Gericht | VG Potsdam 13. Kammer | Entscheidungsdatum | 18.05.2020 | |
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Aktenzeichen | 13 K 4250/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2020:0518.13K4250.16.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG, § 113 Abs 5 S 1 VwGO, § 92 VwGO |
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Oktober 2016 wird in Nr. 4 bis 6 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, für die Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz nach Afghanistan festzustellen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Kläger sind afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volks- und islamischer (sunnitischer) Religionszugehörigkeit und haben zunächst die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Asylgesetz (AsylG), hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG und weiter hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG) nach Afghanistan vorliegen, begehrt.
Die Kläger stellten am 2. November 2015 Asylanträge. In der Anhörung nach § 25 AufenthG am 4. Oktober 2016 gab der 1984 geborene Kläger zu 1., der Analphabet ist, folgendes an: Er stamme aus der Provinz Parwan und habe in Afghanistan zuletzt mit seinen Eltern und zwei Brüdern in der Provinz Nangarhar in dem Ort Sar Shahi in einem Zelt gelebt. Damals sei er etwa 16 Jahre alt gewesen. Er habe Afghanistan 2003 oder 2004 verlasen und sei nach Pakistan gegangen, wo er zwei Jahre geblieben sei. Anschließend sei er in den Iran gegangen und dort weitere zehn Jahre geblieben. Vom Iran aus sei er 2015 auf dem Landweg nach Deutschland gereist, wo er zwischen dem 20. und 27. Oktober 2015 eingereist sei. Seine Eltern und seine Schwester leben weiterhin im Iran; ein Bruder sei in Deutschland. Er wisse nicht, wer von seiner Verwandtschaft in Afghanistan noch lebe. Er habe nur Kontakt zur Familie seines Schwiegervaters. Eine Schule habe er nie besucht. In Afghanistan habe er als Kellner gearbeitet; in Pakistan habe er Müll gesammelt und verkauft. Im Iran habe er als Gärtner, Bauer, Bauarbeiter und zuletzt als Schweißer gearbeitet, ohne in einem dieser Berufe eine Ausbildung gemacht zu haben. Der Grund für die Flucht aus Afghanistan seien Familienfehden gewesen. Sein Onkel habe versucht, mit einem Mädchen, das er gegen den Willen der Familie des Mädchens habe heiraten wollen, „durchzubrennen“, wobei der Onkel vom Vater des Mädchens erschossen worden sei. Daraufhin habe der Bruder seines Onkels die Onkel des Mädchens und des Vaters des Mädchens getötet. Schließlich sei ein weiterer seiner Onkel getötet und sein, des Klägers, Vater verletzt worden. Sein Vater sei zunächst für eine Nacht in ein Krankenhaus nach Kabul gegangen; am nächsten Morgen sei die ganze Familie nach Dschalalabad gegangen und habe dort drei Jahre unbehelligt gelebt. Nach drei Jahren seien sie gewarnt worden, dass ihre Feinde wissen, wo sie leben. Eines Tages seien er und sein Bruder von drei Leuten, die in einem Auto unterwegs waren, angehalten worden. Man habe versucht, den Kläger und seinen Bruder zu entführen. Ihm, dem Kläger, sei es gelungen, den Entführern zu entkommen, seinem Bruder jedoch nicht. Was mit seinem Bruder weiter geschehen sei, wisse er nicht. Sie seien dann nach Pakistan gegangen. Seine Familie habe sich deswegen nicht an die Polizei gewandt, weil die Entführung in den Zeiten stattgefunden habe, in denen die Taliban an der Macht gewesen seien. Im Iran habe er sechs Jahre in der Provinz Mazandaran gelebt. Anfangs seien ihre Aufenthaltsgenehmigungen alle sechs Monate verlängert worden, später seien sie aufgefordert worden, nach Afghanistan zurück zu gehen. Er habe das aber nicht gekonnt, weshalb er mit seiner Frau, der Klägerin zu 2., nach Teheran gegangen sei. Dort seien sie aber „illegalerweise“ gewesen, weshalb sie den Iran schließlich verlassen haben. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchtet er, von der verfehdeten Familie - auch nach mehr als 16 Jahren - getötet zu werden. Diese sei sehr mächtig, verfüge über 400 bis 500 Leute, zehn gepanzerte Fahrzeuge, habe viel Geld und arbeite für die Regierung. Er habe dies im Iran von afghanischen Landsleuten aus der Provinz Parwan erfahren. Im Übrigen habe er in Afghanistan nie Probleme mit der Justiz, der Polizei oder anderen Behörden gehabt. Er habe sich nicht politisch betätigt und sei nie Mitglied einer Partei gewesen. Die 1986 geborene Klägerin zu 2. gab in der Anhörung folgendes an: Sie habe in Afghanistan mit ihren Eltern und vier Brüdern in der Provinz Parwan im Distrikt Bagram im Ort Rabat gelebt. 1997 habe sie Afghanistan verlassen und sei in den Iran gegangen, wo sie 18 Jahre geblieben sei. Dann sei sie mit dem Kläger zu 1. und ihren zwischen 2006 und 2014 geborenen Kindern, die Kläger zu 3. bis 5., und ihrem Schwager auf dem Landweg nach Deutschland gereist. Ihre Eltern und ihre vier Brüder leben weiterhin in Afghanistan. Sie habe keine Schulbildung erhalten. Als sie Afghanistan verlassen habe, sei sie zwölf Jahre alt gewesen. Im Iran habe sie als Hausfrau gearbeitet. Nach der Eheschließung habe der Kläger zu 1. ihren Unterhalt finanziert. Sie habe nicht nach Afghanistan zurückkehren können wegen der Familienfehde ihres Mannes. Sie selbst habe in Afghanistan keine Probleme gehabt. Im Übrigen bestätigt sie die Angaben des Klägers zu 1. über die Zeit im Iran im Wesentlichen und schildert, dass ihr Mann in Teheran wegen fehlender Papiere Schwierigkeiten bekommen habe und sie fast Opfer einer versuchten Entführung und Vergewaltigung geworden sei. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchtet sie um ihr Leben und das ihrer Familie.
Mit Bescheid vom 26. Oktober 2016, den Klägern zugestellt am 29. Oktober 2016, lehnte das Bundesamt die Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte ab, erkannte ihnen weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiären Schutz zu und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthaltsG vorliegen. Gleichzeitig forderte das Bundesamt die Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen und drohte ihnen für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an.
Mit ihrer am 8. November 2016 bei Gericht eingegangen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie sind der Auffassung es stehe ihnen auf jeden Fall die Feststellung eines Abschiebungsverbots zu. Als fünfköpfige Familie sei es ihnen nicht möglich, in Afghanistan ohne Netzwerk zu überleben; dieses sei aber nicht verfügbar wegen der vorstehend dargestellten Familienfehde. Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2017 ist ergänzend vorgetragen worden, dass die Kläger zu 1. und 2. noch im Iran von den Mitgliedern der verfehdeten Familie verfolgt worden seien. Die Klägerin zu 2. beruft sich ferner darauf, dass sie als „verwestlichte Frau“ einer Gruppenverfolgung in Afghanistan ausgesetzt sei. Ihr sei deshalb der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.
Die Kläger beantragen, nachdem sie die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise auf subsidiären Schutz zurückgenommen haben, nunmehr noch,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 26. Oktober 2016 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach Afghanistan bestehen.
Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Bescheides den Antrag angekündigt, |
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 9. Mai 2017 nach § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Im Termin der mündlichen Verhandlung sind die Kläger informatorisch befragt worden. Die Kläger haben erklärt, dass inzwischen auch die Familie der Klägerin zu 2. Afghanistan verlassen hat und in den Iran geflüchtet ist und dass ein Schwager des Klägers zu 1. vor etwa drei Jahren von der verfehdeten Familie getötet wurde. Im Übrigen wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. |
Die vom Beklagten für den Kläger geführten Verwaltungsvorgänge haben vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung konnte abschließend über die Klage entschieden werden, da die Beklagte in der Ladung zum Termin auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist und das persönliche Erscheinen nicht angeordnet worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Nach Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter entscheidet dieser anstelle der Kammer (§ 76 Abs. 1 AsylG).
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz), ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
Im Übrigen hat die zulässige Klage in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthaltsG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 26. Oktober 2016 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. HS AsylG) in Nr. 4 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Kläger insoweit in ihren Rechten, als diese einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach Afghanistan gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG haben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - (BGBl. 1952 II, S. 685 ff. und BGBl. 2002 II, S. 1054 ff.) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Dezember 2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 107 f. m.w.N.). |
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt [BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 13.12 -, juris Rn. 24 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 24. Juli 2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 79 ff. und vom 12. Dezember 2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 111; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR, Urteile vom 2. Mai 1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), juris;vom 27. Mai 2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), juris; vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - juris; vom 28. Juni 2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), juris].
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen (Bayerischer VGH, Urteile vom 23. März 2017 -13a B 17.30030 -, juris sowie vom 21. November 2014 - 13a B 14.30285 - und - 13a B 14.30284 -, juris dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen von Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Dezember 2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 117).
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen an die Fallgestaltung „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen“ maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage (Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung), Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Es ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Dezember 2018 - A 11 S 1923/17 -, juris Rn. 119). |
Nach dem oben dargestellten strengen Maßstab ist vorliegend ein Ausnahmefall zu bejahen. Die humanitäre Lage in Afghanistan ist für eine sechsköpfige Familie mit Kindern im Alter zwischen zwei und dreizehn Jahren, die bereits als Kinder in den Iran kamen (Eltern) oder dort erst geboren wurden (drei der vier Kinder) und in Afghanistan inzwischen über kein belastbares familiäres oder soziales Netzwerk verfügen, derart schlecht, dass von einer Abschiebung zwingend abzusehen wäre. Die von den Klägern im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu erwartenden Lebensbedingungen und die daraus resultierende Gefährdungslage weisen eine solche Intensität auf, dass von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen wäre.
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden im Jahr 2019 eine halbe Million afghanischer Staatsangehöriger aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückgeführt, davon mehr als 476.000 allein aus dem Iran. Auch aus Europa wurden Tausende afghanische Asylsuchende abgeschoben, entweder auf der Grundlage des Abkommens Gemeinsamer Weg vorwärts in Migrationsangelegenheiten mit der Europäischen Union oder bilateraler Abkommen mit der afghanischen Regierung. Außerdem hat die türkische Regierung bis September 2019 etwa 19.000 Menschen nach Afghanistan abgeschoben (Amnesty International Report Afghanistan 2019). Seit Jahresbeginn hat sich die Lage zusätzlich durch die COVID-19-Pandemie verschärft. Aus den „Briefing-Notes“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2020 ergibt sich zu den Auswirkungen dieser Pandemie für Afghanistan folgendes:
„Die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle steigt weiterhin an. Positiv getestete Personen werden aus allen 34 Provinzen gemeldet. Kabul liegt inzwischen nach der Anzahl der Fälle vor Herat gefolgt von Kandahar. Es wird erwartet, dass die Zahl der Fälle in den kommenden Wochen rapide ansteigen wird und dass sich schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft ergeben werden. Die Grenzen zu Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan sind weiterhin nur für den Warenverkehr und für zurückkehrende afghanische Staatsangehörige passierbar. Pakistan hat die Grenzen für den Personenverkehr geschlossen und erlaubt an drei Tagen in der Woche den Transport von Hilfsgütern über die Grenzübergänge Torkham und Chaman. Reise- und Ausgangsbeschränkungen gelten weiterhin in Kabul und anderen Städten. 20 Provinzen (Stand 22.04.20) haben „angemessene Beschränkungen“ (measured lockdowns) erlassen. Da es keine einheitliche nationale Regelung gibt, wird die Tätigkeit von Hilfsorganisationen erschwert. Der andauernde Konflikt … sowie Naturkatastrophen führen weiterhin dazu, dass Menschen ihre Heimatorte verlassen, wodurch die Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus steigt. Humanitäre Organisationen befürchten die negativen Auswirkungen der Beschränkungen auf ohnehin gefährdete Personengruppen, insbesondere Familien, die auf Tätigkeiten als Tagelöhner angewiesen sind und über keine alternativen Einkommensquellen verfügen. Da sich in der Öffentlichkeit die Angst vor COVID-19 ausbreitet, besteht darüber hinaus nach Auffassung von Menschenrechtsorganisationen die Gefahr einer Stigmatisierung und Diskriminierung von Erkrankten und von Personen, die kürzlich aus den Nachbarländern zurückgekehrt sind. Laut Arbeitsministerium sollen aufgrund der COVID-19-Pandemie zwei Millionen Menschen arbeitslos geworden sein“.
Unter diesen - sich nunmehr auch noch zunehmend verschlechternden - Umständen erscheint es der Kammer schlechterdings ausgeschlossen, dass die Kläger in der Lage sein könnten, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen. Das Gericht ist vielmehr der Auffassung, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in eine existenzielle Notlage geraten würden. So hat der Kläger zu 1. keine Schulbildung erfahren und anschließend ohne Berufsausbildung in verschiedenen Berufen gearbeitet. Der Kläger zu 1. wäre deshalb bei einer Rückkehr nach Afghanistan darauf angewiesen, im als gerichtsbekannt hart umkämpften dortigen Arbeitsmarkt das Existenzminimum sicherzustellen. Das dürfte ihm im Hinblick auf die immer schwieriger werdende Wohnungssituation und die Tatsache, dass es sich beim Kläger zu 1. um eine ungelernte und des Lesens und Schreiben unkundige Arbeitskraft handelt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gelingen. Hinzu kommt, dass die Klägerin zu 2. wegen der vier Kinder ohnehin nicht in der Lage sein dürfte, eine Berufstätigkeit auszuüben, so dass der Kläger ein Einkommen für eine sechsköpfige Familie alleine erwirtschaften müsste. |