ziehen. Das Getto befand sich im unteren Stadtteil von Czernowitz und war von Brettern und Stacheldraht umzaunt. Ende Oktober wurden wir nach Transnistrien deportiert. … Nach vielen Wochen Fusswanderung gelangten wir in das Lager BERSCHAD an…. Das Getto in Bershad wurde im Jahre 1942 von Stacheldraht umzaeunt. Ich wurde taeglich sowohl in der Stadt, als auch in der Umgebung zu schwerer Zwangsarbeit geholt, ohne irgend etwas hierfuer zu bekommen. Alle Juden lebten in der Stadt unter haftaehnlichen Bedingungen…. Von Juli 1941 bis Maerz 1944, obwohl im schulpflichtigen Alter, war ich vom Schulbesuch ausgeschlossen…. Im Maerz 1944 nahm dieses Dasein ein Ende und ich kehrte nach Czernowitz zurueck.“

Zugleich enthält die Entschädigungsakte die notariell beurkundeten schriftlichen Aussagen der notariell vereidigten Zeugen J und F R vom 15. November 1956. In der Aussage des 1916 geborenen J R heißt es:

„Ich kenne den Antragsteller M Z, seit laengerer Zeit aus Czernowitz und bezeuge hiermit, dass er bei Beginn der Judenverfolgung im Juli 1941, sowohl den Judenstern getragen hat, als auch das Ausgangsverbot befolgte…. Anfang Oktober wurde das Getto im unteren Stadtteil von Czernowitz errichtet. H. M zog mit seiner Familie in das Getto, … Ende Oktober 1941 begannen die Deportationen. Ich habe H. M sowohl beim einwaggonieren gesehen, als auch nach vielen Wochen spaeter in Bershad. Sowohl ich als auch H. M wurden taeglich zu schwerer Zwangsarbeit in- und ausserhalb Bershad geschleppt. Wir bekamen hierfuer kein Essen und waren dem Hunger und der Kaelte preisgegeben.… Dieses elende Dasein, Leben unter haftaehnlichen Bedingungen fuehrten wir die ganze Zeit, bis Maerz 1944, als die Rote Armee einmarschierte und uns be- freite.“

Der 1924 geborene F R bekundete:

„Ich bezeuge hiermit, Herrn M aus Czernowitz zu kennen und erklaere, dass er die ganze Zeit sowohl den Judenstern als auch das Ausgangsverbot befolgte. Herr M wurde taeglich zu verschiedene Zwangsarbeiten geschleppt, welche unter Leitung der O. T. waren. Anfang Oktober 1941 musste er seine Wohnung verlassen und in das Getto ziehen. Ende Oktober wurde er nach Transnistrien deportiert und war sein Bestimmungsort BERSCHAD. Ich sah ihn dort sehr oft und lebte er unter menschlich unwuerdigen Bedingungen. Er ist taeglich zu Zwangsarbeiten genommen worden und hatte gar keine Bezahlung hierfuer bekommen. Er litt an Hunger und Kaelte. Im Maerz 1944 nahm dieses menschlich unwuerdige Leben in Berschad ein Ende, nach dem die Rote Armee einmarschierte und uns befreite.“

Der Kläger reichte einen Versicherungsverlauf der israelischen Nationalversicherung, ausgestellt am 04. Oktober 2010, bei der Beklagten ein, der lediglich Versicherungszeiten für die Zeit vom 01. April 1954 bis zum 30. April 1989 aufweist.

Nach Auswertung der vorliegenden Unterlagen hörte die Beklagte den Versicherten mit Schreiben vom 13. Oktober 2011 zu ihrer Absicht an, die Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem ZRBG abzulehnen, da die Beschäftigung von Oktober 1941 bis März 1944 im Ghetto Bershad gemäß seiner eidesstattlichen Erklärung im Entschädigungsverfahren nicht aus eigenem Willensentschluss zustandegekommen sei. Der Versicherte sei täglich in der Stadt oder in der Umgebung zu schwerer Zwangsarbeit geholt worden, ohne irgendetwas hierfür zu bekommen. Eine Anerkennung nach dem ZRBG sei auf dieser Grundlage jedoch nicht möglich, da Arbeiten, die nicht durch eigene Bemühungen oder Vermittlung durch den Judenrat, sondern unter Zwang zu Stande gekommen seien, nicht nach dem ZRBG berücksichtigt werden könnten.

Der Versicherte äußerte im Schreiben vom 29. November 2011, dass für ihn nicht nachvollziehbar sei, aus welchem Grund die Beklagte die Wortwahl "Zwangsarbeit", die sich in nahezu allen BEG-Akten finde, erneut als Ablehnungsgrund heranziehe. Ebenfalls könne die Entgeltlichkeit seiner Beschäftigung nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Dies gelte auch dann, wenn man seine Angabe, er habe gearbeitet, "ohne etwas dafür zu bekommen", heranziehe. Seit den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom Juni 2009 sei sogar das Mittagessen, das er mit Sicherheit an seinem Arbeitsplatz bekommen habe, als Entlohnung zu werten.

Mit Bescheid vom 20. Dezember 2011 lehnte die Beklagte den Antrag des Versicherten auf Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten ab. Die Beklagte verwies darauf, dass die Beschäftigung von Oktober 1941 bis März 1944 im Ghetto Bershad gemäß der eidesstattlichen Erklärung des Versicherten vom 15. November 1956 im Entschädigungsverfahren nicht aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen sei.

Seinen Widerspruch dagegen begründete der Versicherte damit, dass die Beklagte hier die geänderte Rechtsprechung des BSG zur Freiwilligkeit von Beschäftigungen im Ghetto nicht umgesetzt habe.

Darauf legte ihm die Beklagte ihren Standpunkt mit Schreiben vom 14. Mai 2012 nochmals dar.

Hinsichtlich der von der Beklagten angesprochenen beiden Anträge beim BADV verwies der Versicherte sodann darauf, dass der erste Antrag von ihm ohne rechtsbeistandliche Hilfe selbstständig ausgefüllt worden sei, während der zweite Antrag - betreffend eine Person namens „M“ und Arbeit in dem Getto „Nikolaiv“ - nicht von ihm ausgefüllt worden sei. Im Übrigen habe er bereits im Entschädigungsverfahren die von ihm im Ghetto verrichtete Arbeit ausdrücklich erwähnt. Zur Frage der Entlohnung würde sich seit den Grundsatzurteilen des BSG jede weitere Stellungnahme erübrigen.

Die Beklagte zog zunächst noch den vom Versicherten bei der Conference on Jewish Material Claims against Germany (JCC) am 14. April 1993 gestellten Antrag bei. Darin hatte der Versicherte angegeben, bei Ausbruch des Krieges in „S“ Rumänien gelebt zu haben und im Herbst 1941 mit dem Vater und den Geschwistern nach Transnistrien deportiert und ins Ghetto Berschad eingewiesen worden zu sein, wo sie bis März 1944 verblieben seien. Dort hätten sie unter unmenschlichen Bedingungen gelebt und zahlreiche Krankheiten durchgemacht. 1942 seien erst sein jüngerer Bruder und dann seine Schwester ums Leben gekommen. Von einer Arbeit bzw. Zwangsarbeit hatte der Versicherte nichts berichtet.

Nach einer von der Beklagten eingeholten Auskunft des BADV vom 02. August 2012 ging man dort davon aus, dass die beiden übersandten Anträge auf eine Anerkennungsleistung vom Versicherten gestellt worden waren, da dieselbe israelische Identifikationsnummer verwendet worden war.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2012 wies die Beklagte den Widerspruch des Versicherten zurück.

Mit der am 31. Januar 2013 vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhobenen Klage hat der Versicherte die Verurteilung der Beklagten zur Neufeststellung seiner Altersrente unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem ZRBG und anschließender Ersatzzeiten begehrt. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass der Nachweis der geltend gemachten Beschäftigung schon alleine durch seine eidesstattliche Versicherung im Entschädigungsverfahren vom 15. November 1956 geführt worden sei. Lediglich aufgrund seiner geringfügig unterschiedlichen Angaben zum äußeren zeitlichen Rahmen der Beschäftigung werde nur noch die Anerkennung der in der Zeit vom 01. Januar 1942 bis zum 30. November 1943 zurück gelegten Beschäftigung begehrt. Seinen Ausführungen im Entschädigungsverfahren zu der fehlenden Entlohnung liege der Vergleich mit einem regulären Arbeitsverhältnis in der Zeit vor oder nach der Verfolgung zugrunde. Nach den einschlägigen Urteilen des BSG seien für Ghettobeschäftigungsverhältnisse aber andere Maßstäbe anzulegen. Es sei lebensfremd anzunehmen, dass er über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren im Ghetto beschäftigt gewesen sei, ohne dafür eine irgendwie geartete Leistung erhalten zu haben. Im Übrigen müsse vorliegend auch seine unverschuldete Beweisnot bei der Würdigung berücksichtigt werden. Der Versicherte hat in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 16. Juli 2013 u. a. erklärt:

„ … Dann wurden wir Ende Oktober 1941 mit Viehwagen nach Transnistrien transportiert und schließlich ins Ghetto Bershad gebracht.

In dem Lager gab es nur halb zerstörte und verfallene Baracken, wo viele Menschen auf engem Raum zusammen leben mussten. Es gab eine jüdische Verwaltung, die die Aufgabe hatte, das Ghetto sauber zu halten und auch Arbeiter zu stellen, wenn diese von den Deutschen angefordert wurden. Man wurde dann vom Judenrat als Arbeiter erfasst und zu wechselnden Arbeiten eingeteilt. Innerhalb des Ghettos wurden Arbeiter gebraucht, um die Straßen zu kehren, Müll aufzusammeln, die Toiletten zu reinigen, Wasser zu holen und die Leichen zum jüdischen Friedhof zu transportieren.

Es gab aber auch immer Arbeitsgruppen, die außerhalb des Ghettos eingesetzt wurden, oft bei der Ernteeinbringung oder bei Waldarbeiten.

Ich selber habe während der zwei ½ jährigen Haft verschiedene Arbeiten verrichtet. Zu Beginn der Ghettohaft war ich fast 17 Jahre alt. Da ich körperlich kräftig war, hat der Judenrat mich für schwerere Arbeiten im Umkreis des Ghettos eingeteilt. … Ich habe oft in den Wäldern in der Umgebung gearbeitet, d. h. ich habe geholfen, die Bäume zu fällen und das Holz zu zerkleinern und aufzustapeln. Das war sehr schwere Arbeit, aber man hat dafür mehr zu essen bekommen, als bei anderen Arbeitsstellen. Ich konnte abends fast immer Kartoffeln, Rüben und Brot für meine jüngeren Geschwister mitbringen. Mein Bruder und meine Schwester haben innerhalb des Ghettos gearbeitet, leichtere Arbeiten, die sie vom Judenrat bekommen haben. Das hat ihnen aber nicht geholfen, beide sind im Ghetto an den Lebensumständen gestorben, erst mein Bruder und dann, ungefähr ein Jahr später, auch meine jüngere Schwester.

Während den zwei 1/ 2 Jahren habe ich aber nicht nur im Wald gearbeitet, sondern auch für die deutsche Kommandantur, die außerhalb des Ghettos war. Ich habe alte Häuser zerlegt um Brennholz für die Deutschen zu gewinnen und geholfen, die deutschen Gebäude instandzusetzen und zu streichen.

In den Sommermonaten habe ich immer bei den Bauern in der Umgebung bei der Getreideernte geholfen. Zur Hauptsaison waren die meisten Ghettohäftlinge dort beschäftigt. Insgesamt habe ich viele verschiedene Arbeitsplätze gehabt. Ich habe durchgehend die ganze Zeit im Ghetto gearbeitet, weil ich sonst verhungert wäre. Die Häftlinge in Bershad mussten sich selbst ernähren. Es gab keine öffentlichen Suppenküchen und es wurden auch keine Lebensmittel verteilt.

Je schwerer die Arbeit war, desto mehr Lebensmittel bekam man. Darum habe ich auch nicht versucht leichtere Arbeit im Ghetto zu bekommen. Die Jugendlichen in meinem Alter und die Männer bis zu einem bestimmten Alter wurden vom Judenrat immer zu den körperlich schweren Arbeiten eingeteilt. In Bershad hat jeder, der nicht todkrank war, irgendwie gearbeitet. Eine andere Möglichkeit zu überleben gab es nicht.

Während der Haft im Ghetto Bershad bin ich für ungefähr einen Monat in ein Dorf nahe Nikolaew geschickt worden. Ich kann den Zeitpunkt nicht genau benennen, aber ich denke, dass es Ende 1943 gewesen sein muss. Dort habe ich beim Bau einer Brücke über dem Bug helfen müssen. Nach etwa drei oder vier Wochen bin ich zurück nach Bershad gebracht worden, wo ich im März 1944 befreit wurde. …“

Die Beklagte hat sich ihrerseits auf den angefochtenen Bescheid und den Inhalt ihrer Akten bezogen und im Übrigen dargelegt, dass es nach ihrer Auffassung im Fall des Versicherten bereits an einer schlüssigen Darstellung des behaupteten Beschäftigungsverhältnisses fehle. In seiner Erklärung vom 15. November 1956 habe dieser ausgeführt, dass er "täglich sowohl in der Stadt als auch in der Umgebung zu schwerer Zwangsarbeit geholt wurde, ohne irgend etwas hierfür zu bekommen". Auch in dem Verfahren bei dem BADV habe der Versicherte angegeben, dass er unter Anwendung oder Androhung von körperlicher Gewalt zur Arbeitsaufnahme gezwungen worden sei. Die vom Versicherten vorgelegte aktuelle eidesstattliche Versicherung könne die Widersprüche, die sich durch seine unterschiedlichen früheren Angaben im Entschädigungsverfahren und gegenüber dem BADV selbst ergeben hätten, nicht beseitigen. Es lasse sich hinsichtlich der Ghettobeschäftigung keine übereinstimmende Aussage im Kern feststellen.

Nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des SG ohne mündliche Verhandlung erklärt hatten, hat das SG mit Urteil vom 08. Mai 2014 ohne mündliche Verhandlung die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Versicherte habe keinen Anspruch auf Neufeststellung seiner Altersrente unter Berücksichtigung der geltend gemachten ZRBG-Zeiten und weiterer Ersatzzeiten. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG seien bzgl. der geltend gemachten Beschäftigungen im Ghetto Bershad von Januar 1942 bis November 1943 nicht erfüllt. Denn nach dieser Vorschrift gelte das ZRBG nur für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2.) das Ghetto sich in einem Gebiet befand, dass vom deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens sei es für die Kammer nicht überwiegend wahrscheinlich und damit nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass der Versicherte im geltend gemachten Zeitraum in einem Ghetto im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZRBG aus eigenem Willensentschluss und gegen Entgelt beschäftigt war. Ein eigener Willensentschluss im Sinne des ZRBG liege nach dem Urteil des BSG vom 14. Dezember 2006 vor, wenn die Arbeit vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage in einem Ghetto jedenfalls auch noch auf einer, wenn auch auf das "Elementarste" reduzierten, Wahl zwischen wenigstens zwei Verhaltensmöglichkeiten beruhte, solange die neben der Möglichkeit der Arbeitsaufnahme gegeben gewesene Alternative nicht in der Unterwerfung unter die absolute Gewaltausübung des Weisungsgebers bestand. Es müsse hinsichtlich des Zustandekommens und/oder der Durchführung der zugewiesenen/angebotenen Arbeiten noch eine gewisse Dispositionsbefugnis bestanden haben. Entgelt im Sinne des ZRBG seien alle Einnahmen, die in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit der geleisteten Arbeit stehen. Vorliegend sei weder eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss noch gegen Entgelt überwiegend wahrscheinlich. Insoweit nehme die Kammer gemäß § 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes und des Widerspruchsbescheides Bezug. Entscheidend für die Kammer sei, dass der Versicherte nicht nur im Entschädigungsverfahren, sondern auch gegenüber dem BADV angegeben habe, dass er unter Anwendung oder Androhung von körperlicher Gewalt zur Arbeitsaufnahme gezwungen worden sei. Dies stehe im Widerspruch zu der Äußerung in der eidesstattlichen Versicherung des Versicherten vom 16. Juli 2013, wonach man auf Anforderung der Deutschen vom Judenrat als Arbeiter erfasst und zu wechselnden Aufgaben eingeteilt worden sei. Komme hier die Anerkennung von Zeiten nach dem ZRBG nicht in Betracht, könnten auch keine anschließenden Ersatzzeiten berücksichtigt werden.

Gegen das dem Versicherten am 23. Oktober 2014 zugestellte Urteil hat dieser am 14. Januar 2015 Berufung eingelegt und diese im Wesentlichen wie folgt begründet: In der Zeit von Oktober 1941 bis März 1944 sei er im Ghetto Bershad aufgrund eines eigenen Willensentschlusses beschäftigt gewesen und habe daher einen Anspruch auf Zahlung der Altersrente nach dem ZRBG. Im Entschädigungsverfahren habe er in der eidesstattlichen Versicherung vom 15. November 1956 angegeben, zur Arbeit ohne Entgelt gezwungen worden zu sein. In seinem Antrag an die Beklagte, beim BADV und im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren habe er vorgetragen, aufgrund eines eigenen Willensentschlusses gearbeitet zu haben, durch den örtlichen Judenrat dazu eingeteilt und durch Lebensmittel entlohnt worden zu sein. Die genauen Umstände der Beschäftigung habe er in glaubhafter Weise auf Anregung des Gerichts durch eidesstattliche Versicherung vom 16. Juli 2013 geschildert. Darin habe er geschrieben, dass er sich bewusst für die Übernahme schwerer körperlicher Tätigkeit entschieden habe, weil es dafür mehr Lebensmittel gegeben habe als für leichtere Tätigkeiten. So habe er trotz allem eine Dispositionsbefugnis zu der übernommenen Tätigkeit behalten und habe sich frei entscheiden können. Seine Glaubwürdigkeit werde nicht durch die Unterschiede in der Bezeichnung als Zwangsarbeit und dann wieder als Arbeit erschüttert.

In der Stellungnahme des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin von Prof. Dr. Wolfgang Benz und Svetlana Burmistr zum Ghetto Bershad vom 15. Mai 2009 (eingeholt im Verfahren L 18 (8) R 67/06 des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen <NRW>) werde zwar eingeräumt, dass die Inhaftierten sowohl durch Androhung oder Ausübung körperlicher Gewalt zur Arbeit gezwungen worden seien (S. 12), diese aber auch freiwillig und selbst verwaltet gegen Ausgabe von Lebensmitteln ausgeübt hätten (S. 18). Die Einteilung sei dabei vom Judenrat vorgenommen worden und es seien auch Tätigkeiten außerhalb des Gettos verrichtet worden (S. 4).

Er - der Versicherte - sei insgesamt zweieinhalb Jahre unter den denkbar schlimmsten Bedingungen im Ghetto Bershad beschäftigt und erheblichem psychischem Stress ausgesetzt gewesen. Der Alltag sei von Elend, Hunger, Gewalt und dem Kampf ums Überleben geprägt gewesen. Dabei sei anzunehmen, dass er an einigen wenigen Tagen zur Arbeit gezwungen worden sei und an den meisten, an denen keine Fremdeinteilung stattgefunden habe, sich selber Arbeit gesucht habe. Fest stehe, dass er gearbeitet habe, um dafür Lebensmittel zu bekommen. An welchen Tagen das nun unter Zwang geschehen sei und an welchen Tagen eine Beschäftigung erst eigenständig gefunden worden sei, lasse sich für ihn aufgrund seines Alters nicht mehr präzise auseinanderhalten. Das ändere jedoch nichts an der Glaubwürdigkeit der Tatsache, dass er auch freiwillig gearbeitet habe, um dafür Lebensmittel zu erhalten. Ohne Arbeit hätte er nicht überlebt.

Die Bewertung seiner Glaubwürdigkeit müsse auch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass die Erlebnisse für ihn eine enorme psychische Belastung dargestellt hätten. Die täglich erlebte Angst um das eigene Leben und das Leben von Familie und Freunden, die Deprivation und die Gewalt würden in der Erinnerung traumatisierter Menschen von anderen Erlebnissen isoliert gespeichert werden. Die Wiedergabe solcher Erlebnisse sei dann oft von Brüchen in der Erzählung geprägt (siehe Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Ilka Quindeau vom 29. Oktober 2007 vor dem Landessozialgericht – LSG - Nordrhein Westfalen). Die damals verrichteten Tätigkeiten seien von vielen Inhaftierten nicht entsprechend den heutigen Maßstäben als Arbeit bezeichnet worden (Seite 7 der Stellungnahme des Zentrums für Antisemitismusforschung). Das ergebe sich aus fehlenden Umständen wie Kontinuität und Dauerhaftigkeit, Entlohnung durch Geld, vorherige Ausbildung oder zumindest Einarbeitung und einer vertraglichen Bindung, die für Arbeitsverhältnisse sonst prägend seien. Die in den Ghettos verrichteten Tätigkeiten seien vielmehr als Mittel im Kampf ums Überleben verstanden und entsprechend in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich bezeichnet worden. Die Kontextualisierung von Erinnerung werde in der Gedächtnispsychologie als normaler und von dem Betroffenen nicht als bewusst wahrgenommener Vorgang beschrieben (siehe Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Ilka Quindeau vom 29. Oktober 2007).

Nachdem die Beklagte den 2015 eingetretenen Tod des Versicherten unter Beifügung der übersetzten Sterbeurkunde vom 06. Oktober 2015 mitgeteilt hatte, haben die Prozessbevollmächtigten des Versicherten unter Vorlage einer Prozessvollmacht der Klägerin vom 30. März 2016 sowie der notariell beglaubigten Übersetzungsfassung der Heiratsurkunde vom 16. März 1958 für die Klägerin das Verfahren fortgeführt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 08. Mai 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeit der Beschäftigung des Versicherten vom 01. Januar 1942 bis zum 30. November 1943 im Ghetto Bershad als ZRBG-Beitragszeit festzustellen und die Altersrente des Versicherten unter Berücksichtigung der Ghetto-Beitragszeiten sowie weiterer Ersatzzeiten neu festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, dass eine freiwillige entgeltliche Beschäftigung des Versicherten im Ghetto Bershad nicht glaubhaft gemacht sei. So habe der Versicherte in seinem Antrag bei der Beklagten vom 14. Februar 2011 angegeben, außerhalb des Ghettos unter Anwendung oder Drohung von Gewalt zur Arbeitsaufnahme gezwungen worden zu sein. Im ZRBG 100 sei behauptet worden, über die Stadtverwaltung als Holzhacker im Ghetto der Stadt in der Zeit von Oktober 1941 bis März 1944 beschäftigt gewesen zu sein. In der im Entschädigungsverfahren abgegebenen eidesstattlichen Versicherung vom 15. November 1956 habe der Versicherte sehr detailliert sein Verfolgungsschicksal beschrieben und ausgeführt, im Ghetto Bershad, wo er sich seit Ende Oktober 1941 befunden habe, „sowohl in der Stadt als auch in der Umgebung schwere Zwangsarbeit nur unter Aufsicht“ verrichtet zu haben, ohne hierfür eine Entlohnung erhalten zu haben. Sie - die Beklagte - sei bei ihrer nochmaligen Prüfung im April 2012 von der Prämisse ausgegangen, dass der Versicherte die Arbeit im Ghetto als Zwang empfunden und deshalb den Begriff “Zwangsarbeit“ in seinen Anträgen verwendet habe. Da aber auch die „Entgeltlichkeit“ wiederholt verneint worden sei, sei der Versicherte im Mai 2012 aufgefordert worden, sich hierzu zu äußern. Dies habe der Prozessbevollmächtigte unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG abgelehnt. Die sodann herangezogene Akte der JCC habe nur einen Ghettoaufenthalt in Bershad im besagten Zeitraum ergeben, jedoch keinen Anhalt für eine Beschäftigung.

Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 11. Dezember 2015 (Beklagte) sowie vom 29. März 2016 (Klägerin) mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere des Vorbringens der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte der Beklagten und der Entschädigungsakte des Versicherten beim Amt für Wiedergutmachung in Saarburg (Aktenzeichen: 233122), die bei Entscheidungsfindung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) vom Versicherten eingelegte und von der Klägerin fortgeführte Berufung ist zulässig und teilweise begründet. Das Urteil des SG vom 08. Mai 2014 sowie der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Oktober 2012 sind teilweise rechtswidrig und verletzten den Versicherten in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Dieser hatte einen Anspruch auf Feststellung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem ZRBG im tenorierten Umfang.

Die Klägerin ist zur Fortführung dieses Rechtsstreits im prozessualen Sinne befugt und aktivlegitimiert, weil sie sich zutreffend als Sonderrechtsnachfolgerin im Sinne von § 56 Abs. 1 Nr. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) auf die Verletzung einer dem Versicherten zustehenden Rechtsposition berufen kann. Die Voraussetzungen der alleinigen Sonderrechtsnachfolgerschaft der Klägerin liegen dem Grunde nach vor. Die Klägerin ist die Witwe des Verstorbenen. Der Senat geht mangels sonstiger Anhaltspunkte davon aus, dass die Klägerin mit dem Versicherten zum Zeitpunkt dessen Ablebens auch in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat. Einwände gegen die Prozessführungsbefugnis der Klägerin sind auch von der Beklagten nicht erhoben worden.

Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass die Zeit der Beschäftigung des Versicherten vom 01. Januar 1942 bis zum 31. August 1943 im Ghetto Bershad als ZRBG-Beitragszeit festgestellt wird (§§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 ZRBG).

§ 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG lautet:

§ 1 Anwendungsbereich

(1) Dieses Gesetz gilt für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn

1. die Beschäftigung

a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist,
 b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und

2. das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag,

soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. ……..

Für die Feststellung der für die Anwendung von § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. a und b ZRBG erforderlichen Tatsachen genügt es nach § 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG), wenn sie glaubhaft gemacht sind. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird. Es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Als Mittel der Glaubhaftmachung kommen neben der eidesstattlichen Versicherung alle Mittel in Betracht, die geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit der Tatsache in ausreichendem Maße darzutun. Dabei sind ausgesprochen naheliegende, der Lebenserfahrung entsprechende Umstände zu berücksichtigen. Bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten muss das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten sein, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Tatsache spricht (LSG NRW, Urteil vom 01. September 2006, L 4 R 145/05, in juris).

Es ist aufgrund der notariell beurkundeten eidesstattlichen Versicherung des Versicherten vom 16. Juli 2013, seiner notariell beurkundeten eidesstattlichen Erklärung vom 15. November 1956 sowie der notariell beurkundeten Aussagen der Zeugen J und F R vom selben Tage, aufgrund der Angaben des Versicherten im Entschädigungsverfahren sowie in Zusammenschau mit den historischen Erkenntnissen und unter Berücksichtigung des übrigen Akteninhalts überwiegend wahrscheinlich und damit glaubhaft gemacht, dass der Versicherte in der Zeit vom 01. Januar 1942 bis zum 31. August 1943 im Ghetto Bershad eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG ausgeübt hat.

Die geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse decken sich insoweit mit den Angaben des Versicherten, insbesondere in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 16. Juli 2013, und mit den Angaben der Zeugen R, dass er – der Versicherte – im Oktober 1941 zunächst ins Ghetto Czernowitz umsiedeln musste und von dort Ende Oktober 1941 nach Bershad in Transnistrien deportiert wurde.

Der Versicherte wurde 1924 in C geboren und lebte nach seinen wiederholten Angaben im Sommer 1941 in dem C Vorort Z („Alt-Z“, „Z“,„S“). Die Stadt Czernowitz erstreckt sich überwiegend am rechten Ufer des Pruth. Sie ist die traditionelle Hauptstadt der Bukowina (Buchenland), heute politisch zur Westukraine gehörend. Ursprünglich - seit 1919 - gehörte Czernowitz zu Rumänien. In dieser Zeit erblühte das kulturelle jüdische Leben. 1940 wurde die Stadt von der Sowjetunion besetzt. 1941 wurde die Stadt von Rumänien, das mit dem Deutschen Reich verbündet war, erobert. Einheiten der rumänischen Armee drangen gemeinsam mit deutschen Truppen ab dem 05. Juli 1941 in die Stadt ein. In dieser Zeit kam es zur Ermordung und Deportation eines großen Teils der jüdischen Gemeinde. Im September 1941 betrug die Zahl der Juden in Czernowitz nach deutschen Quellen 45.759 (über 58 % der Einwohner) und nach rumänischen Quellen 41.118 (52 %). Im September 1941 wurden Pläne zur Einrichtung eines Ghettos für die Juden diskutiert. Am 10. Oktober 1941 wurde der Befehl zum Bau eines Ghettos in der Stadt erteilt. Am 11. Oktober 1941 wurden alle Czernowitzer Juden, insgesamt über 50.000, in ein kleines, aus wenigen Nebenstraßen bestehendes Gebiet der Stadt getrieben. Mitte Oktober 1941 begannen dann die Deportationen mit Güterzügen und zu Fuß über die Zwischenstation Otaci oder Mărculești nach Transnistrien (ein Landstrich zwischen der Ukraine und der Republik Moldau). Insgesamt wurden im Oktober und November 1941 ca. 30.000 Juden aus dem Ghetto verbracht. Im Juni 1942 wurden die Deportationen nach Transnistrien fortgeführt (vgl. Hoppe/Glas, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalistische Deutschland 1933-1945, Band 7 Sowjetunion und annektierte Gebiete I, Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien, 2011, Einleitung S. 66 und Dok. 327 – Toni Varticovschi -; ENZYKLOPÄDIE DES HOLOCAUST Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, herausgegeben von Israel Gutman, Argon, Band I S. 297 f „Czernowitz“ und Band III S. 1421 ff „Transnistrien“; „Über den Holocaust, Der Beginn der „Endlösung“, Die Ermordung der rumänischen Juden“, zu finden über http://www.yadvashem.org/yv/de/holo-caust/about/04/romania.asp, und in Ekkehard Völkl, „Die Tragödie des Judentums“, Transnistrien und Odessa (1941-1944)). Das Gebiet zwischen Dnjestr und Südlichem Bug - Transnistrien – stand von 1941 bis 1944 unter rumänischer Verwaltung. In Transnistrien wurden seit September 1941 Ghettos errichtet. Zu den größten der etwa 150 Ghettos und Lager in diesem Gebiet gehörten u. a. Mogilev Podolskij und Bershad (vgl. Hoppe/Glas, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalistische Deutschland 1933-1945, Band 7 Sowjetunion und annektierte Gebiete I, Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien).

Dies deckt sich auch mit anderen Quellen: Deutsche und rumänische Truppen besetzten die ukrainische Stadt Bershad am 27. Juli 1941. Die Juden wurden umgehend mit einer Ausgangssperre belegt und mussten den Davidstern tragen. Anfang September 1941 wurde Bershad Transnistrien angegliedert, das unter rumänischer Verwaltung stand. Im selben Monat entstand in der Stadt ein Ghetto. Es war den Juden bei Todesstrafe untersagt, das Areal zu verlassen. Die Rumänen verlegten rund 20.000 deportierte rumänische Juden nach Bershad, in der ersten Linie aus der Bukowina und dem Norden Bessarabiens. In Bershad befand sich das größte Ghetto Transnistriens. Bei Zuwiderhandlungen wurden die Ghettobewohner von den lokalen Behörden den Deutschen übergeben. Im Herbst 1941 lebten ca. 25.000 Juden im Ghetto, aufgrund der Kälte während des strengen Winters 1941/1942, dem Hunger, der Überbelegung und der Ausbreitung einer Typhusepidemie verstarben allein bis August 1942 ca. 15.000 Bewohner. Im März 1944 wurde Bershad von der Roten Armee befreit (vgl. Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust, Band I, A-M, Berschad).

Der bestimmende Einfluss der deutschen Militärverwaltung im streitigen Zeitraum auf den Massenmord an den rumänischen Juden in der Bukowina wie auch in Transnistrien wird überzeugend dargestellt in dem bereits zitierten Werk „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Band 7, Sowjetunion mit annektierten Gebieten I, Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien“, bearbeitet von Bert Hoppe und Hildrun Glass, erschienen im Oldenbourg Verlag München 2011.

Der Senat hält es für glaubhaft, dass der Versicherte (zumindest) in der Zeit vom 01. Januar 1942 bis zum 31. August 1943 im Ghetto Bershad und in dessen Umkreis durch Vermittlung des Judenrates aufgrund eigenen Willensentschlusses mit Holzarbeiten im Wald (Bäume fällen, Holz zerkleinern und aufstapeln), dem Zerlegen von Häusern zur Brennholzgewinnung für die Deutschen und der Instandsetzung der deutschen Gebäude sowie im Sommer bei der Ernte beschäftigt war und hierfür Lebensmittel erhalten hat.

Nach der Rechtsprechung des BSG dient das Merkmal einer aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung der tatsächlichen Abgrenzung zur Zwangsarbeit. Insoweit kann auf das Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZStiftG) zurückgegriffen werden, das in seinem § 11 demjenigen eine Entschädigung wegen Zwangsarbeit zubilligt, der in einem Ghetto unter vergleichbaren Bedingungen (wie in einem Konzentrationslager) inhaftiert war und „zur Arbeit gezwungen wurde“. Diese Wendung macht auch für das ZRBG deutlich, dass eine Situation, in der jemand (allgemein) zur Arbeit gezwungen „war“, nach dem Gesetz noch keine Zwangsarbeit darstellt. Ein genereller (faktischer und rechtlicher) Arbeitszwang allein macht die mit Rücksicht darauf ausgeübte Tätigkeit nicht zur Zwangsarbeit und steht deshalb einer „Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss“ nicht entgegen; eine solche ist vielmehr erst dann nicht mehr gegeben, wen jemand zu einer (spezifischen) Arbeit gezwungen „wurde“ (vgl. BSG, Urteil vom 03. Juni 2009, B 5 R 26/08 R, juris, Rnr. 19). Im Lichte dessen ist Zwangsarbeit die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) Zwang, wie z.B. bei Kriegsgefangenen. Typisch ist dabei die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Eine verrichtete Arbeit entfernt sich umso mehr von dem Typus des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses und nähert sich dem Typus Zwangsarbeit an, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann (vgl. BSG, Urteil vom 03. Juni 2009, B 5 R 26/08 R, juris, Rnr. 20). Ob eine aus eigenem Willensentschluss im Sinne des ZRBG zustande gekommene Beschäftigung oder eine den eigenen Willensentschluss ausschließende Zwangsarbeit vorlag, ist vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto zu beurteilen. Dabei sind die Sphären „Lebensbereich“ und „Beschäftigungsverhältnis“ grundsätzlich zu trennen; ebenso spielen die Beweggründe zur Aufnahme der Beschäftigung keine Rolle. Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung liegt vor, wenn der Ghetto-Bewohner noch eine Dispositionsbefugnis zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte. Davon ist regelmäßig auszugehen, wenn es sich um eine vom Judenrat angebotene Arbeit handelt, ohne dass im Einzelnen zu ermitteln wäre, wer letztlich als „Arbeitgeber“ fungierte und wie das Verhältnis zwischen diesem, dem Beschäftigten und dem Judenrat ausgestaltet war (vgl. BSG, Urteil vom 03. Juni 2009, B 5 R 26/08 R, juris, Rnr. 21, 22; Urteil vom 02. Juni 2009, B 13 R 81/08 R, juris, Rnr. 21). Schließlich steht auch ein bestimmtes Lebensalter im Sinne einer Altersuntergrenze nicht der Annahme einer aus eigenem Willensentschluss aufgenommen Beschäftigung im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a) ZRBG entgegen (vgl. BSG, Urteile vom 02. Juni 2009, B 13 R 139/08 R, und 14. Juli 1999, B 13 RJ 61/98 R, jeweils in juris).

Die Voraussetzung der Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ist vorliegend erfüllt. Der Versicherte hat in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 16. Juli 2013 glaubhaft angegeben, dass er die Tätigkeiten durch Vermittlung des Judenrates gefunden hatte. Insoweit decken sich seine Schilderungen mit den historischen Quellen zur Lebenswirklichkeit im Ghetto Bershad. Die Lebensbedingungen der Juden in Bershad waren u. a. Gegenstand der Beweisaufnahme des LSG NRW in einem „ZRBG-Verfahren“ zum Aktenzeichen L 18 (8) R 67/06, in welchem u. a. das von der Klägerin zur hiesigen Gerichtsakte gereichte Gutachten von Prof. Dr. Wolfgang Benz und Svetlana Burmistr vom 15. Juni 2009 erstellt wurde. Das Gutachten basiert u.a. auf der Auswertung von 16 (von 800) geführten Interviews mit Überlebenden des Gettos Bershad (Gutachten Seite 2, Visual History Archive).

Danach waren die Bewohner des Ghetto Bershad selbst für ihre Ernährung, Unterkunft und sonstige Infrastruktur verantwortlich. Ausgehend von der Verordnung Nr. 23 des Zivilgouverneurs von Transnistrien Alexianu vom 11. November 1941, in der es heißt: „In Transnistrien … wurde zur Versorgung der Ghettoinsassen festgelegt, dass die Lebensmöglichkeiten dieses Volkes auf eigene Rechnung und durch Arbeit sich finden muss“, mussten die deportierten und einheimischen Juden sich selbst um eine Arbeit bemühen, das Verlassen der „Kolonie“ war ihnen dabei verboten, so dass die Arbeit außerhalb des Ghettos meistens mit einem zusätzlichen Lebensrisiko verbunden war, das viele auf sich genommen haben (Gutachten Seite 18). Nur durch Wahrnehmung jeder Arbeitsmöglichkeit bestand überhaupt die Chance, die Verfolgung und die extremen Lebensbedingungen im Ghetto zu überleben. Die Bedeutung der Versorgung (= Entlohnung) mit Lebensmitteln wird aus dem Interview von David Alevich, geb. 1925, (Gutachten Seite 9 ff., 12) deutlich, der berichtete: „Man hat uns in die Kommandantur genommen, Kartoffeln schälen, Fußboden sauber machen, beim Prätor, … dann war man gut versorgt. Es gab Essen. Wenn man dort gearbeitet hat, bekam man Essen. Sogar wenn man nachhause ging, gaben sie Essen mit. Jeder nahm. Man lebte arm. …“

Zur Frage der Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme wird im zitierten Gutachten aus dem Ergebnis der geführten Interviews zusammenfassend ausgeführt, dass die Arbeitskräfte im Ghetto Bershad vom Judenrat erfasst worden seien. Sie seien für die Arbeiten innerhalb des Ghettos für Tätigkeiten, wie z.B. Putzen, Waschen, Aufräumen, im Winter, zum Transportieren von Leichen zum jüdischen Friedhof, Holzsammeln u.a. eingesetzt worden. Die Arbeitskräfte seien aber auch für Arbeiten außerhalb des Ghettos benötigt worden, wie z.B. für Tätigkeiten in der Kommandantur, in der Kolchosen bei der Ernteeinbringung und andere Arbeiten. In mehreren Interviews sei das freiwillige und selbstständige Bemühen der Ghettoinsassen um eine Arbeit, die oft neben einer erzwungenen Arbeit - etwa an den freien Tagen - ausgeübt wurde, sehr deutlich angesprochen und dargestellt worden. So heißt es in einem Interview: „Essen, wir haben gegessen, was wir verdient haben.“ Der Lohn sei in überlebensnotwendigen Naturalien geleistet worden. Die teilweise aus rein buchhalterischen Gründen für geleistete Arbeit der Juden verzeichneten Löhne wurden nicht geleistet; auch eine zentrale Versorgung der Ghettoinsassen mit Nahrungsmittel habe nicht stattgefunden (Gutachten Seite 6).

Die Sachverständigen Prof. Dr. Benz/S. Burmistr konnten aus dem Ergebnis der umfassenden Interview-Recherche feststellen, dass das Verständnis der Ghettobewohner von einer Arbeit nicht zu vergleichen war mit einem normal geregelten Arbeitsverhältnis. Dies wird im Gutachten, Seite 7, durch Wiedergabe eines Interviewauszugs nachvollziehbar. Dort berichtet der ehemalige Ghettobewohner Dekhtiar, geb. 1906, wie er sich um eine Stelle in einer Bäckerei bemüht hat, um durch diese Arbeit die Familie zu ernähren, und gleichzeitig sagt er „Das war ja keine Arbeit.“ Die Sachverständigen stellen anhand dieser exemplarischen Aussage anschaulich und für den Senat überzeugend dar, dass der Interviewte durch diese Äußerung die Arbeitssituation im Krieg in einen Gegensatz setzte zu einem normal geregelten Arbeitsverhältnis, wo man einem Beruf nachgeht und mit richtigem Lohn, und nicht mit einem Brotleib bezahlt wird. Dies, so die Gutachter, erkläre vielleicht auch, warum viele ehemalige Ghetto-Bewohner nicht von ihrer freiwilligen Tätigkeit im Ghetto gesprochen haben, da sie nicht als Arbeit im Sinne eines regulären Arbeitsverhältnisses, sondern vorrangig als Bestandteil der Existenzsicherung gesehen wurde. Die verrichteten Arbeiten wurden mit den überlebensnotwendigen Lebensmitteln bezahlt.

Soweit der Versicherte noch im Entschädigungsverfahren im undatierten Antrag sowie in der eidesstattlichen Erklärung vom 15. November 1956 angegeben hatte, Zwangsarbeit verrichtet zu haben bzw. unter Androhung von körperlicher Gewalt zur Arbeitsaufnahme gezwungen worden zu sein, sieht der Senat darin keinen eklatanten Widerspruch. Den Begriff „Zwangsarbeit“ verwendeten auch die Zeugen R in ihren schriftlichen Zeugenaussagen. Denn es gilt zu bedenken, dass es beim Entschädigungsverfahren letztlich nur um die Freiheitsbeschränkung bzw.- entziehung als solche ging und es unerheblich war, ob der Betroffene sich im Ghetto, Zwangsarbeitslager oder Konzentrationslager aufgehalten und ob und durch wen vermittelt er Arbeiten verrichtet hat. Von daher bedurfte es keiner differenzierten Darstellung des Verfolgungsgeschehens bzgl. Ghettoarbeit (i.S.d. ZRBG) und Zwangsarbeit. Ebenso wenig vermag die durchgehende Bezeichnung als Zwangsarbeit im Entschädigungsverfahren zur Ablehnung des Merkmals „Freiwilligkeit“ im Sinne der Ghetto-Rechtsprechung des BSG zu führen. Zudem bestand für die Verfolgten unter den nationalsozialistischen, vom Vernichtungswillen geprägten Repressionsmaßnahmen nachvollziehbar der Eindruck eines alle Lebensbereiche allumfassenden Zwangsverhältnisses.

Der Senat hat auch keine durchgreifenden Bedenken, die geforderte Entgeltlichkeit der Beschäftigungen des Versicherten bei seinen verschiedenen Tätigkeiten im Umkreis des Ghettos Bershad zu bejahen. „Entgelt" im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) ZRBG ist jegliche Entlohnung, gerade auch in Form von Nahrungsmitteln oder entsprechenden Lebensmittelkarten oder Gutscheinen (Coupons). Weitergehende Erfordernisse (z.B. Einhaltung einer Mindesthöhe oder die Miternährung einer anderen Person) müssen nicht erfüllt werden. Unerheblich ist,

- ob das Entgelt nur „geringfügig“ war oder zum Umfang der geleisteten Arbeit in keinem angemessenen Verhältnis stand,

- ob als Entgelt nur Sachbezüge in Form freien Unterhalts (oder eines Teils davon) gewährt wurden,

- ob das Entgelt unmittelbar von der Beschäftigungsstelle („Arbeitgeber“) oder von einer anderen Instanz (z.B. dem Judenrat) gewährt wurde (vgl. BSG, Urteile vom 02. Juni 2009, B 13 R 85/08 R und B 139/08 R, und 03. Juni 2009, B 5 R 26/08 R, jeweils in juris).

Die vom Versicherten im hiesigen ZRBG-Verfahren glaubhaft angegebene „Entlohnung“ durch Nahrungsmittel erfüllt den Entgeltbegriff i.S. der Ghetto-Rechtsprechung des BSG. Soweit der Versicherte wiederholt angegeben hat, für die Arbeit nichts bekommen zu haben (vgl. eidesstattliche Erklärung vom 15. November 1956), steht dies der vom Senat vorgenommenen Bewertung nicht zwingend entgegen. Zu bedenken ist hier, dass die Entlohnung in Form von einfachsten Mahlzeiten (i.d.R. Suppe und Brot) am Arbeitsplatz und ggf. zum Mitnehmen für die Familie zwar für den Betroffenen überlebensnotwendig war, jedoch weder für ihn noch für die seinerzeitige (wie auch heutige) Bevölkerung wenig mit einem üblichen Arbeitslohn bzw. Arbeitsverhältnis gemein hatte. Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, wenn der Versicherte angab, für die Arbeit nichts bekommen zu haben. Dass die Entlohnung durch Gewährung einer Mahlzeit und von Lebensmitteln gleichwohl einen gewissen Wert hatte, ergibt sich aus den historischen Umständen.

Die scheinbaren Widersprüchlichkeiten, die die Beklagte moniert hat, erweisen sich angesichts der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse im Lichte der ZRBG-Rechtsprechung des BSG nicht als solche. Vom Versicherten kann nicht verlangt werden, dass er aus seinem erlebten Verfolgungsschicksal die für das hiesige ZRBG-Verfahren maßgeblichen und aus dem geschichtlichen Kontext abzuleitenden rechtlichen Begrifflichkeiten wie „Zwangsarbeit“, „Entgelt“, „Entlohnung“, „Freiwilligkeit“ oder „Arbeitsverhältnis“ abzuleiten und zuzuordnen vermag. Die rechtliche Bewertung der vom Versicherten glaubwürdig geschilderten persönlichen Lebensverhältnisse zwischen Oktober 1941 und Herbst 1943 bleiben dem Senat vorbehalten.

Anhaltspunkte dafür, dass für die Zeit vom 01. Januar 1942 bis zum 31. August 1943 bereits eine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherheit erbracht wird (§ 1 Abs. 1 ZRBG), sind den Akten nicht zu entnehmen. Im Versicherungsverlauf der israelischen Nationalversicherung vom 04. Oktober 2011 sind für den Versicherten keine rentenrechtliche Zeiten wegen NS-Verfolgung eingestellt.

Ohne Erfolg bleibt die Berufung jedoch für den Zeitraum vom 01. September 1943 bis zum Ende des streitbefangenen Zeitraums 30. November 1943 (drei Monate).

Für diesen Zeitraum hatte der Versicherte in der eidesstattlichen Versicherung vom 16. Juli 2013 angegeben, dass er für ungefähr einen Monat in ein Dorf nahe Nikolajew geschickt worden sei, das müsse „Ende 1943“ gewesen sein. Dort habe er beim Bau einer Brücke über den Bug helfen müssen. Nach etwa drei oder vier Wochen sei er zurück nach Bershad gebracht worden, wo er im März 1944 befreit worden sei. Zudem wird in dem zweiten beim BADV gestellten Antrag vom 17. Januar 2010 ein Aufenthalt im Ghetto „NIKOLAIW“ von November 1943 bis Dezember 1943 angegeben.

Nach den geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen hält der Senat es nicht für glaubhaft, dass der Versicherte erst nach November 1943 nach Nikolajew (Nicolaev, Stadt am Südlichen Bug im Küstengebiet des Schwarzen Meeres, 1941 bis 1944 von der deutschen Wehrmacht besetzt, jetzt Ukraine) verbracht wurde. Denn nach Darstellung der Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust (Band I, A-M, Berschad) wurden bereits im August 1943 1203 Personen zur Zwangsarbeit aus Bershad abkommandiert, überwiegend im Verwaltungsbezirk Nikolajew, von denen nur wenige überlebten. Zudem hält der Senat es auch nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass der Versicherte in Nikolajew aufgrund freiwilligen Willensentschlusses gearbeitet hatte. Vielmehr stellt sich diese Arbeit beim Brückenbau als Zwangsarbeit dar. Die Umstände dieser Zwangsrekrutierung werden im Gutachten von Prof. Dr. Benz /S. Burmistr (dort Seite 13 f.) in den Auszügen des Interviews Alevich wie folgend dargestellt: „Aus Nikolaev kam eine Verordnung an die Gemeinde, man muss 100 Juden bereitstellen. Ich kann mich nicht an die genaue Zahl erinnern… Das war im Juni 1943. Im Juni 1943 geht der Judenrat zusammen mit der Polizei und sagt… Du musst um fünf Uhr abends am Marktplatz sein. Und nun wurden wir auf dem Marktplatz versammelt, ca. 80 vielleicht 100 Menschen, vielleicht 120. …Was, wohin wussten wir nicht. Nun kamen wir auf den Markt. Über all waren dort auf den Pferden Rumänen und Deutsche. Rumänen und Deutsche haben diese Anzahl von Menschen versammelt… Die Gemeinde hatte schon Listen, wer gehen sollte. … Einige haben sich versteckt. … Die Polizei ging durch Häuser und hat andere mitgenommen. … Um uns herum Rumänen und Deutsche auf den Pferden. Gegen 17 – 17.30 Uhr wurde die Hitze weniger und wir machten uns auf den Weg… Wir sind zu Fuß gegangen. Vorne waren Pferde, an den Seiten waren Pferde, und hinten Pferde mit Rumänen und Deutschen … Sie trieben uns bis Olgopol, es sind 25 Kilometer von Bershad..“

Da schon die Verbringung in den Verwaltungsbezirk Nikolajew unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) Zwang erfolgte, spricht alles dafür, dass der Einsatz beim Brückenbau auch unter hoheitlichem Zwang geschah, zumal sich in Nikolajew (Nicolaev) ein Zwangsarbeitslager befand (vgl. Wolfgang Benz und Brigitte Mihak, Holocaust an der Peripherie Judenpolitik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien 1940 -1944, 2009 Metropol Verlag Berlin, S. 76).

Die Berufung des Versicherten bzw. der Klägerin als seiner Sonderrechtsnachfolgerin ist auch unbegründet, soweit mit ihr die Verpflichtung der Beklagten auf Neufeststellung der Altersrente des Versicherten unter Berücksichtigung von ZRBG-Beitragszeiten und weiterer Ersatzzeiten begehrt wird, da die hierauf gerichtete Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) bereits unzulässig ist. Vorliegend fehlt es bereits an einer Regelung der Beklagten im Sinne von § 31 SGB X über die vom Versicherten im Dezember 2010 beantragte Neufeststellung der Altersrente sowie Anerkennung von Ersatzzeiten. Darüber hat die Beklagte bisher keine rechtsbehelfsfähige Entscheidung getroffen. Im angefochtenen Bescheid vom 20. Dezember 2011 wie auch im Widerspruchsbescheid vom 31. Oktober 2012 beschäftigt sich die Beklagte ausschließlich mit der Frage, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung von ZRBG-Beitragszeiten im Ghetto Bershad vorliegen. Demzufolge mangelt es auch an dem nach § 78 SGG erforderlichen Vorverfahren.

Die Beklagte wird jedoch nunmehr eine Entscheidung darüber zu treffen haben, ob die weiteren Zeiten der Verfolgung von Juni bis Dezember 1941 und September 1943 bis März 1944 als Ersatzzeiten (§ 250 Abs. 1 Nr. 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VI>) anzuerkennen sind. Zudem wird sie die dem Versicherten mit Bescheid vom 25. Januar 1993 gewährte Regelaltersrente für die Zeit ab dem 01. Juli 1997 (Inkrafttreten des ZRBG, § 3 Abs. 2 ZRBG; BSG, Urteil vom 03. Mai 2005, B 13 RJ 34/04 R, in juris Rz. 18) unter Berücksichtigung der ZRBG-Beitragszeit vom 01. Januar 1942 bis zum 31. August 1943 (§ 2 ZRBG) sowie ggfs. von weiteren Ersatzzeiten nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X neu festzustellen und die sich hieraus ergebende Rentenerhöhung an die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin auszuzahlen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.