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Aufenthaltserlaubnis


Metadaten

Gericht VG Potsdam 8. Kammer Entscheidungsdatum 31.05.2017
Aktenzeichen VG 8 K 2926/14 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 14 Abs 1 AufenthG, § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG, § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 5 Abs 2 AufenthG, § 53 Abs 1 AufenthG, § 54 Abs 2 Nr 9 AufenthG, § 95 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 95 Abs 1 Nr 3 AufenthG, Art 6 GG

Leitsatz

1. § 39 Nr. 1 AufenthV ist im Wege teleologischer Reduktion einschränkend dahin auszulegen, dass er diejenigen Fälle nicht erfasst, in denen eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis anstelle der dem Aufenthaltszweck gemäßen Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, weil es für Letztere an der Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum, § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, fehlt.

2. Die Aktualität eines vom Ausländer - hier nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG - verwirklichten Ausweisungstatbestandes ist im Rahmen der Anspruchsprüfung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG regelmäßig nicht zu prüfen, weil sich hieraus lediglich eine für die Anspruchsprüfung unerhebliche Atypik hinsichtlich der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ergeben kann, entgegen VGH Mannheim, Urteil vom 19. April 2017 - 11 S 1967/16 -, juris.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, begehrt die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG.

Der Kläger reiste zu einem nicht bekannten Zeitpunkt ins Bundesgebiet ein. Angaben über den Zeitpunkt der Einreise und zum Ort des Aufenthaltes verweigert er; sein früherer Pass war bis zum 19. Oktober 2011 gültig. Mit notarieller Urkunde vom 8. August 2013 erkannte er die Vaterschaft für das am 26. Februar 1999 geborene Kind D... an und übernahm zusammen mit der Kindesmutter, der deutschen Staatsangehörigen S..., die gemeinsame elterliche Sorge; mit Frau R... ist der Kläger seit dem 10. April 2015 verheiratet.

Am 17. Januar 2014 erkannte der Kläger die Vaterschaft für das noch ungeborene weitere Kind der Frau R... an und übernahm zusammen mit ihr auch für dieses Kind, das am 26. Mai 2014 geboren worden ist, die gemeinsame elterliche Sorge.

Am 12. Februar 2014 meldete sich der Kläger unter der Anschrift seiner heutigen Ehefrau an und beantragte bei der Beklagten, ihm nach der Geburt des Kindes eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, hilfsweise nach § 25 Abs. 5 AufenthG, jeweils rückwirkend auf den Zeitpunkt der Geburt, zu erteilen.

Mit Schreiben vom 8. August 2014 teilte die Beklagte dem Kläger mit, über seinen Antrag habe nun entschieden werden können. Für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG seien die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG nicht erfüllt. Die illegale Einreise und der mehrjährige Aufenthalt im Bundesgebiet ohne Aufenthaltsgenehmigung stellten Straftaten im Sinne von § 95 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AufenthG dar, so dass der Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vorliege. In einem solchen Fall sei die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ausgeschlossen. Nach eingehender Prüfung und Ausübung des eingeräumten Ermessens könne jedoch eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, rückwirkend zum 26. Mai 2014, mit sechsmonatiger Gültigkeitsdauer erteilt werden. Eine Rechtsmittelbelehrung war dem Schreiben nicht beigefügt. Am 1. September 2014 erhob der Kläger Widerspruch, soweit sein Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG abgelehnt worden war; eine Begründung werde nicht erfolgen. Über den Widerspruch hat die Beklagte bislang nicht entschieden.

Am 25. November 2014 bescheinigte die Beklagte dem Kläger, dass „sein Dokument“ an diesem Tage nicht habe verlängert werden können. Er möge am 7. Januar wieder vorsprechen; bis dahin sei sein Aufenthalt legitimiert. Am 8. Januar 2015 stellte die Beklagte eine in der Folge wiederholt verlängerte Fiktionsbescheinigung aus. Nach der vom Kläger vorgelegten „Vorläufige(n) Bescheinigung über einen bewilligten Aufenthaltstitel gem. § AufenthG“ hat die Beklagte ihm am 23. Mai 2017 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt.

Zur Begründung der am 2. Dezember 2014 erhobenen Untätigkeitsklage führt der Kläger aus, die von der Beklagten angeführten Gründe für die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG träfen nicht zu. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG komme nicht mehr zur Anwendung, weil insoweit § 39 Nr. 1 AufenthV vorgehe. Spätestens eine juristische Sekunde nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG dürfe ihm § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht mehr entgegengehalten werden. Möglicherweise habe er sich unerlaubt in Deutschland aufgehalten und damit einen Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verwirklicht. Nach der Neuregelung des Ausweisungsrechts zum 1. Januar 2016 sei jedoch eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich eines neuen unerlaubten Aufenthalts bzw. einer neuen unerlaubten Einreise für das Bestehen eines Ausweisungsinteresses im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erforderlich. Insoweit verweise er auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim vom 19. April 2017 (11 S 1967/17, juris). Der etwaige Ausweisungsgrund sei danach nicht mehr aktuell. Abgesehen davon sei dieser entweder mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG verbraucht oder das der Beklagten in § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumte Ermessen sei auf Null reduziert, weil er offenkundig nicht rechtmäßig mehr ausgewiesen werden könne.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des entgegenstehenden Teils des Bescheides vom 8. August 2014 zu verpflichten, ihm rückwirkend zum 26. Mai 2014 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels scheitere an den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG. Zu den Interessen der Bundesrepublik Deutschland gehöre es, dass die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes einschließlich der Einreisevorschriften eingehalten würden. Von der Nachholung des erforderlichen Visumverfahrens könne nicht gemäß § 39 Nr. 5 AufenthV abgesehen werden. Ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bestehe nicht. Der darin vorausgesetzte strikte Anspruch sei zu einem Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung herabgestuft, weil der Kläger durch die illegale Einreise und den mindestens dreijährigen illegalen Aufenthalt in Deutschland Ausweisungsgründe gesetzt habe. Ihr Ermessen habe sie dahin ausgeübt, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze verwiesen. Der Verwaltungsvorgang der Beklagten (1 Hefter, Blatt 1 bis 144) hat vorgelegen und ist zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

1. Die Klage ist gemäß § 75 VwGO auch ohne vorherige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens zulässig. Das Schreiben der Beklagten vom 8. August 2014 ist ungeachtet der fehlenden Rechtsmittelbelehrung aus der maßgeblichen Sicht des Empfängerhorizonts als Verwaltungsakt im Sinne von § 35 VwVfG zu verstehen. Mit ihm trifft die Beklagte die Entscheidung über den Aufenthaltserlaubnisantrag des Klägers vom 12. Februar 2014 nach außen hin. Den dagegen fristgerecht am 1. September 2004 erhobenen Widerspruch hat die Beklagte ohne zureichenden Grund nicht beschieden; die insoweit verschiedentlich von ihr reklamierte strukturelle Unterausstattung mit Personal reicht hierfür nicht aus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 2017 - 1 BvR 2406/16 u.a. -, NVwZ-RR 2017, 393, Rz. 9; Brenner in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, Rz. 52 zu § 75, jew. m.w.N.).

2. Die Klage ist jedoch nicht begründet. Die Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da er weder einen Anspruch auf diesen Aufenthaltstitel noch auf erneute fehlerfreie Bescheidung seines dahingehenden Antrages hat (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO).

a) Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der am 26. Mai 2014 geborenen Tochter des Klägers vor.

b) Der Kläger erfüllt jedoch nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Danach setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. Das für den längerfristigen Aufenthalt erforderliche nationale Visum (§ 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) hat der Kläger jedoch offenkundig bei der Einreise nicht besessen.

aa) Der Kläger ist von der Erfüllung der Visumpflicht nicht nach § 39 Nr. 1 AufenthV befreit. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, wenn er eine Aufenthaltserlaubnis besitzt.

Das trifft dem Wortlaut nach auf den Kläger zu, da die Beklagte seine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, wie die „Vorläufige Bescheinigung“ vom 23. Mai 2017 zeigt, am selben Tage verlängert hat. Anderenfalls gälte die rückwirkend zum 26. Mai 2014 erteilte Aufenthaltserlaubnis gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG fort, weil der Kläger die Verlängerung am 25. November 2014, dem letzten Tag der Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis, hat beantragen wollen, auch wenn der Antrag an diesem Tage nicht entgegengenommen oder bearbeitet werden konnte. Das ergibt sich aus der dem Kläger am 25. November 2014 erteilten Bescheinigung.

Bei der humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG handelt es sich um eine „Aufenthaltserlaubnis“ im Sinne von § 39 Nr. 1 AufenthV (VG Aachen, Urteil vom 10. Februar 2010 - 8 K 2258/08 -, juris, Rzn. 24 f.). Diesen humanitären Aufenthaltstitel hat der Kläger jedoch nur „stellvertretend“ für den an sich „passenden“ Aufenthaltstitel zum Familiennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erhalten, der nach Auffassung der Beklagten (unter anderem) wegen der Nichterfüllung der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht hat erteilt werden können. Würde gleichwohl die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zur Anwendbarkeit des § 39 Nr. 1 AufenthV führen, so wäre das Visumerfordernis für die dem Zweck des Familiennachzugs entsprechende Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG entwertet. Der Kläger selbst weist darauf hin, dass eine juristische Sekunde nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG vermittels der Vorschrift des § 39 Nr. 1 AufenthV die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG für den eigentlich begehrten Aufenthaltstitel zum Familiennachzug nicht mehr relevant wäre. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG hätte also zur Folge, dass das Visumerfordernis für die eigentlich dem Aufenthaltszweck des Familiennachzugs entsprechende Aufenthaltserlaubnis gegenstandslos würde. Das gebietet nach Auffassung der Kammer, § 39 Nr. 1 AufenthV im Wege teleologischer Reduktion einschränkend dahin auszulegen, dass er diejenigen Fälle nicht erfasst, in denen eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis anstelle der dem Aufenthaltszweck gemäßen Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, weil es für Letztere an der Erfüllung der Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG fehlt (so bereits Beschluss der Kammer vom 3. Dezember 2013 - VG 8 K 485/12 -; Urteile des Einzelrichters vom 10. September 2015 - VG 8 K 2841/14 - und vom 12. Januar 2016 - VG 8 K 2622/14 -, jew. rkr., n.v.; zur vergleichbaren einschränkenden Auslegung von § 39 Nr. 5 AufenthV s. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Januar 2008 - OVG 2 S 4.08 -; Beschluss vom 10. Januar 2012 - OVG 11 S 6.12 -, jew. juris).

bb) Von dem Visumerfordernis kann auch nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden. Das hierin der Ausländerbehörde eingeräumte Absehensermessen ist nur dann eröffnet, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

(1) Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG liegen nicht vor. Unter einem „Anspruch“ im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist grundsätzlich ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen, der nur dann vorliegt, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 1 C 15.14 -, juris, Rz. 19). Ein solcher strikter Rechtsanspruch steht dem Kläger nicht zur Seite, weil gegen ihn ein Ausweisungsinteresse besteht und damit die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt ist, ohne dass es in diesem Zusammenhang darauf ankommt, ob wegen etwaiger Besonderheiten des Einzelfalles ein Ausnahmefall vorliegt.

(a) Der Kläger ist zu einem nicht bekannten Zeitpunkt ins Bundesgebiet eingereist und hat sich hier aufgehalten, ohne im Besitz eines Visums für die Einreise und eines Aufenthaltstitels für den anschließenden Aufenthalt gewesen zu sein. Dies ergibt sich, auch wenn der Kläger insoweit nähere Angaben verweigert, aus seinem auszugsweise in Kopie in der Ausländerakte befindlichen damaligen türkischen Reisepass vom 14. Mai 2010. Ein Visum ist darin nicht enthalten. Die letzten Ein- und Ausreisestempel datieren vom Juni 2010. Das spricht dafür, dass der Kläger im Jahre 2010 illegal ins Bundesgebiet eingereist ist und sich seither hier unerlaubt aufgehalten hat. Zudem befand sich der Kläger anlässlich der Vaterschaftsanerkennung für das 1999 geborene Kind am 8. August 2013 im Bundesgebiet, wie die entsprechende notarielle Urkunde zeigt. Dass er erst kurz zuvor (erneut) eingereist wäre, ist nicht anzunehmen, zumal der von ihm zunächst vorgelegte Reisepass bereits im Oktober 2011 abgelaufen ist. Nach allem ist davon auszugehen, dass der Kläger im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist ist, und sich anschließend mehrere Jahre ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel, mithin unerlaubt, im Bundesgebiet aufgehalten hat.

Damit hat der Kläger die Straftatbestände des § 95 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AufenthG mit der Folge verwirklicht, dass gegen ihn ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG besteht. Nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. „Geringfügig“ ist ein Rechtsverstoß nicht, wenn er vorsätzlich begangen wurde (BVerwG, Urteil vom 24. September 1996 - 1 C 9.94 -, juris, Rz. 20; OVG Hamburg, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 4 Bf 137/13 -, juris, Rz. 47). Davon ist hier nach allen erkennbaren Umständen auszugehen; tragfähige Anhaltspunkte für ein nicht vorsätzliches Handeln bei der Einreise und dem anschließenden Aufenthalt im Bundesgebiet hat der Kläger nicht dargetan. Abgesehen davon kann angesichts der Dauer des unerlaubten Aufenthaltes im Bundesgebiet seit dem Jahr 2010 von einer Geringfügigkeit des damit verbundenen Rechtsverstoßes nicht mehr die Rede sein.

(aa) Dieser Rechtsverstoß und das dadurch begründete schwerwiegende Ausweisungsinteresse führen dazu, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt ist. Soweit die Vorschrift durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I, S. 1386) ihren jetzigen Wortlaut erhalten hat, ist damit eine Änderung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand - nach dem es auf das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes ankam - nicht verbunden. Nach wie vor ist im Rahmen von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG allein maßgeblich, dass ein Ausweisungstatbestand vorliegt, während unerheblich bleibt, ob eine Ausweisung wegen dieses Tatbestandes im konkreten Fall zulässig wäre (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 25. August 2015 - 11 S 1500/15 -, Rz. 9; OVG Hamburg, Urteil vom 17. Dezember 2015, a.a.O., Rzn. 43 f.; VGH München, Beschluss vom 16. März 2016 - 10 ZB 14.2634 -, Rz. 6; OVG Münster, Beschluss vom 16. August 2016 - 18 B 754/16 -, Rzn. 11 ff., jew. zitiert nach juris; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand Oktober 2015, Rzn. 55 f. zu § 5; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2015, Rz. 26 zu § 5 AufenthG; Maor in Kluth/ Heusch, Ausländerrecht, 2016, Rz. 8 zu § 5 AufenthG; Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, Rzn. 45 ff. zu § 5 AufenthG; Bender/Leuschner in Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Rz. 17 zu § 5 AufenthG; Zeitler in HTK-AuslR, Stand März 2017, Rzn. 1, 12 ff. zu § 5 AufenthG).

(bb) Ohne Erfolg beruft sich der Kläger darauf, dass auch im Hinblick auf § 53 Abs.1 AufenthG der im Zusammenhang mit der Regelerteilungsvoraussetzung herangezogene Ausweisungstatbestand noch aktuell sein, also eine gegenwärtige und fortwirkende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland darstellen müsse (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 19. April 2017 - 11 S 1967/16 -, juris, Rzn. 25 ff.), woran es in seinem Fall indes fehle.

Allerdings ist dem Kläger zuzugeben, dass ein Ausweisungstatbestand, um dem Ausländer entgegengehalten werden zu können, noch aktuell sein muss, weil § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht dazu dient, in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten zu sanktionieren (vgl. VGH Mannheim, a.a.O., Rz. 25; Funke-Kaiser, a.a.O., Rz. 63).

Zutreffenderweise findet diese Prüfung allerdings bei der Frage statt, ob ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegt (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 16. August 2016, a.a.O., Rz. 21; OVG Hamburg, Urteil vom 17. Dezember 2015, a.a.O., Rzn. 53 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 28. Juni 2011 - 1 A 141/11 -, juris, Rzn. 67 f.; OVG Magdeburg, Beschluss vom 22. Juni 2009 - 2 M 86/09 -, juris, Rz. 32; Hailbronner, a.a.O., Rzn. 31a ff. zu § 5; Samel, a.a.O., Rz. 50). Die Gegenmeinung (VGH Mannheim, a.a.O., Rz. 26; VGH München, Beschluss vom 29. August 2016 - 10 AS 16.1602 -, juris, Rzn. 22 ff.; Funke-Kaiser, a.a.O., Rz. 74; Maor, a.a.O., Rz. 11.1; Zeitler, a.a.O., Rzn. 31 ff.) steht mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht im Einklang. Dieses hat bereits im Urteil vom 10. Dezember 2014 (a.a.O., Rz. 21) entschieden, dass es im Rahmen der Prüfung eines „Anspruchs“ im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG allein auf die Erfüllung eines Ausweisungstatbestandes ankommt und im Übrigen die Auffassung der Vorinstanz, die das etwaige Entfallen der Aktualität des Ausweisungstatbestandes dem Regel-/Ausnahmeverhältnis zugeordnet hatte, nicht beanstandet. Diese Entscheidung beansprucht ungeachtet der zwischenzeitlichen Neustrukturierung des Ausweisungsrechts durch das erwähnte Gesetz vom 27. Juli 2015 weiterhin Geltung, weil sich daraus, wie bereits gezeigt, keine Änderungen bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ergeben.

Damit ist entgegen der Auffassung des Klägers im vorliegenden Zusammenhang weder zu prüfen, ob ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG (fort-)besteht, noch ob dem von ihm verwirklichten Ausweisungstatbestand ein gegenüber dem in § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG umschriebenen Tatbestand vergleichbares Gewicht zukommt; um ein reines „Bagatelldelikt“, das zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes außer Betracht bleiben müsste, handelt es sich bei den aufenthaltsrechtlichen Verstößen des Klägers ersichtlich nicht.

(cc) Diese Rechtsverstöße können dem Kläger auch ungeachtet des Umstandes, dass ihm die Beklagte in deren voller Kenntnis die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt hat, noch entgegengehalten werden. Allerdings ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Ausweisungstatbestand in Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes einem Ausländer nur dann und solange entgegengehalten werden kann, wie er noch „aktuell“ und nicht „verbraucht“ ist bzw. die Ausländerbehörde auf die Geltendmachung nicht ausdrücklich oder konkludent „verzichtet“ hat (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 -, BVerwGE 123, 114 = juris, Rz. 21). Das ist der Fall, wenn die Ausländerbehörde in voller Kenntnis vom Vorliegen des Ausweisungsgrundes den weiteren Aufenthalt des Ausländers im Wege der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels ermöglicht (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 13. November 2007 - 17 E 1415/06 -, juris, Rz. 6; OVG Berlin, Beschluss vom 13. Juli 2004 - OVG 8 N 150.03 -, juris, Rz. 10; VGH Mannheim, Beschluss vom 25. Februar 2002 - 11 S 160/01 -, juris, Rz. 3; Funke-Kaiser, a.a.O., Rzn. 66 ff.). Allerdings fehlt es an einem entsprechenden Vertrauenstatbestand, wenn die Ausländerbehörde zu erkennen gegeben hat, dass sie auf den Ausweisungstatbestand noch zurückgreifen wird bzw. sich dies offen hält (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rz. 68). So liegt es hier, denn die Beklagte hat in dem Bescheid vom 8. August 2014 unmissverständlich ausgeführt, dass die Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht erteilt werden könne, weil der Kläger mit der illegalen Einreise und dem mehrjährigen unerlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet einen Ausweisungsgrund geschaffen habe und daher lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werde. Damit ist der letztgenannte Aufenthaltstitel nicht in dem Sinne vorbehaltlos erteilt worden, dass der Kläger darauf hätte vertrauen können, die Beklagte werde und dürfe zukünftig bei der Entscheidung über einen anderen als den humanitären Aufenthaltstitel auf die Nichterfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht mehr abstellen.

(2) Es liegt auch kein Fall der Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens vor. Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Kläger mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und gemeinsam mit ihr Vater eines gerade dreijährigen Kindes ist. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es zwar grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines Visums zu verweisen. Besteht jedoch bereits im Bundesgebiet zwischen einem Ausländer und seinem Kind eine familiäre Lebensgemeinschaft und kann dem Kind sowie seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zugemutet werden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (BVerfG, st. Rspr., u.a. Beschluss vom 17. Mai 2011 - 2 BvR 2625/10 -, juris, Rzn. 14 f.; Beschluss vom 10. Mai 2008 - 2 BvR 588/08 -, BVerfGK 13, 562 = juris, Rzn. 13 f.). Geht es dabei auch um die Frage, ob eine vorübergehende Trennung von einem Kind zumutbar ist, so kommt dem Kindeswohl erhebliche Bedeutung zu, wobei zu berücksichtigen ist, dass gerade ein noch sehr kleines Kind - wie die im Mai 2014 geborene Tochter des Klägers - eine nur vorübergehende Abwesenheit des ausländischen Elternteils nur schwer verarbeiten und erfassen kann, sondern vielmehr leicht als endgültigen Verlust erfahren wird (BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830/08 -, BVerfGK 14, 458 = juris, Rzn. 31 ff.).

Hieran gemessen, ist dem Kläger die Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens zumutbar. Nach der vom Berichterstatter am 23. Mai 2017 eingeholten telefonischen Auskunft des Referats 509 des Auswärtigen Amtes (Fachreferat für Visaangelegenheiten) beträgt die Bearbeitungsdauer für ein Visum für den Familiennachzug in der Deutschen Botschaft in Ankara zwei Wochen, wenn eine Vorabzustimmung der zuständigen Ausländerbehörde vorliegt. Diese Frist umfasst den Zeitraum zwischen der notwendigen (ersten) Vorsprache in der Botschaft und der Visumerteilung bzw. –aus-gabe. Zum Zeitpunkt der Erteilung dieser Auskunft lag der nächste verfügbare Vorsprachetermin am 7. Juni 2017.

Die Kammer legt diese Auskunft ihrer Entscheidung zugrunde. Es besteht kein Anlass, an ihrer inhaltlichen Richtigkeit zu zweifeln. Sie ist von einer Mitarbeiterin des Fachreferats des Auswärtigen Amts, der der anfragende Berichterstatter den zugrundeliegenden Sachverhalt in allgemeiner und anonymer Weise mitgeteilt hatte, erteilt worden. Die Mitarbeiterin hat die Anfrage zum Anlass genommen, um bei der Deutschen Botschaft in Ankara die Dauer bis zum Erhalt eines Vorsprachetermins zu erfragen. Auch der fachkundig vertretene Kläger hat auf die Verlesung des über die telefonische Auskunftserteilung aufgenommenen Aktenvermerks keine Bedenken geäußert.

Da sich die Beklagte ausweislich ihres Schriftsatzes vom 21. März 2017 bereits außergerichtlich gegenüber dem Kläger zur Erteilung einer Vorabzustimmung bereit erklärt hat, ist von einer vorübergehenden Trennung des Klägers von seiner Familie für die Dauer von etwa vier Wochen (ca. zwei Wochen für die Vereinbarung des Vorsprachetermins zuzüglich zwei Wochen bis zur Visumerteilung) auszugehen. Dieser Zeitraum ist nach Auffassung der Kammer auch aus der Sicht eines gerade drei Jahre alten Kindes zumutbar, zumal dem Kind die baldige Rückkehr des Klägers verbal vermittelt und etwaigen Verlustängsten durch regelmäßige und übliche Kontaktmöglichkeiten, z.B. über Bildtelefonate, vorgebeugt werden kann. Individuelle Umstände insbesondere in der Person des Kindes, die zu einer abweichenden Einschätzung führen könnten, hat der Kläger im Zuge der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung nicht geltend gemacht. Im Übrigen spricht nichts dagegen, wie auch der Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu verstehen gegeben hat, dass der Termin für die erste Vorsprache bereits vom Bundesgebiet aus vereinbart wird. Dadurch lässt sich die Trennungsdauer weiter, nämlich auf die zweiwöchige Bearbeitungszeit sowie die an- und abreisebedingte Abwesenheit des Klägers verringern. Eine vorübergehende Trennung von dann weniger als drei Wochen ist auch für ein Kind von gerade drei Jahren, das zusammen mit der Mutter im Bundesgebiet verbleibt, zumutbar, sofern nicht besondere Umstände des Einzelfalls, die hier indes nicht ersichtlich sind, eine andere Einschätzung gebieten.

c) Nach allem bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AufenthG dem Begehren des Klägers entgegenstehen oder - was zumindest nicht fernliegend erscheint - im Hinblick auf dessen familiäre Situation aus Gründen höherrangigen Rechts, hier Art. 6 GG, von einem Ausnahmefall auszugehen und deswegen von der Erfüllung der genannten Regelerteilungsvoraussetzungen abzusehen wäre.

d) Da bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht vorliegen, steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags durch die Beklagte zu.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Nebenentscheidungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz wird gemäß § 134 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO zugelassen, weil der Rechtssache sowohl im Hinblick auf die Auslegung von § 39 Nr. 1 AufenthV als auch im Hinblick auf die Abweichung von dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim vom 19. April 2017 im Zusammenhang mit der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zukommt.

Beschluss:

Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5 000 € festgesetzt.