Gericht | VG Potsdam 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 01.10.2013 | |
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Aktenzeichen | VG 6 L 629/13.A | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 27a AsylVfG, § 34a AsylVfG, § 80 Abs 5 VwGO |
Es liegen derzeit keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür vor, dass das polnische Asylverfahren, einschließlich einer eventuell erforderlichen medizinischen Versorgung dortiger Asylbewerber, systemische Mängel aufweist, die einen Selbsteintritt Deutschlands begründen können
Der Prozesskostenhilfeantrag des Antragstellers wird abgelehnt.
Der Eilrechtsschutzantrag des Antragstellers wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Aus den nachstehenden Gründen ist der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abzulehnen, denn die Rechtsverfolgung hat keinen Erfolg, § 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 ZPO.
Der Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage VG 6 K 3681/13.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2013 anzuordnen,
ist unbegründet.
Der auf die ebenfalls am 20. September 2013 erhobene Klage bezogene Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG (i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013, Art. 1 Nr. 47 - BGBl. I S. 3474) statthaft und auch innerhalb der einwöchigen Antragsfrist angebracht worden.
Der Antrag ist aber unbegründet, denn die Feststellung, dass der - nach § 14a Abs. 2 AsylVfG fingierte - Asylantrag des Antragstellers unzulässig ist (Nr. 1 des Bundesamtsbescheides), sowie die Abschiebungsanordnung nach Polen (Nr. 2) erweisen sich im Rahmen der gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO angezeigten summarischen Prüfung als rechtmäßig.
Die angefochtene Feststellung beruht auf § 27a AsylVfG; die Abschiebungsanordnung findet in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ihre Rechtsgrundlage.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn sie in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) erfolgen soll. Vorliegend geht es um die Abschiebung des Antragstellers nach Polen, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union und insofern in einen kraft verfassungsrechtlicher Bestimmung sicheren Drittstaat (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG; § 26a Abs. 2 AsylVfG). Darüber hinaus ergibt sich die Zuständigkeit Polens aus § 27a AsylVfG i. V. m. den Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO), denn Polen hat mit Schreiben vom 17. April 2013 seine Zuständigkeit nach Art. 16 Abs. 1 d) Dublin II-VO bezüglich des Asylverfahrens der Mutter des Antragstellers anerkannt und unter dem 2. August 2013 zusätzlich hinsichtlich des Antragstellers seine Aufnahmebereitschaft mit Blick auf Art. 4 Abs. 3 Dublin II-VO erklärt.
Gründe, die im Falle des Antragstellers ausnahmsweise für eine Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO sprechen, sind nicht substanziiert dargetan worden und nicht ersichtlich.
Soweit der Antragsteller anwaltlich vertreten auf Hintergründe des Fortgangs seiner Familienangehörigen aus der tschetschenischen Heimat abhebt, verfängt dies im Rahmen des hier in Rede stehenden Verfahrens nicht, das sich auf die Frage nach der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens, nicht aber inhaltlich auf die geltend gemachten Asyl- und/oder Flüchtlingsschutzansprüche bezieht.
Die beanspruchte Zuständigkeit Deutschlands ergibt sich weder aus den vorgetragenen vermeintlichen systemischen Mängeln des polnischen Asylverfahrens noch aus individuellen Gründen, die im vorliegenden Verfahren eine von der europarechtlichen Zuständigkeitsstruktur abweichende Regelung rechtfertigen könnten.
Gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Hiernach besteht ein behördliches Ermessen für den an sich unzuständigen Mitgliedstaat, den Asylantrag abweichend von den in der Dublin-II VO geregelten Zuständigkeiten an sich zu ziehen. Daher kann der Antragsteller grundsätzlich geltend machen, durch eine Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts möglicherweise in eigenen Rechten verletzt zu sein. Zwar richten sich die Vorschriften der Dublin-II VO als zwischenstaatliche Regeln vorrangig an die Mitgliedstaaten und begründen regelmäßig keine subjektiven Rechte von Asylbewerbern (vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 29. Dezember 2010 - VG 6 L 679/10.A - m.w.N.; VG Trier, Urteil vom 30. Mai 2012 - 5 K 967/11.TR - zit nach juris m.w.N.). Insoweit kann auch Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO grundsätzlich nicht als Öffnungsklausel zur Durchsetzung individueller Ansprüche interpretiert werden. Allerdings spricht viel dafür, dass Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO dann subjektiv-rechtlichen Charakter haben und ausnahmsweise einen individuellen Anspruch begründen kann, wenn in dem für das Verfahren zuständigen Mitgliedstaat die Durchführung eines den Geboten der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 2 EUV und der Charta der Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (vom 12. Dezember 2007, ABl. Nr. C 303 S. 1) genügenden Asylverfahrens nicht hinreichend gewährleistet ist. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris), ausgeführt, dass Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen ist, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Dublin II VO zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.
Solche Umstände sind für den Antragsteller in Bezug auf Polen nicht ersichtlich. Weder lassen sich die behaupteten „gravierenden systemischen Mängel“ des polnischen Asylsystems einschließlich der behaupteten Gefahr einer asylverfahrenswidrigen Weiterschiebung in die Russische Föderation feststellen, noch kann sich der Antragsteller auf gesundheitliche Umstände berufen.
Die Vermutung des Antragstellers, er werde nach seiner Rückführung nach Polen inhaftiert und erniedrigend behandelt, ist unbegründet. Zwar sind in Polen sechs sog. „guarded centers“ eingerichtet worden, die gewisse Einschränkungen der Bewegungsfreiheit vorsehen (vgl. Witold u.a. [Helsinki Foundation for Human Rights] 2013 „Migration is not a Crime“). Diese Zentren werden auch zur Unterbringung abgeschobener Asylbewerber aus Deutschland genutzt, wenn die Asylbewerber - wie offenbar die Familienangehörigen des Antragstellers und Kläger des Verfahrens VG 6 K 2511/13.A - entgegen polnischen Weisungen zu ihrem dortigen Asylverfahren nach Deutschland weitergereist sind und sodann von Polen wieder aufgenommen werden müssen. Das dortige Asylverfahren gilt indessen mit Weiterreise nach Deutschland regelmäßig als beendet oder zurückgenommen, so dass der Asylbewerber sein Asylbegehren nur unter erschwerten Umständen (wohl vergleichbar mit einem Wiederaufnahmeverfahren nach § 51 VwVfG) in Polen weiterverfolgen kann. Ist aber ein in Polen erstmalig registrierter Asylbewerber entgegen der behördlichen Weisung, eine bestimmte Asylunterkunft zu seiner Unterbringung aufzusuchen, nach Deutschland weitergereist, hat er zugleich auch einen Verstoß im Sinne von Art. 16 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31 vom 6. Februar 2003, S. 18) zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten - Aufnahmerichtlinie - begangen. In diesem Fall ist der Mitgliedstaat berechtigt, die an sich nach Art. 7 Abs. 1 zu gewährende Bewegungsfreiheit des Asylbewerbers entsprechend Art. 16 Abs. 1 und 4 der Aufnahmerichtlinie einzuschränken. Die Rücknahme des Asylbewerbers infolge Abschiebung nach Polen kann daher auch einen schlechteren Unterbringungsstatus nach sich ziehen, der jedenfalls teilweise mit demjenigen vergleichbar ist, der untergetauchte und vollziehbar ausreisepflichtige Asylbewerber in Deutschland trifft (Abschiebungsgewahrsam). Freilich haben sich solchermaßen weiterreisende Drittstaatsangehörige diesen schlechteren Status bei der Verfolgung ihres Asylbegehrens und bei der Unterbringung in Polen selbst zuzuschreiben, denn es hat sie niemand gezwungen, nach Deutschland weiterzureisen. Es kann nicht erkannt werden, dass hierin ein systemischer Mangel oder eine erniedrigende Behandlung liegt, zumal diese Einrichtungen überwiegend eine angemessene Gesundheitsversorgung und familiengerechte Unterbringung gewährleisten (zu den Einzelheiten, s. o. Witold u.a., S. 23 ff.). Gemäß Art. 4 Abs. 3 Dublin II-VO teilt der Antragsteller hinsichtlich der zu gewärtigenden Unterbringungssituation in Polen das Schicksal seiner Angehörigen. Die von ihm unter Bezugnahme auf einschlägige Auskunftsquellen geltend gemachten Defizite sind nach den von der Antragsgegnerin in ihrer Antrags- und Klageerwiderung vom 27. September 2013 aufgeführten Erkenntnissen nicht feststellbar bzw. nicht hinreichend gewichtig, um als systemische Mängel angesehen werden zu können. Der Antragsteller scheint zu verkennen, dass er über die europarechtlich vorgesehenen Mindeststandards hinaus kein seinen eigenen Vorstellungen entsprechendes Asylverfahren einschließlich der vermeintlich besseren Sozialfürsorge in Deutschland beanspruchen kann.
Es ist auch nicht erkennbar, dass der Antragsteller entsprechend der in seinem Namen vorgebrachten Behauptung ohne Prüfung seines Flüchtlingsschutzbegehrens von Polen in die Russische Föderation weitergeschoben wird. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass sich Polen von seinen europarechtlichen Verpflichtungen zur Prüfung eines jeden Asyl-/Flüchtlingsschutzantrages gelöst hat.
Der Antragsteller hat zuletzt keine krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit glaubhaft gemacht, welche als vorübergehendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis i.S.v. § 60a Abs. 2 AufenthG im Rahmen des § 34a AufenthG auch von der Antragsgegnerin zu beachten wäre (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6/12 - Rn. 4; OVG Greifswald, Beschluss vom 29. November 2004 - 2 M 299/04 - Rn. 9 f.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 - Rn. 8 ff.; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A - Rn. 15; alle zit. nach juris). Hierzu hat er keine eigene „erforderliche medizinische Versorgung“ substanziiert angeführt oder gar Atteste o.ä. beigebracht. Die allgemein auf die medizinische Versorgung innerhalb des polnischen Asylverfahrens abhebenden und mit Auskünften aus dem Jahr 2010 zu belegen gesuchten Ausführungen des Antragsschriftsatzes verfangen nicht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im erwähnten Schriftsatz vom 27. September 2013 unter Bezugnahme auf einen Bericht seiner Liaisonbeamtin vom 4. September 2013 sowie den in das Verfahren eingeführten Bericht von Witold u.a. (Helsinki Foundation for Human Rights; 2013) ausgeführt, dass die medizinische Versorgung einschließlich der psychologischen Betreuung während des polnischen Asylverfahrens kostenlos und grundsätzlich durch qualifiziertes Personal erfolgt. Die medizinische Versorgung umfasst demnach alle Ausländer (gem. Art. 73 poln. Flüchtlingsgesetz), die einen Antrag auf Flüchtlingsschutz gestellt und sich bei der Ausländersozialhilfestelle registriert haben, unabhängig von der Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen oder außerhalb derselben. Personen im Flüchtlingsschutzverfahren haben den gleichen Anspruch auf medizinische Versorgung wie polnische Staatsangehörige (mit Ausnahme von Kuren). Die medizinische Versorgung wird vom Zentralen Krankenhaus des Innenministeriums in Warschau koordiniert und umfasst epidemiologische Untersuchungen aus Anlass der Antragstellung, medizinische Behandlungen in den Aufnahmeeinrichtungen, Überweisungen in Krankenhäuser für spezielle Untersuchungen, Zahnbehandlungen, psychologische Hilfe und Rehabilitation. Dass hierbei sprachliche Schwierigkeiten und mitunter kulturell bedingte Barrieren auftreten, ist den Asylverfahren - auch in Deutschland - selbstverständlich immanent; was in jedem Einzelfall als „ausreichende medizinische Behandlung“ verstanden bzw. beansprucht wird, lässt sich in der namens des Antragstellers vorgetragenen Weise schlicht nicht allgemein beurteilen. Jedenfalls kann der Antragsteller weder in Deutschland noch sonstwo eine seiner persönlichen Sicht entsprechende beste, sprachlich optimal unterstützte und kulturell „barrierefreie“ medizinische Betreuung beanspruchen. Die ihm in Polen zur Verfügung stehende Versorgungssituation entspricht den menschenrechtlichen Standards. Es besteht jedenfalls kein Anhalt dafür, dass die hier dargestellte Situation des polnischen Systems europarechtswidrig ist und für den Antragsteller eine nicht hinzunehmende Lage bedeutet.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).