Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 22.03.2012 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 96/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 69 SGB 9, § 146 SGB 9 |
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. März 2010 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Der Beklagte hatte bei der 1950 geborenen Klägerin im Jahre 2004 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 festgestellt.
Am 15. Juni 2007 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag, mit dem sie insbesondere die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ begehrte. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten Befundberichte und sonstigen medizinischen Unterlagen stellte der Beklagte mit Bescheid vom 28. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2008 bei der Klägerin einen GdB von 80 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ ab. Dem legte er folgende (mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde:
a) seelisches Leiden (60),
b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Tennisarm rechts (30),
c) chronische Bronchitis (20),
d) Ulnaris-Parese links (10),
e) chronische Magenschleimhautentzündung, Fettleber, Stoffwechselstörungen, Adipositas (10),
f) postthrombotisches Syndrom des Beines (10),
g) Bluthochdruck (10).
Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin weiter das Merkzeichen „G“ begehrt. Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Der Beklagte hat das Gutachten der Versorgungsärztin Dr. L vom 13. März 2009 vorgelegt, welche nach allgemeinmedizinischer Untersuchung der Klägerin als weitere Funktionsbeeinträchtigung
h) Harninkontinenz (10).
festgestellt, die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ jedoch verneint hat.
Mit Gerichtsbescheid vom 24. März 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens „G“.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. März 2010 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 28. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2008 zu verpflichten, bei ihr ab Juni 2007 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält seine angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Der Senat hat das Gutachten des Orthopäden Dr. W vom 20. Dezember 2011 eingeholt, der keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit der Klägerin im Straßenverkehr hat feststellen können.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit der angegriffenen Entscheidung zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 28. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens "G" sind bei ihr nicht erfüllt.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.
Denn Nr. 30 Abs. 3 bis 5 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 2008 bzw. Teil D Nr. 1d der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Die in Nr. 30 Abs. 3 der AHP 2008 bzw. in Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Fallgruppen liegen hier nicht vor.
Die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr lässt sich insbesondere nicht auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei der Klägerin weder sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (vgl. Nr. 30 Abs. 3 Satz 1 der AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV), noch Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sind, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arterielle Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (vgl. Nr. 30 Abs. 3 Satz 2 der AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV). Denn die Behinderungen an den unteren Gliedmaßen bedingen nach der Einschätzung durch den Gutachter Dr. W, welcher der Senat folgt, keinen GdB über 30.
Nach den Feststellungen des Sachverständigen besteht bei der Klägerin ein degeneratives Lendenwirbelsäulenleiden bei Spondylarthrose, Hyperlordose und Übergewichtigkeit. Aufgrund des Fehlens von neurologischen Defiziten und der nur endgradig auftretenden Entfaltungsstörungen handelt es sich um Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, die nach Nr. 26.18 (S. 116) der AHP bzw. Teil B Nr. 18.9 (Bl. 90) der Anlage zur VersMedV mit einem GdB von 20 zu bewerten sind.
Der Orthopäde Dr. W hat bei der Begutachtung der Klägerin im Kniebereich einen Arthroseprozess festgestellt, der zu einer varischen Verkippung geführt hat. Im Hinblick darauf, dass das von ihm ermittelte Bewegungsausmaß nahezu normal gewesen ist, die Bänder stabil gewesen sind und relevante Reizzustände nicht haben ermittelt werden können, hat der Gutachter einen GdB von 10 vorgeschlagen. Da mit dieser Einschätzung die Vorgaben in Nr. 26.18 (S. 126) der AHP bzw. Teil B Nr. 18.14 (Bl. 100) der Anlage zur VersMedV berücksichtigt werden, schließt sich der Senat ihr an.
Eine postthrombotische Problematik der Beine hat der Gutachter nicht erkennen können: Beide Seiten haben keine venös-lymphatischen Einlagerungen aufgewiesen; die Haut hat keine Hyperpigmentation oder Ulzeration als Zeichen einer venösen Schwäche gezeigt. Die von dem Sachverständigen nachvollziehbar als leichtgradig eingestufte Stauungsneigung bedingt keinen höheren GdB als 10 (vgl. Nr. 26.9 (S. 74) der AHP bzw. Teil B Nr. 9.2.3 (Bl. 50) der Anlage zur VersMedV.
Zwar kann nach Nr. 30 Abs. 3 Satz 3 AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 3 der Anlage zu § 2 VersMedV die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ auch auf innere Leiden gestützt werden, jedoch ist hierfür nichts ersichtlich. Die Klägerin leidet insbesondere nicht an Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades (vgl. Nr. 26.8 der AHP bzw. Teil B Nr. 8.3 der Anlage zur VersMedV). Aufgrund der Untersuchung der Klägerin am 13. März 2009 hat die Allgemeinmedizinerin Dr. L eindeutig Luftnot bei Alltagsbelastung ausgeschlossen. Diese Einschätzung ist überzeugend, da während der körperlichen Untersuchungsbelastungen, beim Gehen in der Ebene und bei Steigen von zwölf Treppenstufen keine Luftnot bestand, sondern lediglich beschleunigte und vertiefte Atmung.
Ein Anfallsleiden im Sinne der Nr. 30 Abs. 4 AHP bzw. Teil D Nr. 1e der Anlage zu § 2 VersMedV liegt bei der Klägerin nicht vor. Aus dem mit einem Einzel-GdB von 60 bewerteten seelischen Leiden der Klägerin ist, worauf der gerichtliche Sachverständige hingewiesen hat, keine Orientierungsstörung abzuleiten (vgl. Nr. 30 Abs. 5 AHP bzw. Teil D Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV).
Behinderungen, die nicht unter die in Nr. 30 AHP bzw. Teil D Nr. 1 der Anlage zur VersMedV genannten Regelbeispiele fallen, sich aber vergleichbar auf die Gehfähigkeit auswirken, sind von den Gutachtern nicht festgestellt worden.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung keinen Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.