Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat | Entscheidungsdatum | 13.12.2011 | |
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Aktenzeichen | OVG 12 B 20.11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 6 GG, § 11 Abs 1 AufenthG, Art 2 Abs 2 Buchst b EGRL 115/2008, Art 11 Abs 2 S 2 EGRL 115/2008 |
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer vom Beklagten gegenüber dem Kläger erlassenen Befristung der Wirkungen einer Ausweisung.
Der 1973 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und reiste 1988 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland zu seinem in Osnabrück lebenden Vater ein. Die Ausländerbehörde der Stadt Osnabrück erteilte ihm zunächst eine befristete und 1996 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Aus der 1993 geschlossenen Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen ist 1995 sein Sohn M. S. hervorgegangen. Die Ehe wurde im November 2006 geschieden.
Seit dem Jahr 1992 ist der Kläger mehrfach strafrechtlich verurteilt worden. Der Auszug des Bundesamtes für Justiz vom 9. Februar 2010 wies für den Kläger die folgenden „strafrechtlichen“ Verurteilungen auf:
1. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. November 1994 (35 Ds 15 JS 18923/94 (32 VRs): 60 Tagessätze wegen Körperverletzung,
2. Urteil des Amtsgerichts Tecklenburg vom 21. Oktober 1996 (7 CS 15 JS 1338/96): 15 Tagessätze wegen Beleidigung,
3. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 2. Januar 1997 (21 JS 25189/96 (68 VRS)): 90 Tagessätze wegen Bedrohung,
4. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 1. April 1997 (18 CS 77 JS 8235/97 (VRS)): 20 Tagessätze wegen Fahrens ohne Haftpflichtversicherung,
5. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 13. Mai 1997 (18 CS 21 JS 25189/96 (68 VRs)): 100 Tagessätze wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln, einbezogen wurden die Verurteilungen zu 2. und 3.,
6. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 29. Juli 1997 (18 CS 4 JS 24556/97 (38 VRS)): 150 Tagessätze wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz,
7. Urteil des Amtsgerichts Tecklenburg vom 22. Mai 1998 (7 DS 15 JS 1200/97 (1120/97)): 30 Tagessätze wegen Betruges,
8. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 18. Juni 1998 (18 CS 3 Js 2861/98 (61 VRs)): 60 Tagessätze wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt, zu 6., 7. und 8. zusammengefasst zu einer Gesamtstrafe von 220 Tagessätzen (Beschluss des Amtsgerichts Osnabrück vom 23. November 1998 – 18 CS 4 JS 24556/97 (38 VRS)),
9. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 16. Juli 1998 (18 CS 78 JS 46549/97 (VRS)): 60 Tagessätze wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis,
10. Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. Juli 1998 (F 1101) - 289 CS 559/98 -): 20 Tagessätze wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis trotz Verbots,
11. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 10. August 1998 (18 DS 2 JS 3091/98 (64 VRS)): 150 Tagessätze wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln,
12. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 5. Oktober 1998 (18 CS 78 JS 27398/98 (VRS)): 50 Tagessätze wegen Körperverletzung, zu 10., 11. und 12. zusammengefasst zu einer Gesamtstrafe von 220 Tagessätzen (Beschluss des Amtsgerichts Osnabrück vom 5. Juli 1999 – (P3313) - 18 DS 2 JS 3091/98 (64 VRS)),
13. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 24. Februar 1999 (18 CS 26 JS 46250/98 B (VRS)): 60 Tagessätze wegen vorsätzlichen Anordnens oder Zulassens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis,
14. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 4. August 1999 (18 CS 11 JS 1871/99 (63 VRS)): 100 Tagessätze und 2 Monate Fahrverbot wegen Beihilfe zum Fahren ohne Fahrerlaubnis und falscher Verdächtigung,
15. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 26. Januar 2000 (35 LS 13 JS 32633/98 A (84 VRs)): 1 Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Förderung der Prostitution in Tateinheit mit Unterstützung illegalen Aufenthalts,
16. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 27. Juli 2000 (18 DS 11 JS 26853/99 (61 VRS)): Fünf Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis,
17. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 16. Januar 2001 ((P 3313) - 34 LS III 468/00 17 JS 20997/00 VRS): 1 Jahr und 1 Monat Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen vorsätzlicher Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und Hausfriedensbruchs,
18. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 7. März 2001 ((P 3313) - 18 CS 186/01 11 JS 39708/00 (31 VRS)): 90 Tagessätze wegen falscher Verdächtigung,
19. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 19. August 2003 ((P 3313) – 82 DS 93/03 111 JS 39840/02): Neun Monate Freiheitsstrafe wegen Betruges und Urkundenfälschung,
20. Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 16. Februar 2004 ((P 3313) – 5 LS 403 JS 41173/02): Ein Jahr und vier Monate Gesamtfreiheitsstrafe wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen unter Einbeziehung der Entscheidung zu 15., ferner eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen unter Einbeziehung der Entscheidungen zu 16. und 17.; ferner eine dritte Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr wegen Steuerhinterziehung in 23 Fällen unter Einbeziehung der Entscheidung zu 19.
Mit Bescheid vom 12. Mai 2004 wies die Ausländerbehörde der Stadt Osnabrück den Kläger nach erfolgter Anhörung gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG unter Berücksichtigung des Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 AuslG (Herabstufung der Ist-Ausweisung zu einer Regel-Ausweisung) aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Die Ausweisung wurde auf spezialpräventive und generalpräventive Gründe gestützt. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Osnabrück (5 A 597/04) Klage gegen die Ausweisungsverfügung. 2005 schlossen der Kläger und die Stadt Osnabrück vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück einen gerichtlichen Vergleich. Danach verpflichtete sich der Kläger, bis zum 30. Juni 2005 freiwillig auszureisen, und der Beklagte sagte zu, die Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre ab Ausreise zu befristen.
Am 18. August 2005 geriet der Kläger bei der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland aus Holland in eine Polizeikontrolle. Dabei gab er sich als sein Bruder aus und legte einen mit seinem Lichtbild verfälschten Sozialversicherungsausweis vor. Gegenüber der Polizei räumte der Kläger ein, dass er den Ausweis nutze, um illegal auf einer Baustelle in Münster arbeiten zu können.
Am 3. Oktober 2006 meldete sich der Kläger in der Türkei an. Nach Eingang der Meldebescheinigung befristete die Ausländerbehörde Osnabrück die Wirkungen der Ausweisung dem gerichtlichen Vergleich entsprechend auf den 3. Oktober 2011.
Am 4. September 2007 wurde der Kläger in Berlin auf Grund eines anonymen Hinweises, dass er sich dort unter dem Namen S. A. aufhalte und die Firma E. Autopflege betreibe, ausländerrechtlich überprüft. Zur Identifizierung legte er einen verfälschten Sozialversicherungsausweis und eine Meldebescheinigung für eine Anschrift in Berlin vor.
Mit Bescheid vom 5. September 2007 widerrief die Ausländerbehörde der Stadt Osnabrück die Befristung der Wirkungen der Ausweisung wegen der erneuten illegalen Einreise. Eine Rechtsmittelbelehrung war dem Schreiben nicht beigefügt. Trotz der am 10. September 2007 erlassenen Abschiebungsverfügung ermöglichte der Beklagte dem Kläger, am 26. Oktober 2007 freiwillig auszureisen. Am 11. April 2008 heiratete der Kläger in der Türkei die in Berlin wohnhafte deutsche Staatsangehörige S. B., die eine im Jahr 2000 geborene Tochter mit in die Ehe brachte.
Am 21. April 2008 beantragte der Kläger bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul die Erteilung eines Visums zum Zwecke des Ehegattennachzugs. Der Beklagte wertete dies als Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung. Mit Bescheid vom 25. September 2008 befristete er im Einvernehmen mit der Stadt Osnabrück die Wirkungen der Ausweisung vom 12. Mai 2004 auf den 26. Oktober 2017 (10 Jahre seit der letzten Ausreise). Zur Begründung verwies der Beklagte auf die Befristungstabelle nach A.11 der Vorläufigen Anwendungshinweise Berlin (VAB). Er führte im Wesentlichen aus, dass angesichts der Vielzahl und der Schwere der von dem Kläger in der Vergangenheit begangenen Delikte und der wiederholten illegalen Einreisen von einer Wiederholungsgefahr auszugehen sei, so dass der festgesetzte Befristungszeitpunkt zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt und als vorbeugende Maßnahme geboten sei. Mit der Entscheidung werde nicht in eine tatsächlich im Bundesgebiet gelebte familiäre Lebensgemeinschaft eingegriffen. Den familiären Bindungen des Klägers sei dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass die Sperrwirkung, wenn auch für einen langen Zeitraum, befristet worden sei, obwohl bei einer Ausweisung nach § 53 AufenthG eine Befristung regelmäßig nicht in Betracht komme.
Hiergegen legte der Kläger am 29. Oktober 2008 Widerspruch ein und beantragte eine Befristung der Ausweisung auf den 01. Januar 2010. Darüber entschied der Beklagte zunächst nicht.
Nachdem der Kläger am 21. September 2009 Untätigkeitsklage erhoben hatte, wies der Beklagte den Widerspruch gegen die Befristungsentscheidung mit Bescheid vom 1. März 2010 zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass die Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG in der Regel zu befristen seien und die Dauer der Befristung im Ermessen des Beklagten stehe. Für seine Entscheidung habe er sich an den Verfahrensvorschriften zum Aufenthaltsgesetz (VwV/AufenthG) und den Verfahrenshinweisen der Ausländerbehörde Berlin (VAB) orientiert. Danach sei eine Ausweisung nach § 53 AufenthG Indiz für das Vorliegen eines Ausnahmefalls, in dem eine Befristung ausscheide. Aufgrund der schützenswerten Lebensgemeinschaft des Klägers zu seiner deutschen Ehefrau sei aber dennoch ein Regelfall anzunehmen. Zudem sei nach den Verfahrensvorschriften bei Ausweisungen nach § 53 AufenthG eine Frist von zehn Jahren anzusetzen, welche im Einzelfall um bis zu drei Jahre verkürzt oder verlängert werden könne. Im Hinblick auf die familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau sei eine anfängliche Verkürzung um 3 Jahre vorzunehmen. Angesichts der realisierten Wiederholungsgefahr, die sich aus den zahlreichen Straftaten in der Vergangenheit, den laufenden Ermittlungsverfahren, den illegalen Einreisen und der Nutzung falscher Personalien anlässlich von Polizeikontrollen ergebe, sei eine anfängliche Verlängerung der Frist von 3 Jahren unerlässlich. Insgesamt bleibe es daher bei einer Sperrfrist von 10 Jahren. Eine weitere Verkürzung der Sperrfrist könne nach den VwV/AufenthG und den VAB frühestens drei Jahre vor Ablauf der gesetzten Frist, also erst ab dem 26. Oktober 2014, geprüft werden.
Unter Einbeziehung des Widerspruchsbescheides hat der Kläger sein Begehren als Verpflichtungsklage fortgeführt und hilfsweise die Neubescheidung seines Antrages begehrt.
Er hat die Auffassung vertreten, in seinem Fall sei lediglich von einer Regelausweisung im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auszugehen, so dass mit Blick auf die familiäre Beziehungen zu seiner Ehefrau und deren Tochter und zu seinem leiblichen Sohn schon nach den Verwaltungsvorschriften des Beklagten eine Befristung auf den 1. Januar 2010 habe erfolgen müssen. Zudem habe der Beklagte bei der Befristungsentscheidung nicht berücksichtigt, dass der Kläger freiwillig und zu einem Zeitpunkt ausgereist sei, als der Beklagte im Rahmen seiner damals maßgeblichen Ermessensrichtlinien noch eine Sperrfrist von maximal fünf Jahren zugrunde gelegt habe. Ebenso wenig sei hinreichend berücksichtigt worden, dass der Kläger seit mehreren Jahren straffrei, in geordneten wirtschaftlichen und stabilen familiären Verhältnissen lebe. Die Dauer der Sperrfrist sei vor allem im Hinblick auf die in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK getroffene Wertentscheidung unverhältnismäßig, da die im Jahr 2000 geborene Tochter seiner Ehefrau den Kläger als Vater ansehe und sie für ihre persönliche Entwicklung auf ihn als „Vaterersatz“ angewiesen sei.
Mit Urteil vom 22. Februar 2011 – VG 35 K 420/09 – hat das Verwaltungsgericht Berlin den Beklagten unter Aufhebung des angegriffenen Bescheides zur Neubescheidung des klägerischen Antrags auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet. Zur Begründung hat es insbesondere Folgendes ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Befristung der Sperrwirkungen der Ausweisung hätten vorgelegen, da die Ausweisung des Klägers wegen des bestandskräftigen Widerrufs der früheren Befristungsentscheidung bislang unbefristet und der Visumsantrag als Befristungsantrag zu werten sei. Es liege auch ein Regelfall i.S.d. § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG vor. Der Kläger sei zwar wiederholt straffällig geworden und illegal eingereist, so dass sich die mit der Ausweisung bezweckte spezialpräventive Abwehr einer Wiederholungsgefahr bereits realisiert habe. Diese Rechtsverstöße rechtfertigten aber vor allem mit Blick auf die familiäre Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau und deren Tochter kein dauerhaftes Einreiseverbot, sondern seien bei der Bemessung der Sperrfrist zu berücksichtigen.
Die Entscheidung des Beklagten hinsichtlich der Dauer der Befristung sei jedoch ermessensfehlerhaft. Zwar habe der Beklagte sein Ermessen erkannt. Er habe sich jedoch bei seiner Entscheidung rein schematisch an den ermessenlenkenden, die Gerichte aber nicht bindenden Verwaltungsvorschriften orientiert und dabei die Besonderheiten des Einzelfalls unzureichend ermittelt und nicht hinreichend berücksichtigt. Eine nach Fallgruppen typisierende Bemessung der Fristdauer sei zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Den Besonderheiten des Einzelfalles müsse aber durch eine entsprechende Fristgestaltung Rechnung getragen werden. Neben der Schwere des Ausweisungsgrundes sei insbesondere die persönliche Situation des Klägers zu berücksichtigen. Dabei sei dem zwischenzeitlich veränderten Leitbild der Familie in Art. 6 GG und den durch das Kindschaftsreformgesetz geänderten Rahmenbedingungen, wonach nicht nur zu leiblichen Kindern sondern auch zu Stiefkindern eine sozial-familiäre Beziehung bestehen könne, ausreichend Rechnung zu tragen.
Das Verwaltungsgericht hat die Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, dass die Befristungsentscheidung in Anwendung der Verwaltungsvorschriften unter Berücksichtigung des Einzelfalls in verhältnismäßiger Weise zustande gekommen sei. Der Verfasser der Verwaltungsvorschriften habe unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen mit der Möglichkeit, die Regelfrist um bis zu drei Jahre zu verkürzen oder zu verlängern, einen Rahmen als Maßstab für die Ausfüllung des bestehenden Ermessenspielraums vorgesehen, innerhalb dessen den besonderen Umständen des Einzelfalls hinreichend Rechnung getragen werden könne. Eine Unterschreitung des durch die Verwaltungsvorschriften festgelegten grundsätzlichen Rahmens sei nur in Fällen angezeigt, in denen die Umstände des Einzelfalls noch nicht ausreichend innerhalb des Rahmens berücksichtigt werden könnten. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Insofern vertieft der Beklagte sein erstinstanzliches Vorbringen.
Eine weitere Verkürzung der Frist zum jetzigen Zeitpunkt sei nicht angezeigt, da eine hinreichend sichere Prognose, dass der Kläger in Zukunft straffrei leben werde, zurzeit nicht gerechtfertigt sei. Es bedürfe der mehrjährigen Straffreiheit, um davon ausgehen zu können, dass sich das vom Kläger ausgehende Risiko für die Gesellschaft ausreichend minimiert habe. Das mildere Mittel der Widerrufsmöglichkeit sei nicht gleich geeignet, da so eine derzeit noch nicht absehbare weitergehende positive Entwicklung auch in den nächsten Jahren überhaupt keine Berücksichtigung finden könne. Zudem treffe ein Widerruf den Kläger umso härter, als dann die unbefristete Ausweisung wieder bestehen würde.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22. Februar 2011 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsstreitakte, die den Kläger betreffende Ausländerakte des Beklagten und auf die beigezogenen Strafakten Bezug genommen. Die genannten Akten haben vorgelegen und sind - soweit wesentlich - zum Inhalt der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats gemacht worden.
Die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass der Kläger einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung hat.
Der Senat hat für die Prüfung des Anspruchs auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007, BVerwGE 129, 243). Das Klagebegehren ist daher am Maßstab der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) geänderten und am 26. November 2011 in Kraft getretenen Fassung des § 11 Abs. 1 AufenthG zu beurteilen. Eine Übergangsvorschrift für noch nicht abgeschlossene Verfahren sieht das Gesetz vom 22. November 2011 nicht vor.
Rechtsgrundlage der Befristungsentscheidung ist § 11 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Satz 1 und Satz 2 AufenthG. Danach wird die Sperrwirkung der Ausweisung (Einreiseverbot, Verbot der erneuten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) befristet, wobei die Bemessung der Frist nunmehr unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen ist und fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (Satz 4). Bei der Bemessung der Länge der Frist wird zudem berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5).
Die Dauer der mit einer Ausweisung verfügten Sperrwirkung richtet sich im Hinblick auf deren Akzessorietät nach dem mit der Ausweisung verfolgten zulässigen konkreten Zweck (vgl. dazu auch VGH München, Beschluss vom 26. März 2009 – 19 ZB 09.498 -, juris, Rn. 2; VGH Mannheim, Urteil vom 26. März 2003, InfAuslR 2003, 333). Die Sperrwirkung darf grundsätzlich nur so lange fortbestehen, wie es der Ausweisungszweck erfordert (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. April 1984, BVerwGE 69, 137, 141; Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage, § 11 Rn. 23; Hail-bronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 11 AufenthG Rn. 25 ff., 30). Ist der Zweck erreicht, so ist das der Ausländerbehörde eingeräumte Befristungsermessen in der Regel auf Null reduziert, und eine zeitliche Befristung kommt selbst dann nicht mehr in Betracht, wenn der Ausländer noch nicht ausgereist ist (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 11. August 2000, BVerwGE 111, 369; Urteil des Senats vom 15. März 2011 – OVG 12 B 12.10 –, UA S. 8).
Bei der Beantwortung der Frage, ob der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive oder generalpräventive Ausweisungszweck erfüllt ist, muss die Ausländerbehörde eine Gefahrenprognose treffen, bei der sie alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und sachgerecht abwägt. Hierzu zählen auch das Verhalten des Ausländers nach der Ausweisung und der Ausweisungsgrund (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007, BVerwGE 129, 243). Auch die familiären Belange des Ausländers sind angemessen zu würdigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, NVwZ 2006, 682, 683).
Die von dem Beklagten getroffene Befristungsentscheidung genügt nicht den Anforderungen des § 11 Abs. 1 AufenthG in der hier maßgeblichen Neufassung. Soweit der Beklagte in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten hat, er habe der geänderten Rechtslage in seinen überarbeiteten Anwendungshinweisen vom 8. Dezember 2011 hinreichend Rechnung getragen, kann dem nicht gefolgt werden.
Nach dem neu eingeführten § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ist bei der im behördlichen Ermessen verbleibenden Bestimmung der Länge der Frist zu beachten, dass die Dauer des Einreiseverbots grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten darf. Diese auf Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Abl. L 348 S. 98; im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) zurückgehende Höchstdauer darf nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nur überschritten werden, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist (vgl. Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie) oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie).
Das Ausweisungsrecht hat mit der Einführung der Fünfjahresfrist in die Vorschrift des § 11 Abs. 1 AufenthG eine substanzielle Änderung erfahren. Das Aufenthaltsgesetz, das – wie bereits das Ausländergesetz (AuslG) – bislang keine Aussage über die Dauer der Frist enthielt, sondern lediglich regelte, dass die Frist mit der Ausreise in Lauf gesetzt wird (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG a.F.; § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG), bestimmt nunmehr erstmals, in welchem Zeitrahmen Einreiseverbote in der Regel festgesetzt werden dürfen. Der Gesetzgeber hat damit festgelegt, ab wann dem ausgewiesenen Ausländer im Regelfall einwanderungspolitische Belange nicht mehr entgegen gehalten werden dürfen. Die behördliche Ermessensentscheidung über die Dauer der Frist wird nunmehr nicht mehr allein durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die sich unter anderem aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ergebenden schutzwürdigen Belange des Ausländers, sondern darüber hinausgehend in zeitlicher Hinsicht konkret begrenzt.
Entgegen der Auffassung des Beklagten greift diese substantielle Änderung der Befristungsregelung auch in den in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorgesehenen Ausnahmefällen, in denen das Gesetz es zulässt, dass die Frist von fünf Jahren überschritten wird. Die Regelung ist dahingehend zu verstehen, dass auch in den Fällen, in denen es um eine auf strafrechtlicher Verurteilung beruhende Ausweisung oder eine von dem Ausländer ausgehende schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung geht, von der Höchstdauer der Frist von fünf Jahren auszugehen ist, die jedoch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls überschritten werden darf. Dies ergibt sich bereits aus der von dem Gesetzgeber gewählten Formulierung „überschreiten“. Auch aus der Begründung des Gesetzes vom 22. November 2011 geht hervor, dass der Gesetzgeber – gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie – mit der Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG den Anwendungsbereich der Richtlinie nur insoweit einschränken wollte, als er für verurteilte Straftäter Ausnahmen von der regelmäßigen Höchstfrist von fünf Jahren zugelassen hat (vgl. BT-Drs. 17/5470 S. 21). Den Gesetzesmaterialien lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Gesetzgeber von der in Art. 2 Abs. 2 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen wollte, Drittstaatsangehörige, die aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, vollständig von dem Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie auszunehmen. Soweit es um den weiteren Ausnahmefall geht, dass der Ausländer eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder nationale Sicherheit darstellt, räumt Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie dem nationalen Gesetzgeber ohnehin nur die Möglichkeit ein, ein Überschreiten der Frist von fünf Jahren vorzusehen, nicht jedoch die Anwendung der Richtlinie vollständig auszuschließen.
Hiervon abweichend hat der Beklagte in seinen überarbeiteten Verfahrenshinweisen zum Ausdruck gebracht, dass seiner Auffassung nach die Frist von fünf Jahren in den genannten Ausnahmefällen keine Rolle mehr spielt. Zwar hat er in Ziffer 11.1.3.5 der Verfahrenshinweise zunächst zutreffend ausgeführt, dass der Gesetzgeber die Rückführungsrichtlinie dahingehend umgesetzt habe, dass in den Ausnahmefällen ein Überschreiten der Grenze von fünf Jahren in Betracht kommt. Er geht jedoch in seinen Leitlinien für die Ermessensausübung (Ziffer 11.1.3.7 der Verfahrenshinweise) unverändert von einer Frist von zehn Jahren bei Ausweisungsgründen nach § 53 AufenthG, von sieben Jahren bei Ausweisungsgründen nach § 54 AufenthG und von drei Jahren bei Ausweisungsgründen nach § 55 AufenthG aus, wobei die Frist anfänglich um bis zu drei Jahre verkürzt oder verlängert werden kann, um den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen (vgl. Ziffer 11.1.3.7 der Verfahrenshinweise). Die Anwendung dieser Regelfristen, die weit über der gesetzlich vorgegebenen Höchstdauer liegen, wird den Anforderungen, die die geänderte Gesetzeslage an die Befristungsentscheidung stellt, nicht gerecht. Die dargestellte Gesetzesänderung erfordert vielmehr eine umfassende Überarbeitung der bisherigen Ermessensleitlinien, die ausgehend von der Höchstfrist von fünf Jahren regeln, wie in den in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorgesehenen Ausnahmen zu verfahren ist. Dies gilt auch mit Blick auf die weitere Ergänzung der Befristungsregelung in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, wonach die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzten ist. Bei der Überarbeitung seiner Verfahrenshinweise wird der Beklagte zur Wahrung bundeseinheitlicher Maßstäbe bei der Anwendung der Befristungsregelung auch im Blick haben müssen, wie der Bund in seinen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG-VwV) der geänderten Rechtslage Rechnung tragen wird.
Bereits aus dem zuvor dargestellten grundlegenden Mangel der Ermessensbetätigung in der Folge des neu gefassten § 11 Abs. 1 AufenthG ergibt sich die ermessensfehlerhafte Behandlung des von dem Kläger gestellten Befristungsantrages und damit die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verwaltungsentscheidung. Für die von ihm zu treffende neue Befristungsentscheidung wird der Beklagte zunächst das Gewicht der zugunsten des Klägers, seiner Ehefrau und seiner Kinder sprechenden familiären Belange nach dem aktuellen Sachstand aufklären und entscheiden müssen. Nachdem die Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bekundet hat, zu dem Kläger bestehe kein laufender Kontakt und nachdem auch aktuelle Bekundungen der in Berlin lebenden Ehefrau des Klägers nicht vorliegen, bestehen durchaus Zweifel an der Bedeutung und an dem Gewicht der familiären Belange des Klägers. Es obliegt dem Verwaltungsverfahren des Beklagten, insoweit größere Klarheit zu schaffen. Jedenfalls erscheint nach dem bisherigen Sach- und Streitstand angesichts der erheblichen früheren Straffälligkeit des Klägers durchaus vorstellbar, dass der Beklagte im Ergebnis seiner neuen Ermittlungen nicht verpflichtet sein wird, es bei der Höchstfrist von fünf Jahren nach § 11 Abs. 1 AufenthG zu belassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.