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Grundsicherung für Arbeitsuchende - selbstständige Erwerbstätigkeit - Arbeitszimmer


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 14. Senat Entscheidungsdatum 30.06.2010
Aktenzeichen L 14 AS 933/10 B ER, L 14 AS 936/10 B PKH ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 16 Abs 1 S 2 SGB 2, § 16b SGB 2, § 16c SGB 2, § 16f SGB 2, § 46 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 3

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. April 2010 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig weitere Leistungen in Höhe von 126,00 (einhundertsechsundzwanzig) Euro monatlich ab dem 19. Mai 2010 bis zur Bestandskraft einer Entscheidung über ihren Antrag vom 14. September 2009, längstens bis zum 31. Oktober 2010 zu erbringen. Die Beschwerden im Übrigen werden zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die ihr entstandenen Kosten des Antrags- und des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Der Antrag der Antragstellerin, ihr Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen und die Rechtsanwältin J E beizuordnen, wird abgelehnt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin hat in dem sich aus der Beschlussformel ergebenden Umfang Erfolg.

Keine Leistungen sind in der Regel für die Zeit vor der Entscheidung des Senats, frühestens aber ab Eingang der Beschwerde beim erkennenden Gericht zu erbringen. Maßgebend sind – auch im Beschwerdeverfahren – in der Regel die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2007 – L 28 B 1637/07 AS ER –; erkennender Senat, Beschluss vom 4. September 2009 – L 14 AS 1063/09 B ER –, nicht veröffentlicht; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Dies schließt dann nicht aus, bei der Beschwerdeentscheidung auch auf einen früheren Zeitpunkt ab Antragstellung der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht abzustellen. Derartige Umstände sind hier jedoch nicht ersichtlich. Ein Zeitablauf nach Eingang der Beschwerde(akten) bei Gericht – die Beschwerde war am 17. Mai 2010 beim Sozialgericht eingelegt worden – darf der Antragstellerin aber nicht zum Nachteil gereichen.

Der Antragstellerin sind indes vorläufig Leistungen zur Fortsetzung ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit in Form der Übernahme der Aufwendungen für ihr Arbeitszimmer in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem von ihr geschuldeten Bruttomietzinses (in Höhe von 450,- Euro monatlich zzgl. der [in dieser Höhe unterstellten] Aufwendungen für die Heizung in Höhe von 54,- Euro monatlich und den ihr für Unterkunft und Heizung gewährten Leistungen (in Höhe von 378,- Euro monatlich) zunächst bis zur Bestandskraft einer – vom Antragsgegner noch nicht getroffenen und noch zu treffenden – Entscheidung über den Antrag vom 14. September 2009, vom 19. Mai 2010 (Eingang der Beschwerdeakten beim erkennenden Gericht) längstens jedoch bis zum 31. Oktober 2010 zu erbringen.

Der Senat entscheidet aufgrund einer Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –), da ihm eine abschließende Klärung, ob der Antragstellerin ein Anspruch auf die zunächst nur vorläufig zu erbringende Leistung zusteht, im Eilverfahren nicht möglich ist.

Der Antragsgegner hat über den von der Antragstellerin bereits mit am 16. September 2009 eingegangen Brief vom 14. September 2009 (Bl. 168 der Leistungsakte) bislang keine Entscheidung getroffen, wie er selbst in seinem Schriftsatz vom 29. März 2010 an das Sozialgericht einräumt; offenbar hatte er diesen Antrag übersehen. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Antragsgegner danach bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats eine Entscheidung über diesen Antrag getroffen hätte.

Ein Anspruch der Antragstellerin auf die von ihr begehrte Übernahme ihrer Aufwendungen für ihr Arbeitszimmer kann sich nicht aus § 22 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) ergeben, da nach dieser Vorschrift nur Kosten für „Unterkunft und Heizung“ zu erbringen sind. Der von der Antragstellerin als Arbeitszimmer genutzte Raum dient ihr jedoch gerade nicht als „Unterkunft“. Die Übernahme von Aufwendungen für Geschäftsräume (auch Arbeitszimmer) sieht § 22 SGB II nicht vor (BSG, Urteil vom 23. November 2006 – B 11b AS 3/05 R –).

Ebenso wenig kann die Antragstellerin die von ihr begehrte Leistung als „Einstiegsgeld“ (jetzt § 16b SGB II) verlangen, da sie keine selbständige Erwerbstätigkeit aufnehmen will oder aufgenommen hat, sondern diese bereits seit mehreren Jahren ausübt (vgl. auch hierzu BSG, a.a.O.). Deshalb dürfte auch eine Leistungserbringung aufgrund des § 16 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB III) nicht in Betracht kommen, da die Antragstellerin nicht an eine selbständige Tätigkeit „herangeführt“ werden, sondern ihre bislang ausgeübte selbständige Tätigkeit fortsetzen will. Gleichfalls ausscheiden dürfte eine Förderung nach § 16c SGB II, der nur die Gewährung von Darlehen oder Zuschüssen für die „Beschaffung von Sachgütern“ vorsieht. Vorliegend geht es jedoch nicht um die – einmalige – Beschaffung von Sachgütern, sondern um laufende Aufwendungen für ein Arbeitszimmer. Schließlich ist auch eine Förderung nach der bis zum 31. Dezember 2008, jetzt aber nicht mehr geltenden Fassung des § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht möglich.

Nicht auszuschließen ist jedoch die Möglichkeit einer Förderung nach § 16f SGB II („Freie Förderung“), die der Antragsgegner bislang offenbar nicht gesehen hat. Diese, als Ersatz für die bis zum 31. Dezember 2008 in § 16 Abs. 2 Satz 1SGB II getroffene Regelung zu verstehende Vorschrift (Thie, in: LPK-SGB II, 3. Aufl. [2009], § 16f Rdnr. 1) sieht eine Förderung durch „freie“ Leistungen zur Eingliederung in Arbeit vor. Diese Leistungen stehen allerdings im Ermessen des Antragsgegners, der jedoch – da er diese Möglichkeit offenbar bislang nicht gesehen hat – dieses Ermessen nicht ausgeübt hat. Dazu wird er bei seiner noch zu treffenden Entscheidung über den von der Antragstellerin bereits im September 2009 gestellten Antrag Gelegenheit haben. Dabei wird insbesondere zu berücksichtigen sein, ob bei und aufgrund einer Förderung durch eine Übernahme der Aufwendungen für das Arbeitszimmer der Antragstellerin – ggf. auch als Darlehen – zumindest eine Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit zu erwarten ist (§ 1 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 SGB II). Dies lässt sich nicht allein aufgrund dessen verneinen, dass sie durch ihre selbständige Tätigkeit im Jahr 2009 nur geringe, ihre Betriebsausgaben nicht deckende Einnahmen erzielt hat. Jedenfalls noch 2008 ist es ihr offenbar gelungen, durch ihre selbständige Tätigkeit Einnahmen zu erzielen, die ihre Hilfebedürftigkeit nicht lediglich verringert, sondern für einen längeren Zeitraum sogar vollständig beseitigt haben. Andererseits weist der Antragsgegner zu Recht daraufhin, dass die Antragstellerin seit April 2009, also seit mehr als einem Jahr überhaupt keine Einnahmen durch ihre selbständige Tätigkeit mehr erzielt (hat). Unter diesen Umständen obliegt es der Antragstellerin, ein „schlüssiges Konzept“ aufzustellen und vorzulegen (vgl. bereits Beschluss des Senats vom 8. September 2006 – L 14 B 524/06 AS ER –), wie sie sich die Entwicklung ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit vorstellt; der Antragsgegner hat ihr dazu Gelegenheit zu geben. Nicht ausreichend dürfte insoweit allerdings eine bloße Aufzählung und Beschreibung von „Projekten“ sein. Erforderlich ist vielmehr eine nähere Darlegung der zu erwartenden Aufwendungen (Ausgaben) und der aufgrund der selbständigen Tätigkeit in welchem Zeitraum zu erwartenden Erträge (Einnahmen). Dabei wird zu beachten sein, dass eine selbständige Tätigkeit nicht erst dann als „tragfähig“ anzusehen sein wird, wenn dadurch die Hilfebedürftigkeit (vollständig) beseitigt wird, sondern bereits dann, wenn die zu erwartenden Einnahmen die zu erwartenden Ausgaben dauerhaft übersteigen und so die Hilfebedürftigkeit zumindest verringert wird. Zur Beurteilung der Tragfähigkeit kommt – entsprechend § 16c Abs. 1 Satz 2 SGB II – auch die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle (Architektenkammer?) in Betracht. Ferner dürfte zu berücksichtigen sein, dass andere Bemühungen, die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin zu verringern bzw. zu beseitigen, offenbar nicht erfolgreich waren. Anscheinend ist es auch dem Antragsgegner nicht gelungen, der Antragstellerin eine (abhängige) Beschäftigung zu vermitteln; seinem Vortrag und der Akte sind entsprechende Versuche auch nicht zu entnehmen. Unter diesen Umständen könnte es von Bedeutung sein, dass die Fortführung der selbständigen Tätigkeit in der Tat – wie die Antragstellerin vorträgt – die einzige realistische Möglichkeit ist, ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern, zu verkürzen oder zu beseitigen.

Die nach allem gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass der Antragstellerin zunächst vorläufig die begehrten Leistungen zu erbringen sind. Andernfalls liefe sie Gefahr, mit ihrer Wohnung auch ihr für ihre selbständige Erwerbstätigkeit genutztes und erforderliches Arbeitszimmer zu verlieren, und wäre dadurch gezwungen, ihre selbständige Erwerbstätigkeit aufzugeben. Demgegenüber erscheint der ggf. vom Antragsgegner hinzunehmende finanzielle Nachteil, insbesondere angesichts der Höhe der zunächst für einen überschaubaren Zeitraum zu erbringenden Leistungen hinnehmbar. Angesichts der vom Antragsgegner noch anzustellenden Ermittlungen sieht der Senat einen Zeitraum bis zum Ende des Bewilligungsabschnitts (31. Oktober 2010) als angemessen an, denn es ist nicht ausschließen, dass die Antragstellerin ab 1. November 2010 keine Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft/Heizung mehr zu beanspruchen hat. Ggf. steht es der Antragstellerin aber frei, erneut einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu stellen.

Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bzw. § 127 Abs. 4 der Zivilprozessordnung (ZPO) (i.V.m. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG).

Prozesskostenhilfe ist weder für das Verfahren vor dem Sozialgericht noch für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, da die Antragstellerin in Folge der (unanfechtbaren) Entscheidung über die Kostenerstattung in der Lage ist, die Kosten der Rechtsverfolgung selbst aufzubringen (§ 114 Satz 1 ZPO i.V.m.§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).