Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 9. Senat | Entscheidungsdatum | 28.10.2011 | |
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Aktenzeichen | OVG 9 N 111.10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 54 VwGO, §§ 42 ff ZPO |
Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 2. November 2010 wird auf den Antrag der Klägerin zugelassen.
I.
Der Einzelrichter hatte am 29. Juni 2010 und am 3. August 2010 über Klagen der Klägerin im Zusammenhang mit der Durchsetzung eines Anschluss- und Benutzungszwangs in Bezug auf die leitungsgebundene Schmutzwasserentsorgung entschieden. Die Klägerin hat am 24. September 2010 die hier in Rede stehende Klage gegen eine zweite Zwangsgeldfestsetzung erhoben und sogleich begründet. Der Einzelrichter hat die Sache am 2. November 2010 mündlich verhandelt. Die Klägerin, die bis dahin keinen weiteren Schriftsatz eingereicht hatte, hat gegen Ende des Sachberichts ein Ablehnungsgesuch gegen den Einzelrichter angebracht und dieses unter anderem damit begründet, dass der Einzelrichter dem Beklagten in den mündlichen Verhandlungen am 29. Juni und 3. August 2010 den rechtlichen Rat erteilt habe zu überprüfen, inwieweit ein Wohn- bzw. Benutzungsrecht der Klägerin für das Grundstück überhaupt bestehe. Der Einzelrichter hat daraufhin kundgetan, dass er das Ablehnungsgesuch als unzulässig übergehe. Die Klägerin habe Gelegenheit gehabt, rechtzeitig vor dem Verhandlungstermin die Ablehnungsgründe anzubringen. Sodann hat der Einzelrichter die Sache unter Mitwirkung und Antragstellung aller Beteiligten weiter verhandelt und am Ende der Sitzung ein klageabweisendes Urteil verkündet. In den schriftlichen Urteilsgründen hat er ausgeführt, das Gericht habe trotz des in der mündlichen Verhandlung gegen den Einzelrichter angebrachten Ablehnungsgesuchs verhandeln und entscheiden können, da das Ablehnungsgesuch erst in "letzter Minute" und trotz bereits seit Juni bzw. August 2010 erlangter Kenntnis über die vermeintlichen Ablehnungsgründe, folglich erkennbar allein zur Verhinderung einer Entscheidung im anberaumten Termin und damit rechtsmissbräuchlich angebracht und überdies trotz zuvor gestellten Ablehnungsantrages verhandelt und ein Sachantrag gestellt worden sei.
Das Urteil ist der Klägerin am 9. November 2010 zugegangen. Sie hat am 3. Dezember 2010 die Zulassung der Berufung beantragt und ihren Zulassungsantrag am Montag, den 10. Januar 2011 begründet.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist begründet. Die Berufung ist wegen eines dargelegten und vorliegenden Verfahrensfehlers (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen. Der Einzelrichter hat die Klägerin ihrem gesetzlichen Richter entzogen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), als er deren in der mündlichen Verhandlung angebrachtes Ablehnungsgesuch übergangen und es sodann im Rahmen seiner Sachentscheidung inzident selbst abgelehnt hat.
Die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) gewährleistet unter anderem, dass die Beteiligten auch im Einzelfall vor einem distanzierten, neutralen Richter stehen. Die Bestimmungen über die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen (§ 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 41 ff. ZPO) dienen diesem Ziel, indem sie vorsehen, dass abgelehnte Richter vor - negativer - Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur noch eingeschränkt im Verfahren tätig werden dürfen (§ 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 47 ZPO) und insbesondere an der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch nicht mitwirken (§ 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 45 Abs. 1 ZPO); sie sollen in Bezug auf die Ablehnung nicht Richter in eigener Sache sein. Soweit die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung für gänzlich untaugliche oder rechtsmissbräuchliche sowie für sonst unzulässige Ablehnungsgesuche Ausnahmen zulässt, sind diese wegen der Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eng zu verstehen: Eine Mitwirkung des ablehnten Richters an der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch kommt nur bei offensichtlicher Rechtsmissbräuchlichkeit oder bei reinen Formalentscheidungen über das Ablehnungsgesuch in Betracht; jedes - auch nur geringfügige - Eingehenmüssen auf den Verfahrensgegenstand schließt demgegenüber die Mitwirkung des abgelehnten Richters aus. Wirkt er gleichwohl mit, so liegt darin eine objektiv willkürliche Entziehung des gesetzlichen Richters (vgl. OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 26. September 2009 - OVG 9 N 100.08 - juris, Rdnr. 5, unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2007 - 1 BvR 1273/07 - juris, Rdnr. 21).
So liegt es hier.
Nach § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 43 ZPO kann eine Partei einen Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit nicht mehr ablehnen, wenn sie sich bei ihm, ohne einen bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat. Bewegt sich eine Partei mit ihrem Ablehnungsgesuch innerhalb dieser zeitlichen Grenze, wovon in der mündlichen Verhandlung auch der Einzelrichter ausgegangen ist, kann offensichtlich nicht allein aus dem Zeitpunkt der Anbringung des Ablehnungsgesuchs auf eine Rechtsmissbräuchlichkeit des Gesuchs wegen - ausschließlich - bestehender Verschleppungsabsicht geschlossen, also dem Ablehnungsgesuch jegliche inhaltliche Ernsthaftigkeit abgesprochen werden. Der Umstand, dass ein Ablehnungsgesuch nicht schon vor, sondern erst in einem Sitzungstermin angebracht wird, erlaubt für sich genommen offensichtlich nicht den Schluss, dass das Gesuch nicht - wenigstens auch - von ernstgemeinter Sorge um die Unbefangenheit des Richters getragen ist. Weitere Anhaltspunkte für eine ausschließlich bestehende Verschleppungsabsicht sind hier indessen nicht einmal im Ansatz erkennbar. Insbesondere spricht nichts dafür, dass die Klägerin mit ihrem Ablehnungsgesuch einen unzutreffenden Sachverhalt geschildert hat. Vielmehr hat der Einzelrichter auch in seinen schriftlichen Urteilen vom 29. Juni 2010 (7 K 118/10) und 3. August 2010 (7 K 496/10) mit überdies zunehmender Nachdrücklichkeit darauf hingewiesen, dass sich wegen der Entsorgungssituation auf dem Grundstück der Klägerin bauordnungsrechtlich die Wohnnutzungsfrage (neu) stellen dürfte. Die Frage, ob ein entsprechender Hinweis sich als Rechtsrat an den Beklagten dargestellt hat, der die Besorgnis der Befangenheit begründet hat, ist hier offensichtlich unter Ausschluss des abgelehnten Richters von der Kammer zu prüfen gewesen, weil sie ein Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erfordert hätte; diese Prüfung durfte der Einzelrichter der Klägerin nicht durch Übergehen des Ablehnungsgesuchs vorenthalten. Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht daraus, dass die Klägerin sich nach Anbringung ihres Ablehnungsgesuchs auf eine Verhandlung zur Sache eingelassen und einen Klageantrag gestellt hat. Insoweit haben zwar formal die Voraussetzungen für den Verlust des Ablehnungsrechts nach § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 43 ZPO vorgelegen. § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 43 ZPO greift indessen nicht, wenn die Einlassung und Antragstellung erfolgt, nachdem der Richter sich in rechtswidriger Weise über ein Ablehnungsgesuch hinweggesetzt hat (vgl. Bork, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Auflage, Rdnr. 3 zu § 43 ZPO); die Einlassung und Antragstellung sind in diesem Fall nicht - wie im Regelfall - Zeichen für (wieder gewonnenes) Vertrauen in die Unbefangenheit des Richters, sondern resignative Reaktion auf eine vom Richter rechtswidrig geschaffene prozessuale Zwangslage. Dass der Einzelrichter diese Reaktion in seinem Urteil ausdrücklich als zusätzlichen Grund für die Unzulässigkeit des Ab-lehnungsgesuchs angesehen hat, lässt erkennen, dass er den - vor dem Hintergrund des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu sehenden - Sinn und Zweck der Vorschriften über die Richterablehnung jedenfalls nicht in der konkreten Fallsituation gänzlich erfasst hat.
Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsverfahrens folgt der Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.