Gericht | FG Berlin-Brandenburg 5. Senat | Entscheidungsdatum | 29.06.2010 | |
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Aktenzeichen | 5 K 2292/06 B | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Kläger auferlegt.
Der Kläger ist selbständiger Krankenpfleger. Im Streitjahr 1989 betrieb er eine Pflegestation für Hauskrankenpflege, deren Erlöse er nicht der Umsatzsteuer unterwarf. Mit geändertem Umsatzsteuerbescheid setzte der Beklagte die Umsatzsteuer 1989 unter Berücksichtigung dieser Erlöse nebst Zinsen fest. Einspruch und Klage gegen den Änderungsbescheid blieben ohne Erfolg, die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wurde mit Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 10.6.1997 (V B 62/96) zurückgewiesen. Darin führte der BFH u. a. aus, die von dem Kläger aufgeworfene Frage der unmittelbaren Geltung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c und g der Richtlinie 77/388/EWG sei durch die Rechtsprechung des Senats bereits dahin gehend geklärt, dass es in der bezeichneten Vorschrift an der für eine Berufbarkeit nötigen Eindeutigkeit fehle. Am ...2004 beantragte der Kläger die Wiederaufnahme des Verfahrens und den Erlass der Umsatzsteuer für 1989 nebst Zinsen unter Hinweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 10.9.2002 (Rs. C-141/00 Ambulante Pflegedienste Kügler GmbH). Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom ...2004 ab und bestätigte seine Ablehnung mit Einspruchsentscheidung vom ...2006. Darin führte er im Wesentlichen aus, die Umsatzsteuerfestsetzung habe der seinerzeit herrschenden Rechtsansicht entsprochen. Eine spätere Änderung der Rechtsprechung rechtfertige nicht den Erlass der bestandskräftig festgesetzten Steuer. Auch ein Schadensersatzanspruch in Form des Erlasses bestehe nicht, da es an einem qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht fehle. Wie der EuGH im Urteil Kügler entschieden habe, liege ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht nur dann vor, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des EuGH offenkundig verkenne. Eine einschlägige Rechtsprechung des EuGH habe jedoch im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung nicht vorgelegen. Bis zur EuGH-Entscheidung im Jahr 2002 hätten das Finanzamt und die Gerichte davon ausgehen können, dass die Umsatzsteuerfestsetzung mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar gewesen sei.
Zur Begründung seiner Klage verweist der Kläger auf die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Kühne & Heitz (Urteil vom 13.1.2004 Rs. C-453/00) sowie i-21 Germany GmbH (Urteil vom 19.9.2006 Rs. C-392/04). Darin führe der EuGH sinngemäß aus, dass auch in den Fällen ein Anspruch auf Rücknahme von Steuerbescheiden bestehe, wenn der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht offensichtlich sei. Die Offensichtlichkeit könne sich daraus ergeben, dass die Prüfung des Gemeinschaftsrechts nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Der EuGH billige dem Bürger einen Anspruch auf Abänderung einer Verwaltungsentscheidung zu, wenn besondere Umstände vorlägen. Eine Fallgruppe der besonderen Umstände sei es, wenn der Bürger zunächst ohne Erfolg versucht habe, die Verwaltungsentscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen und das letztinstanzliche Gericht es unterlassen habe, den EuGH zu befragen. Den Weg über einen Erlass im Billigkeitswege habe der EuGH in dem Verfahren Schmeinck & Cofreth (Urteil vom 19.9.2000 Rs. C-454/98) als eine nationale Möglichkeit zur Anpassung an das Gemeinschaftsrecht angesehen. Dies werde vom BFH in seiner Entscheidung vom 29.5.2008 (V R 45/06) nicht in Abrede gestellt. Die Befugnis der Behörde nach nationalem Recht, ihre Entscheidung im Sinne der Rechtsprechung des EuGH "zurückzunehmen", sei somit gegeben.
Er - der Kläger - habe auch den Rechtsweg ausgeschöpft. Für das Merkmal des letztinstanzlichen Gerichts im Sinne des Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) werde nicht verlangt, eine Verfassungsbeschwerde einzulegen. Deren Kontrollmaßstab sei allein die deutsche Verfassung, nicht aber das Europarecht.
Das Urteil des Finanzgerichts und die Nichtannahmeentscheidung des BFH beruhten auf einer falschen Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Nach dem Urteil des EuGH in Sachen Kempter (Urteil vom 12.2.2008 Rs. C -2/06) komme es auf die objektive Auslegung des Europarechts an, wie sie sich aus der heutigen Sicht darstelle; die Erkenntnisse des EuGH wirkten ex tunc.
Im Urteil Kempter stelle der EuGH zudem klar, dass die Möglichkeit, einen Antrag auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsakt zur Entscheidung zu stellen, durch das Gemeinschaftsrecht nicht in zeitlicher Hinsicht beschränkt werde. Die Mitgliedstaaten könnten jedoch im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz angemessener Rechtsbehelfsfristen festlegen. Solche Fristen gebe es im deutschen Verfahrensrecht jedoch nicht.
Die Billigkeitsvorschrift nach § 227 Abgabenordnung (AO) sei im Lichte des Gemeinschaftsrechts auszulegen, anderenfalls liefen die Aussagen der Urteile Kühne & Heitz sowie Kempter regelmäßig ins Leere. Es dürfe nicht im Belieben der Mitgliedstaaten stehen, die Möglichkeit zu einer Durchbrechung der Rechtskraft gemeinschaftswidriger Verwaltungsakt überhaupt zu eröffnen. Die Verfolgung des Gemeinschaftsrechts würde dem Bürger praktisch unmöglich gemacht. Ein Verstoß des BFH gegen eine Vorlagepflicht nach Art. 234 EG-Vertrag liefe regelmäßig leer.
Schließlich habe er - der Kläger - einen Anspruch auf Schadensersatz, wie sich aus dem Urteil des EuGH im Verfahren Traghetti vom 13.6.2006 (Rs. C-173/03) ergebe. Danach komme es auf die Möglichkeit zu einer Abänderung oder einer Rücknahme nach nationalem Recht nicht an, sondern allein auf die objektive Gemeinschaftsrechtswidrigkeit.
Der Kläger beantragt,
den Ablehnungsbescheid vom 25.11.2004 und die Einspruchsentscheidung vom 7.9.2006 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Umsatzsteuer 1989 nebst Zinsen zu erlassen,
hilfsweise, den Ablehnungsbescheid vom 25.11.2004 und die Einspruchsentscheidung vom 07.09.2006 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er macht ergänzend geltend, dass der bei der Auslegung des §§ 227 AO zu berücksichtigende Grundsatz der Rechtssicherheit vorrangig sei vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall. Dies stehe auch mit der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Kempter in Einklang.
Dem Gericht haben bei seiner Entscheidung neben der Verfahrensakte und der Verfahrensakte des Finanzgerichts Berlin zum Aktenzeichen V 657/92 ein Band Umsatzsteuerakten und ein Aktenband „Antrag auf Wiederaufnahme USt 1989“ vorgelegen.
Die Klage ist unbegründet.
Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig. Der Beklagte hat den Erlassantrag ermessensfehlerfrei abgelehnt.
Nach § 227 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen oder erstattet werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Bestandskräftig festgesetzte Steuern können nach ständiger Rechtsprechung des BFH jedoch nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen deren Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (Urteil des BFH vom 29.5.2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889 mwN). Bei Überprüfung dieser Voraussetzungen ist zu berücksichtigen, dass die Entscheidung über einen Erlassantrag eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde darstellt. Ermessensentscheidungen kann das Gericht nach § 102 Finanzgerichtsordnung (FGO) nur daraufhin überprüfen, ob eine Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung oder ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt. Solche Ermessensfehler liegen im Streitfall nicht vor.
Der Beklagte hat zutreffend festgestellt, dass ein Erlass schon daran scheitert, dass die Steuerfestsetzung seinerzeit nicht offensichtlich und eindeutig falsch war, sondern der damaligen Rechtslage entsprach.
Die Frage, ob eine Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist, ist - so der BFH unter Hinweis auf Rechtsprechung des EuGH - aus einer "ex-ante-Betrachtung“ zu beurteilen und nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Anderenfalls stünde es im Belieben des Steuerpflichtigen, über einen längeren Zeitraum bestandskräftige Steuerverwaltungsakte an etwaige Entwicklungen oder Änderungen der Rechtsprechung anzupassen, was mit dem Sinn und Zweck der Bestandskraft nicht in Einklang zu bringen wäre. Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechsprechung steht, rechtfertige deshalb keinen Steuererlass nach § 227 AO. Der Senat teilt diese Rechtsauffassung. Nichts anderes ergibt sich aus dem Urteil des EuGH in Sachen Kempter. Sofern der Kläger sich auf Tz. 35 des Urteils beruft, unter der ausgeführt ist, die Vorabentscheidung wirke auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift zurück, wird damit nichts zur Frage des Zeitpunkts der Beurteilung der Entscheidung des nationalen Gerichts gesagt. Hingegen betont der EuGH in den Urteilen Kempter, Urteil Kühne & Heitz sowie i-21 Germany vielmehr die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, der einer Änderung bestandskräftiger Bescheide grundsätzlich entgegen steht.
Wie der BFH im oben zitierten Urteil vom 29.5.2008 ausgeführt hat, kam es erst aufgrund des Vorlagebeschlusses vom 3.2.2000 (V R 1/98) zu einer Änderung der bisherigen Rechtsauffassung. Bis dahin, also nach der früheren herrschenden Rechtsauffassung, konnte sich ein Einzelunternehmer nicht unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen, weil er nicht als "anerkannte“ Einrichtung mit sozialem Charakter oder eine solchen gleichzusetzenden Einrichtung beurteilt wurde, es im Ermessen jedes Mitgliedstaats lag, von welchen Bedingungen er die Steuerbefreiung abhängig machte und die Bundesrepublik Deutschland von diesem Ermessen erst ab dem Jahre 1992 Gebrauch gemacht hat. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass die Steuerfestsetzung im Streitfall nach der maßgeblichen damaligen Rechtslage jedenfalls nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig war. Denn bis zum Ergehen des Vorlagebeschlusses des BFH im Jahr 2000 musste die Unrichtigkeit der rechtlichen Beurteilung nicht „gleichsam ohne jede rechtliche Prüfung ins Auge springen“ (vgl. Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 163 Rz. 41).
Auch aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich nichts anderes. So hat der EuGH in den Urteilen Kempter, Kühne & Heitz und i-21 Germany ausgeführt, dass nur bei "besonderen Umständen" eine Verpflichtung zur Überprüfung und gegebenenfalls Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes besteht. Dazu müssten folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein:
- Die Behörde muss nach nationalem Recht befugt sein, ihre Entscheidung zurückzunehmen,
- die Entscheidung muss infolge eines Urteils letzter Instanz bestandskräftig geworden sein ("Ausschöpfung des Rechtsweges"),
- das Urteil muss auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen, weil sich das Gericht nicht an den EuGH gewandt hat und
- es muss ein Antrag auf Aufhebung oder Änderung der bestandskräftigen Entscheidung unmittelbar nach Kenntnis der Entscheidung des EuGH gestellt worden sein, wobei es Sache der Mitgliedstaaten ist, diese Frist näher zu konkretisieren.
Ob der Kläger den Erlassantrag „unmittelbar“ nach Kenntniserlangung von der Entscheidung des EuGH gestellt hat, ist angesichts der Zeitspanne von 1 ¾ Jahren zwischen Urteil und Antrag fraglich, kann aber letztlich ebenso offen bleiben wie die Frage, ob im Streitfall eine nationale Vorschrift zur Rücknahme eines Steuerbescheides im Sinne der EuGH-Rechtsprechung besteht. Ein gesonderter Aufhebungsanspruch würde jedenfalls daran scheitern, dass das innerstaatliche Recht keine Vorschrift zur Korrektur bestandskräftig gewordener Steuerbescheide wegen späterer Änderung der Rechtsprechung kennt (vgl. Urteil des BFH vom 29.5.2008 a.a.O.). Im Ergebnis kommt eine Korrektur der Steuerfestsetzung jedenfalls deshalb nicht in Betracht, weil es an der Voraussetzung einer gemäß Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag pflichtwidrig unterlassenen Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH fehlt.
Aus dem Kontext von Art. 234 Abs. 2 und 3 EG-Vertrag ergibt sich, dass die Pflicht zur Vorlage durch das letztinstanzliche nationale Gericht (nur dann) besteht, wenn dieses Gericht eine Entscheidung des EuGH für erforderlich hält. Ein Automatismus dergestalt, dass ein letztinstanzliches nationales Gericht auf Antrag hin immer vorlegen muss, besteht danach nicht. Im Streitfall hatte der BFH eine Vorlage nicht für erforderlich gehalten und musste dies auch nach der seinerzeit herrschenden Rechtsauffassung, wie sie in der Entscheidung vom 16.12.1993 (V B 124/93, BFH/NV 1995, 652) zum Ausdruck kommt, nicht. Nach Auffassung des Senats ist die Frage der Erforderlichkeit nach denselben Maßstäben zu beurteilen wie bei dem unmittelbar auf § 227 AO gestützten Erlassanspruch, da es auch hier um eine auf besonderen Umständen beruhende, ausnahmsweise zu treffende Billigkeitsentscheidung geht. Folglich ist auch hier auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BFH über die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers abzustellen und darauf, ob zu diesem Zeitpunkt die getroffene Entscheidung offensichtlich rechtsfehlerhaft war (vgl. zur Frage eines „offensichtlichen“ Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht auch die EuGH-Entscheidung in Sachen i-21 Germany). Letzteres ist aus den bereits oben genannten Gründen, die in diesem Zusammenhang gleichermaßen gelten, zu verneinen. Es bestand zum damaligen Zeitpunkt mithin keine unabweisbare Veranlassung, die Sache dem EuGH vorzulegen.
Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Effektivität, wonach die Verfolgung des Gemeinschaftsrechts nicht praktisch unmöglich oder erschwert werden darf, wird hierdurch nicht verletzt. Folgte man hingegen der Rechtsauffassung des Klägers, würde die mit der Bestandskraft verbundene Rechtssicherheit, die der materiellen Einzelfallgerechtigkeit grundsätzlich vorgeht und auch bei der Auslegung des § 227 AO zu berücksichtigen ist (vgl. Urteil des BFH vom 29.5.2008 a.a.O.), weitgehend ausgehöhlt und damit auch den Rechtsfrieden vereiteln.
Schließlich ist die Ablehnung des Erlassantrages auch nicht im Hinblick auf einen Schadensersatzanspruch wegen eines qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht rechtswidrig, weil die Bundesrepublik Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG erst verspätet umgesetzt oder weil der BFH zur Klärung von Zweifeln an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts die entscheidungserheblichen Rechtsfragen verspätet dem EuGH vorgelegt hätte. Der Senat schließt sich auch insoweit der Rechtsauffassung des BFH im Urteil vom 29.5.2008 an und verweist zur weiteren Begründung auf die dortigen Ausführungen unter den Textziffern 42 und 43.