Gericht | OLG Brandenburg 1. Zivilsenat | Entscheidungsdatum | 30.06.2011 | |
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Aktenzeichen | 1 AR 42/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Zuständig ist das Landgericht Frankfurt (Oder).
I.
Die Klägerin, ein Versorgungsunternehmen, nimmt den Beklagten auf die Zahlung von - nach teilweiser Zurücknahme der Klage noch - 795,16 € nebst Zinsen für die Lieferung von Erdgas in Anspruch. Der Beklagte macht geltend, dass er Sondervertragskunde sei und daher die der Forderung zu Grunde liegenden Preiserhöhungen unwirksam seien. Im Übrigen seien sie - wie er in der Berufungserwiderung vom 13.12.2010 ausführt - auch unbillig. Er rügt das Fehlen der sachlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts Schwedt/Oder. Die Klägerin stützt sich auf das in § 4 Abs. 2 AVBGasV bzw. § 5 Abs. 2 GasGVV geregelte Preisanpassungsrecht.
Mit Verfügung vom 01.11.2010 hat das Amtsgericht Schwedt/Oder darauf hingewiesen, dass das Landgericht Frankfurt (Oder) - Kammer für Handelssachen - sachlich zuständig sei. Die Klägerin ist mit Schriftsatz vom 10.11.2010 der Rechtsauffassung des Gerichts entgegen getreten, hat jedoch hilfsweise die Verweisung an das Landgericht Frankfurt (Oder) - Kammer für Handelssachen - beantragt. Dazu hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 23.11.2010 unter Aufrechterhaltung seiner Rechtsauffassung Stellung genommen. Daraufhin hat sich das Amtsgericht Schwedt/Oder mit Beschluss vom 29.11.2010 für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts Frankfurt (Oder) verwiesen. Das Landgericht Frankfurt (Oder) hat sich nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 01.06.2011 seinerseits für unzuständig erklärt und die Sache zur Entscheidung über die Zuständigkeit dem Senat vorgelegt.
II.
1. Der Zuständigkeitsstreit ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO durch das Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil es für die am Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte das zunächst höhere gemeinschaftliche Gericht ist.
2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Schwedt/Oder als auch das Landgericht Frankfurt (Oder) haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für sachlich unzuständig erklärt, ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 29.11.2010 und letzteres durch den seine Zuständigkeit abschließend verneinenden Vorlagebeschluss vom 01.06.2011, der als solcher den Anforderungen genügt, die an das Merkmal „rechtskräftig“ im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt gemachte beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (statt vieler: Senat NJW 2004, 780; Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 36 Rdnrn. 24 f.).
3. Zuständig ist das Landgericht Frankfurt (Oder).
Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Schwedt/Oder vom 29.11.2010 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO). Aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO kann die Bindungswirkung nur ausnahmsweise infolge der Verletzung höherrangigen (Verfassungs-) Rechts, namentlich bei der ungenügenden Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiv willkürlicher Entziehung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfallen. Im Interesse einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-) Verweisungen ist die Willkürschwelle hoch anzusetzen. Einfache Rechtsfehler wie das Übersehen einer die Zuständigkeit begründenden Rechtsnorm rechtfertigen die Annahme einer objektiv willkürlichen Verweisung demzufolge grundsätzlich nicht. Hinzu kommen muss dafür vielmehr, dass die Verweisung offenbar gesetzwidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft ist, also gleichsam jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt (statt vieler: Senat JMBl. 2007, 65, 66; NJW 2006, 3444, 3445; MDR 2006, 1184; NJW 2004, 780; eingehend ferner: Tombrink NJW 2003, 2364, 2364 f.; jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
Den derart zu konkretisierenden (verfassungsrechtlichen) Einschränkungen der Bindungswirkung hält der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Schwedt/Oder stand:
Der Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör ist beachtet worden.
Der Verweisungsbeschluss entbehrt auch nicht jeglicher gesetzlichen Grundlage.
Zwar teilt der Senat die vom Amtsgericht Schwedt/Oder vertretene Rechtsauffassung, wonach sich für das streitgegenständliche Verfahren aus § 102 EnWG eine ausschließliche Zuständigkeit der Landgerichte ergibt, nicht. Gemäß § 102 Abs. 1 EnWG sind für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die sich aus diesem Gesetz ergeben, ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes die Landgerichte ausschließlich zuständig. Dies gilt gemäß § 102 Abs. 2 EnWG auch dann, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung abhängt, die nach diesem Gesetz zu treffen ist. Mit ihrer Klage macht die Klägerin Versorgungsentgelte gegenüber dem Beklagten geltend, die dieser bisher nicht bezahlt hat, da er die zu Grunde liegende Preiserhöhung für unwirksam hält. Derartige Zahlungsansprüche werden von der Zuständigkeitsregelung des § 102 EnWG jedoch nicht erfasst, da hier nicht der Anspruch auf Grundversorgung Streitgegenstand ist (Senat JMBl. 2011, 25, 26; ebenso die bisher wohl einhellige Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte: OLG Oldenburg, Beschluss vom 03.11.2011, 5 AR 35/10, zitiert nach juris; OLG Celle, Beschluss vom 23.12.2010, 13 AR 9/10, zitiert nach juris; OLG Frankfurt (Main), Beschluss vom 16.12.2010, 11 AR 3/10, zitiert nach juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 10.07.2009, 2 AR 23/09; OLG München, Beschluss vom 15.05.2009, AR (K) 7/09, zitiert nach juris; wohl auch KG, Beschluss vom 09.10.2009, 2 AR 48/09, zitiert nach juris; OLG Köln, Beschluss vom 03.04.2008, 8 W 19/08, zitiert nach juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 15.08.2008, 1 W 43/07, zitiert nach juris).
Eine Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 102 Abs. 1 EnWG liegt schon deshalb nicht vor, da sich der mit der Klage geltend gemachte Zahlungsanspruch nicht auf eine Anspruchsgrundlage des EnWG oder des auf dem EnWG beruhenden Regelwerks stützten lässt und sich mithin nicht aus dem EnWG ergibt (vgl. Senat a. a. O.; Britz/Hellermann/Hermes-Hölscher, EnWG, 2. Aufl., § 102, Rdnr. 12). Vielmehr handelt es sich um einen Anspruch, der seine Grundlage gegebenenfalls in dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag hat.
Auch § 102 Abs. 2 EnWG ist nicht einschlägig, da die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von einer Entscheidung abhängt, die nach diesem Gesetz zu treffen ist. Der von der Klägerin geltend gemachte Zahlungsanspruch hängt davon ab, ob die von ihr vorgenommene Preiserhöhung wirksam ist. Auch diese Entscheidung ist jedoch nicht nach den Regelungen des EnWG, sondern allein nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu treffen. Ob die Klägerin sich auf das Preisanpassungsrecht nach der AVBGasV bzw. GasGVV berufen kann oder ob die Preiserhöhung nach § 315 BGB der Billigkeit entspricht, ergibt sich nicht aus dem EnWG, und zwar auch und insbesondere nicht aus § 1 Abs. 1 EnWG. § 1 Abs. 1 EnWG enthält lediglich die programmatische Umschreibung des Gesetzeszweckes einer möglichst sicheren, preisgünstigen, verbraucherfreundlichen, effizienten und umweltverträglichen leitungsgebundenen Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas und stellt keine Regelung dar, nach der die Vorfrage der Anwendung der AVBGasV bzw. GasGVV oder der Billigkeit zu entscheiden wäre, sondern zeigt lediglich allgemein Gesichtpunkte auf, die in diese Abwägung einzufließen haben (vgl. Senat a. a. O.; OLG Oldenburg a. a. O.; OLG Frankfurt (Main) a. a. O.; Britz/Hellermann/Hermes-Hölscher, a. a. O., § 102, Rdnr. 13). Was der Billigkeit gemäß § 315 BGB entspricht, ergibt sich nicht aus dem EnWG, sondern aus einer Abwägung der beiderseitigen Vertragsinteressen (Senat a. a. O.). Die hier darüber hinaus zwischen den Parteien im Streit stehende Vorfrage, ob im Rahmen des gewählten Tarifs überhaupt ein Preisanpassungsrecht besteht, ist ebenfalls nach den konkreten vertraglichen Vereinbarungen und nicht nach Normen des EnWG zu beantworten; hierfür ist weder § 36 EnWG, der den Anspruch auf Grundversorgung regelt, noch § 41 EnWG, der den notwendigen Inhalt von Verträgen außerhalb der Grundversorgung regelt, einschlägig.
Auch aus der Begründung des EnWG ergibt sich nichts Anderes. So verweist der Gesetzgeber (vgl. BT-Drs. 15/3917, S. 75) allein darauf, dass die Vorschrift der Regelung in § 87 GWB entspreche, was schon insoweit ungenau ist, als dort von bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, „die die Anwendung dieses Gesetzes […] betreffen“ die Rede ist, während in § 102 EnWG die Zuständigkeit für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, „die sich aus diesem Gesetz ergeben“, geregelt ist. Aus der in § 87 GWB „zur Wahrung der Rechtseinheitlichkeit“ (vgl. BR-Drs. 441/04, S. 122) getroffenen Regelung kann jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass durch § 102 EnWG jegliche Verfahren, an denen Energieversorger beteiligt sind, bei den Landgerichten konzentriert sein sollen. Darauf würde eine derart weite - nach hiesiger Auffassung - über den Wortlaut hinausgehende Auslegung, wie sie das Amtsgericht Oranienburg in seinem Verweisungsbeschluss vertritt, jedoch hinauslaufen. Einer Konzentration bedarf es jedoch nur hinsichtlich über den Einzelfall hinausgehender, grundsätzlicher Fragen und nicht für individuelle Streitigkeiten über einzelvertragliche Ansprüche (vgl. Senat a. a. O., 27; OLG Köln, a. a. O., Rdnr. 22).
Dennoch erscheint die Verweisung hier weder offenbar gesetzwidrig noch grob rechtsfehlerhaft. Das Amtsgericht Schwedt/Oder hat sich zur Begründung der Verweisung auf den Beschluss des Amtsgerichts Königs Wusterhausen vom 22.1.2010 (20 C 271/09) bezogen und den Inhalt der Gründe dieses Beschlusses als eigene Rechtsauffassung zu Eigen gemacht. Diese entspricht einer auch von anderen Amts- und Landgerichten sowie in der Literatur vereinzelt vertretenen weiten Auslegung des § 102 EnWG, die auf der Grundlage des Gesetzeswortlautes jedenfalls nicht als schlechthin unvertretbar und willkürlich angesehen werden kann. Insoweit hat sich das Amtsgericht mit der von der Klägerin primär vertretenen, gegenteiligen Auffassung in angemessener Ausführlichkeit auseinandergesetzt. Ebenso hat es das Vorliegen einer höchstrichterlichen Rechtsprechung geprüft mit dem Ergebnis, dass eine solche nicht vorliege. Die Nichtbeachtung der im Vorstehenden angeführten Rechtsprechung des Senats als des zuständigen Obergerichts kann dem Amtsgericht nicht vorgehalten werden, da der Senatsbeschluss erst nach dem Verweisungsbeschluss vom 29.11.2010 am 15.04.2011 im Justizministerialblatt für das Land Brandenburg (a. a. O.) veröffentlicht worden ist.