Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 26.03.2014 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | OVG 11 B 10.14 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 41 Abs 1 EWGAbkTURZProt, § 2 Abs 1 AuslG 1965, § 2 Abs 3 AuslG 1965, § 1 Abs 2 Nr 1 AuslGDV 1965, § 1 Abs 2 Nr 2 AuslGDV 1965, Nr 14 AuslGVwV 1965, Nr 15 AuslGVwV 1965 |
Türkische Unternehmer mit Sitz in der Türkei sind berechtigt, unter Beibehaltung ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der Türkei für ihre Firma im Rahmen von Auftragsverhältnissen zur Erbringung von Dienstleistungen an Personen im Rahmen ihres Geschäftsbetriebes visumfrei einzureisen und sich zu diesem Zweck nicht länger als drei Monate in Deutschland aufzuhalten.
Das Berufungsverfahren der Beklagten wird eingestellt.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. März 2012 geändert und festgestellt, dass der Kläger berechtigt ist, unter Beibehaltung seines gewöhnlichen Aufenthalts in der Türkei im Rahmen von Auftragsverhältnissen visumfrei für seine Firma N... mit Sitz in Istanbul/Türkei zur Erbringung von Dienstleistungen an Personen im Rahmen ihres Geschäftsbetriebes einzureisen und sich zu diesem Zweck nicht länger als drei Monate in Deutschland aufzuhalten.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, ist als selbständiger Unternehmer auf dem Gebiet der Software-Beratung tätig und Inhaber der in Istanbul ansässigen Firma O.... Unter dem 5. Februar 2010 verpflichtete er sich gegenüber der Firma e... (Göteborg/Schweden), für das Softwareunternehmen S... bei deren Kunden, der S..., in Duisburg sowie gegebenenfalls in Schweden „detaillierte technische Spezifikationen“ auszuarbeiten.
Um die vereinbarten Leistungen in Duisburg zu erbringen, versuchte der Kläger im April 2010 mit einem von der französischen Botschaft in Istanbul für touristische Zwecke ausgestellten Schengen-Visum nach Deutschland einzureisen, wurde jedoch an der Grenzübergangsstelle Flughafen-Düsseldorf zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde das französische Schengen-Visum annulliert.
Am 23. April 2010 beantragte der Kläger unter Vorlage einer Einladung der S... bei dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul die Erteilung eines Schengen-Visums für Geschäftsreisen für mehrfache Einreisen innerhalb eines Zeitraums von 45 Tagen ab dem 2. Mai 2010. Gegen die Ablehnung dieses Antrags durch Bescheid des Generalkonsulats vom 27. April 2010 remonstrierte er unter Beifügung des Vertrages vom 5. Februar 2010 sowie dessen Verlängerung mit der Begründung, er dürfe nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - i.F.: Zusatzprotokoll - i.V.m. § 1 Nr. 1 der Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz 1965 in der am 1. Januar 1973 geltenden Fassung - i.F.: DVAuslG 1965 - visumfrei einreisen, um die genannten Dienstleistungen zu erbringen. Hilfsweise beantrage er die Erteilung eines entsprechenden Visums.
Durch Remonstrationsbescheid vom 26. Mai 2010 teilte das Generalkonsulat dem Kläger mit, dass er nicht berechtigt sei, visumfrei zu Geschäftszwecken einzureisen, und wies unter Ersetzung seines Bescheides vom 27. April 2010 den Antrag des Klägers auf Erteilung eines zustimmungsfreien Schengen-Visums zum Zwecke der Mitwirkung an einem IT-Projekt bei der S... zurück. Zur Begründung führte das Generalkonsulat aus, der Kläger könne sich auf die von ihm angeführte assoziationsrechtliche Stillhalteklausel nicht berufen, weil für die von ihm angestrebte Form der Dienstleistungserbringung auch am maßgeblichen Stichtag des 1. Januar 1973 keine Visumbefreiung gegolten habe. Das danach erforderliche Schengen-Visum könne ohne Beteiligung der zuständigen Ausländerbehörde nicht erteilt werden. Der Kläger werde daher auf das erforderliche „Visumverfahren zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit“ verwiesen.
Der Kläger hat am 24. Juni 2010 Klage erhoben und in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht beantragt festzustellen, dass er berechtigt sei, visumfrei für seine Firma N... mit Sitz in Istanbul/Türkei zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von Auftragsverhältnissen nach Deutschland einzureisen und sich mindestens zwei Monate im Jahr in Deutschland aufzuhalten, hilfsweise, festzustellen, dass die Ablehnung des Visums durch den Remonstrationsbescheid des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland Istanbul vom 26. Mai 2010 rechtswidrig gewesen ist. Durch Urteil vom 12. März 2012 hat das Verwaltungsgericht dem Hilfsantrag entsprochen, die Klage im Übrigen jedoch abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Hauptantrag sei unbegründet. Der Kläger könne sich auf die angeführte Stillhalteklausel nicht berufen, denn weder bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls noch zu einem späteren Zeitpunkt sei ein türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Türkei, der wie der Kläger als selbständiger Unternehmer Beratungsleistungen für Auftraggeber im Bundesgebiet für mindestens zwei Monate im Jahr habe erbringen wollen, berechtigt gewesen, ohne vorherige Einholung eines Visums in das Bundesgebiet einzureisen und sich dort mindestens zwei Monate im Jahr ohne Aufenthaltstitel aufzuhalten. Gemäß § 2 Abs. 1 des Ausländergesetzes 1965 - i.F.: AuslG 1965 - i.V.m. DVAuslG seien Staatsangehörige der Türkei der Visumpflicht unterlegen, wenn sie eine Erwerbstätigkeit hätten ausüben wollen. Wie die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes 1965 - i.F.: VwV – zu § 2 AuslG 1965 erläutert habe, sei als Erwerbstätigkeit jede selbstständige oder unselbstständige Tätigkeit anzusehen gewesen, die auf die Erzielung von Gewinn gerichtet oder für die ein Entgelt vereinbart oder den Umständen nach zu erwarten gewesen sei. Nach Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 sei es als Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nicht anzusehen gewesen, wenn Ausländer unter Beibehaltung ihres gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland für ausländische Unternehmen Besprechungen oder Verhandlungen im Bundesgebiet durchführten oder wenn sie Waren oder Dienstleistungen im Bundesgebiet nur Personen anboten, die im Rahmen ihres Geschäftsbetriebes aufgesucht wurden. Hierauf könne sich der Kläger indes nicht berufen, denn er habe seine Dienstleistungen nicht nur anbieten, sondern auch tatsächlich erbringen wollen. Mit Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 habe klargestellt werden sollen, dass lediglich Geschäftsreisen, die typischerweise der Anbahnung und dem Ausbau von Geschäftsbeziehungen dienten, nicht als Ausübung einer Erwerbstätigkeit angesehen werden sollten. Zwar hätten türkische Staatsangehörige außerdem nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG1965 als Inhaber von Nationalpässen keine Aufenthaltserlaubnis benötigt, wenn sie sich im Dienst eines nicht im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ansässigen Arbeitgebers zu einer ihrer Natur nach vorübergehenden Dienstleistung als Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufgehalten hätten, sofern die Dauer des Aufenthalts zwei Monate nicht überstieg und sie kein Reisegewerbe ausüben wollten. Der Kläger habe jedoch nicht als Arbeitnehmer tätig werden wollen. Die Praxis, türkische Arbeitnehmer anders zu behandeln, als türkische Staatsangehörige, die eine entsprechende Tätigkeit als Selbstständige ausüben wollten, sei keine rechtswidrige Ungleichbehandlung gewesen. Die unterschiedliche Behandlung habe sich sachlich dadurch rechtfertigen lassen, dass an dem Rückkehrwillen abhängig beschäftigter und dem Weisungsrecht ihres Arbeitgebers unterliegender Arbeitnehmer bei typisierender Betrachtung weniger Zweifel geboten schienen als an der entsprechenden Haltung selbstständiger Unternehmer, die aufgrund eigenen Willensentschlusses über ihre Geschäftstätigkeit, den geschäftlichen Schwerpunkt und den Sitz hätten disponieren können. Demgegenüber sei der Hilfsantrag begründet. Die Beklagte habe den Visumantrag im Hinblick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG - gegebenenfalls unter Beteiligung anderer Behörden - einer abschließenden Prüfung unterziehen und das ihr ebenfalls zustehende Ermessen ausüben müssen. Den Gründen des Remonstrationsbescheides sei aber weder dies zu entnehmen noch, dass die materiell rechtlichen Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe für ein Schengen-Visum nach Maßgabe des Visakodex einer Prüfung unterzogen worden wären.
Beide Beteiligte haben die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Berufung eingelegt, soweit sie jeweils erstinstanzlich unterlegen waren. Die Beklagte hat ihre Berufung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zurückgenommen.
Der Kläger macht zur Begründung seiner Berufung geltend: Er könne sich auf die Stillhalteklausel in § 41 Absatz 1 Zusatzprotokoll berufen, weil er bei deren Inkrafttreten visumfrei hätte einreisen dürfen. Aus Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 ergebe sich, dass die von ihm beabsichtigte Dienstleistung nicht als Erwerbstätigkeit im Sinne des deutschen Ausländerrechts anzusehen gewesen wäre. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Unterscheidung zwischen Anbieten und Erbringen einer Dienstleistung sei semantisch nicht zwingend und widerspreche dem gemeinschaftsrechtlichen effet utile der Dienstleistungsfreiheit. Eine streng dem Wortlaut „anbieten“ folgende Auslegung habe zur Folge, dass die Regelung im Prinzip leerlaufe, weil eine Dienstleistung auch 1973 ohne weiteres telefonisch hätte angeboten werden können. Ferner folge aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG 1965, dass türkische Arbeitnehmer mit einem Nationalpass für eine vorübergehende Dienstleistung im Bundesgebiet bis zu zwei Monate für ihren im Ausland ansässigen Arbeitgeber in die Bundesrepublik Deutschland visumfrei hätten einreisen dürfen. Erst recht müsse dies dann für den Arbeitgeber gelten, wenn er einen Auftrag bei seinem in Deutschland ansässigen Kunden selbst durchführen wolle.
Dem schriftsätzlichen Vorbringen des in der mündlichen Verhandlung nicht erschienenen Klägers ist der Antrag zu entnehmen,
das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 12. März 2012 zu ändern und festzustellen, dass er berechtigt ist, visumfrei für seine Firma N... mit Sitz in Istanbul/Türkei zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von Auftragsverhältnissen nach Deutschland einzureisen und sich mindestens zwei Monate im Jahr in Deutschland aufzuhalten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Wegen des weiteren Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Streitakte sowie des von der Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Das Gericht durfte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil die Beteiligten gemäß § 102 Abs. 2 VwGO in der Ladung darauf hingewiesen worden sind.
Soweit die Beklagte die von ihr eingelegte Berufung zurückgenommen hat, ist das Verfahren einzustellen (§§ 125 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingereichte und begründete Berufung des Klägers ist begründet.
Mit dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, dass die Feststellungsklage im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO zulässig ist und insbesondere ein von der Beklagten bestrittenes konkretes Rechtsverhältnis beschreibt. Da der Kläger auch weiterhin unter seiner Firma zeitlich befristete Dienstleistungen in Deutschland erbringen und dazu visumfrei einreisen möchte, unterliegen auch weder die erforderliche Gegenwärtigkeit des Rechtsverhältnisses noch das berechtigte Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung ernstlichen Zweifeln.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Klage auch begründet. Der Kläger ist berechtigt, unter Beibehaltung seines gewöhnlichen Aufenthalts in der Türkei im Rahmen von Auftragsverhältnissen visumfrei für seine Firma N... mit Sitz in Istanbul/Türkei zur Erbringung von Dienstleistungen an Personen im Rahmen ihres Geschäftsbetriebes einzureisen und sich zu diesem Zweck nicht länger als drei Monate in Deutschland aufzuhalten. Dabei geht der Senat davon aus, dass dem Feststellungsbegehren des Klägers trotz vom Antrag etwas abweichender Formulierung mit der Urteilsformel in vollem Umfang entsprochen wird.
Das Verwaltungsgericht ist im Ausgangspunkt seiner materiell-rechtlichen Betrachtung zutreffend und auch vom Kläger nicht bestritten davon ausgegangen, dass türkische Staatsangehörige für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 sowie Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, für die vom Kläger beabsichtigte Aufenthaltsdauer grundsätzlich ein Schengen-Visum nach der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG benötigen.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Kläger aufgrund von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll jedoch berechtigt, zur Ausübung der von ihm beabsichtigten Beratungstätigkeiten visumfrei einzureisen und sich zu diesem Zweck nicht länger als drei Monate in Deutschland aufzuhalten.
Nach Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Diese Stillhalteklausel verbietet allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die den Zweck oder die Wirkung haben, die Ausübung dieser wirtschaftlichen Freiheiten durch türkische Staatsangehörige im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats restriktiveren Bedingungen als denen zu unterwerfen, die galten, als das Zusatzprotokoll in diesem Mitgliedstaat in Kraft trat (vgl. zuletzt EuGH, Urteil v. 24. September 2013 - C-221/11 -, Demirkan, Rz. 39, m.w.N.), was hier am 1. Januar 1973 erfolgt ist. Die Stillhalteklausel hat unmittelbare Wirkung, das heißt, dass türkische Staatsangehörige, die von ihr begünstigt werden, sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten unmittelbar auf sie berufen können (vgl. EuGH, Urteil v. 24. September 2013, a.a.O-, Rz. 38, m.w.N.). Sie verleiht für sich allein allerdings weder ein Recht auf freien Dienstleistungsverkehr noch ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sondern stellt vielmehr eine verfahrensrechtliche Regelung dar, die in zeitlicher Hinsicht festgelegt, nach welchen Bestimmungen eines Mitgliedstaats die Situation eines türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist, der in diesem Mitgliedstaat von der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll Gebrauch machen will. Die Vorschrift verbietet generell die Einführung neuer Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden Mitgliedstaat galten. Dabei ist die Stillhalteklausel in der Weise dynamisch zu verstehen, dass sie es auch ausschließt, Voraussetzungen wieder zu verschärfen, die erst nach ihrem Inkrafttreten gelockert worden sind (vgl. EuGH, Urteil v. 9. Dezember 2010, - C 300/09 u. a.-, Toprak und Orguz, Rz. 60).
Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Verschlechterungsverbot des Art. 41 Zusatzprotokoll ist die bei dessen Inkrafttreten geltende Rechtslage unter Berücksichtigung der seinerzeit existierenden Rechtsprechung und der mit dieser in Einklang stehenden Verwaltungspraxis maßgebend (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 6.08 -, Rz. 20).
Gemäß § 2 Abs. 1 AuslG 1965 bedurften Ausländer, die in den Geltungsbereich dieses Gesetzes einreisen und sich darin aufhalten wollten, einer Aufenthaltserlaubnis. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965 war die Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in Form eines Sichtvermerks einzuholen von Ausländern, die im Geltungsbereich des Ausländergesetzes eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Gemäß § 2 Abs. 3 AuslG 1965 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 bedurften Staatsangehörige der in der Anlage zu dieser Verordnung aufgeführten Staaten, zu der die Türkei seinerzeit noch gehörte, und die Inhaber von Nationalpässen waren, keiner Aufenthaltserlaubnis, wenn sie sich nicht länger als drei Monate im Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufhalten und keine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Ferner war der Aufenthalt erlaubnisfrei gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG 1965, wenn türkische Staatsangehörige als Inhaber von Nationalpässen sich im Dienst eines nicht im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ansässigen Arbeitgebers zu einer ihrer Natur nach vorübergehenden Dienstleistung als Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufhielten, sofern die Dauer des Aufenthalts zwei Monate nicht überstieg und sofern sie nicht ein Reisegewerbe im Sinne von § 55 Gewerbeordnung ausüben wollten. § 1 Abs. 2 Nr. 3 DVAuslG 1965 befreite vom Erfordernis der Aufenthaltserlaubnis unter bestimmten Voraussetzungen zusätzlich Vorträge und Darbietungen künstlerischen, wissenschaftlichen oder sportlichen Charakters.
Diesen Befreiungen lag nach der amtlichen Begründung zu § 2 AuslG 1965 (abgedruckt in Kloesel/Christ, Deutsches Ausländerrecht, Stand 1980) die Erwägung zugrunde, dass ein sehr kurzfristiger Aufenthalt eines Ausländers im Geltungsbereich des Ausländergesetzes die deutschen Belange in der Regel nur geringfügig berührte, und dass der mit der Beantragung und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis notwendig verbundene Verwaltungsaufwand in diesen Fällen nicht lohnend erschien. Weiter fielen nach der amtlichen Begründung zu § 1 DVAuslG 1965 (ebenfalls abgedruckt bei Kloesel/Christ, a.a.O.) unter die Befreiungen nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 und 3 DVAuslG 1965 ausländische „Arbeitnehmer und sonstige Erwerbstätige“, die zwar im Geltungsbereich des Ausländergesetzes beruflich tätig werden, sich jedoch dort nur kurze Zeit aufhalten wollten und bei denen nach der Art ihrer Tätigkeit eine fühlbare Einwirkung auf die deutsche Wirtschaft- und Arbeitsmarktlage ausschied. Allerdings würde sich die Befreiung ausdrücklich nicht auf Reisegewerbe erstrecken.
Der Begriff der Erwerbstätigkeit wurde in Nr. 14 und 15 der Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz 1965 definiert. Nach Nr. 14 VwV zu § 2 AuslG 1965 war als Erwerbstätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 und des § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965 jede selbstständige oder unselbständige Tätigkeit anzusehen, die auf die Erzielung von Gewinn gerichtet oder für die ein Entgelt vereinbart oder den Umständen nach zu erwarten war. Erwerbstätig waren danach auch Praktikanten, Volontäre oder Auszubildende, die für ihre Arbeitsleistung ein Entgelt erhielten. Stipendien deutscher öffentlicher oder gemeinnütziger Stellen waren nicht als Entgelt anzusehen. Nach Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 war es als Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nicht anzusehen, wenn Ausländer unter Beibehaltung ihres gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland für ausländische Unternehmen Besprechungen oder Verhandlungen im Bundesgebiet führten oder wenn sie Waren oder Dienstleistungen im Bundesgebiet nur Personen anboten, die im Rahmen ihres Geschäftsbetriebs aufgesucht wurden.
Es ist unstreitig, dass die vom Kläger beabsichtigten Dienstleistungen, zu deren Zweck er 2010 in das Bundesgebiet einreisen wollte, die Definition einer Erwerbstätigkeit im Sinne von Nr. 14 VwV zu § 2 AuslG 1965 erfüllt. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann sich der Kläger jedoch auf die Ausnahmedefinition der Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 berufen, bei der es sich um eine authentische Interpretation des Begriffs der Erwerbstätigkeit handelte (vgl. Gutmann in GK-Aufenthaltsgesetz, Rz. 52.2 zu Art. 13 ARB 1/80). Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 beschränkt ihren Anwendungsbereich dem Wortlaut nach nicht auf Arbeitnehmer eines ausländischen Unternehmens, so dass auch eine entsprechende Tätigkeit des Unternehmers selbst erfasst war.
Nach Auffassung des erkennenden Senats versteht das Verwaltungsgericht den in Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 enthaltenen Begriff „anbieten“ zu eng. Dessen Wortbedeutung lässt es durchaus zu, das Angebot und dessen Erfüllung als Einheit zu sehen. Ein Angebot impliziert die Bereitschaft zur Erfüllung. Eine Dienstleistung wird angeboten, um sie zu erbringen. Der Begriff des Anbietens von Waren oder Dienstleistungen findet zudem eine Entsprechung in der Gewerbeordnung. So definiert die seit Inkrafttreten von Art. 41 Zusatzabkommen insoweit im Wesentlichen unveränderte Vorschrift des § 55 Abs. 1 GewO u.a. denjenigen als Reisegewerbetreibenden, der - neben anderen Voraussetzungen - Waren feilbietet oder Leistungen anbietet. Beiden Merkmalen ist gemein, dass das Angebot sofort erfüllt werden kann. Eine Ware wird feilgeboten, wenn sie zur sofortigen Übergabe nach Kaufabschluss bereitgehalten wird. Eine Leistung bietet derjenige an, der seine Bereitschaft zur sofortigen Leistungserbringung zum Ausdruck bringt (vgl. Ennuschat in Tettinger/Wank/ Ennuschat, GewO, 8. Aufl., § 55 GewO, Rz. 38, 43; VGH Mannheim, Beschluss vom 23. Januar 1995, - 14 S 3220/94 -, bei Juris, Rz. 7, m.w.N.; VGH Mannheim, Beschluss vom 20. November 1972 - VI 168/72 -, GewArch 1973, 159). Das legt es nahe, den Begriff des Anbietens in Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 ebenfalls dahin zu verstehen, dass er die Umsetzung des Angebots mit beinhaltet.
Ferner wäre es entbehrlich gewesen, die zweite Alternative der Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 zu regeln, wenn der Begriff des Anbietens von Dienstleistungen nur im Sinne einer Offerte zu verstehen gewesen sein sollte, weil das bloße Angebot von Waren oder Dienstleistungen bereits von der ersten Alternative, nämlich Besprechungen oder Verhandlungen, erfasst gewesen wäre.
Auch der Ansatz, die in Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 geregelten Fälle als grenzüberschreitende Geschäftsreisen zu charakterisieren, zwingt nicht zu der engen Auslegung des Verwaltungsgerichts. Die zweite Alternative von Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 erfasst kurzfristige Aufenthalte, die als Geschäftsreisen angesehen werden können, weil der betreffende Ausländer - wie in der ersten Alternative - seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland beibehält und weil er seine Waren oder Leistungen nur Personen anbietet, die er in deren Geschäftsbereich aufsucht. Die letztgenannte Voraussetzung findet im Übrigen eine Entsprechung in § 55 b Abs. 1 GewO, wonach eine Reisegewerbekarte nicht erforderlich ist, soweit der Gewerbetreibende andere Personen im Rahmen ihres Geschäftsbetriebs aufsucht. Hinter dieser Befreiung steht die Erwägung, dass nicht der als besonders schutzwürdig angesehene Endverbraucher, sondern Geschäftsleute dem Reisegewerbetreibenden als Vertragspartner gegenüberstehen, wobei vorausgesetzt wird, dass es sich um einen für den Geschäftsbetrieb einschlägigen Vertragsgegenstand handelt (vgl. Ennuschat in Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, 8. Aufl., § 55 b, Rz. 2, 6).
Schließlich ist davon auszugehen, dass Nr. 15 VwV zu § 2 AuslG 1965 den in § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG 1965 ausdrücklich geregelten Fall der Erbringung einer vorübergehenden Dienstleistung durch Arbeitnehmer eines im Ausland ansässigen Arbeitgebers ergänzte. Denn es ist kein sachgerechter Grund ersichtlich, warum Arbeitnehmer eines ausländischen Unternehmers berechtigt gewesen sein sollten, visumfrei einzureisen, um für ihren Arbeitgeber Dienstleistungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu erbringen, dies andererseits aber dem Arbeitgeber selbst nicht möglich gewesen sein sollte. Denn die Konsequenz bestünde darin, dass der Unternehmer zwar visumfrei hätte einreisen dürfen, um Verträge zu schließen, zu deren Erfüllung aber nur in der Lage gewesen wäre, wenn er dafür Arbeitnehmer entsandt hätte. Ein selbständiger Unternehmer ohne Arbeitnehmer hätte nicht einmal diese Möglichkeit gehabt. Dass auch in dem angesprochenen Fall der Entsendung von Arbeitnehmern die Erbringung von Dienstleistungen im Vordergrund steht, hat auch der EuGH angenommen und in seinem Urteil vom 21. Oktober 2003 - C-317/01 - (Abatay) zum persönlichen Anwendungsbereich von Art. 41 Zusatzabkommen betreffend in der Türkei angestellter Fernfahrer ausgeführt, ein Unternehmen mit Sitz in der Türkei, das rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringe, könne sich unzweifelhaft auf diese Bestimmung berufen; entsprechendes müsse für die Beschäftigten gelten, weil das Unternehmen seine Dienstleistungen ohne Beschäftigte nicht erbringen könne (Rz. 134, 136).
Schließlich hält der Senat die vom Verwaltungsgericht für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung angeführten Gründe nicht für stichhaltig. Denn in beiden Fällen bestand grundsätzlich die Möglichkeit, dass die visumfreie Einreise dazu missbraucht wurde, eine längerfristige Erwerbstätigkeit im Inland auszuüben. Dass der Anreiz zu einem solchen Missbrauch für einen Unternehmer, dessen Firma im Ausland ansässig ist, größer sein sollte als für einen Arbeitnehmer, dessen Arbeitgeber im Ausland ansässig ist, drängt sich nicht auf.
Eine von diesem Verständnis der Verwaltungsvorschrift abweichende damalige Verwaltungspraxis oder Rechtsprechung hat der Beklagte nicht dargelegt und ist auch für den Senat nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Der Senat hat die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, weil die entscheidungserhebliche Frage, ob türkische Selbständige mit Firmensitz in der Türkei bei Inkrafttreten von Art. 41 Zusatzabkommen berechtigt waren, zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von Auftragsverhältnissen visumfrei nach Deutschland einzureisen, höchstrichterlich nicht entschieden ist und weil diese Frage aufgrund der Wirkungen von Art. 41 Zusatzabkommen auch in nicht absehbarer Zukunft für einen nicht überschaubaren Personenkreis von erheblicher Bedeutung ist. In einer derartigen Konstellation steht es der Revisibilität nicht entgegen, dass das maßgebende nationale Ausländerrecht außerhalb der Stillhalteklausel nicht mehr gilt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 1994 - 11 PKH 28/94 -, bei Juris, Rz. 4; Beschluss vom 20. Dezember 1995 - 6 B 35/95 -, bei Juris, Rz 7; Beschluss vom 12. September 2001 - 8 B 39/11 -, bei juris, Rz. 8).