Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 09.07.2014 | |
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Aktenzeichen | OVG 11 N 6.14 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 53 Nr 2 AufenthG, § 56 Abs 1 AufenthG, Art 8 MRK, § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 124a Abs 4 S 4 VwGO |
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 16. März 2012 wird abgelehnt.
Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt der Kläger.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5.000 EUR festgesetzt.
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 16. März 2012, mit dem seine Klage gegen die Ausweisung und Anordnung bzw. Androhung seiner Abschiebung im Bescheid des Beklagten vom 2. Februar 2011 als unbegründet abgewiesen wurde, hat auf der Grundlage der gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO allein maßgeblichen fristgerechten Darlegungen der Zulassungsbegründung im Schriftsatz vom 11. Mai 2012 keinen Erfolg.
Zur Begründung seines Antrags auf Zulassung der Berufung macht der Kläger hierin allein geltend, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Derartige ernstliche Richtigkeitszweifel liegen dann vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden und sich ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens nicht beantworten lässt, ob das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist (vgl. BVerfG, Beschl. vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163 f.; BVerwG, Beschl. vom 10. März 2004 - 7 AV 4.03 -, Buchholz 310 § 124 Nr. 33). Davon ist nach dem Zulassungsvorbringen des Klägers im genannten Schriftsatz vorliegend nicht auszugehen.
Hierin wird zunächst gerügt, angesichts der Ausführungen in Ziffer 1a) der Entscheidungsgründe des Urteils „scheint“ das Verwaltungsgericht entgegen der (sodann umfangreich zitierten) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen, dass allein das Vorliegen des Tatbestandes des § 53 Nr. 2 AufenthG ausreiche, um schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung - wie nach § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG im Hinblick auf den hier einschlägigen Ausweisungsschutz nach dessen Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 wegen Besitzes einer Niederlassungserlaubnis des Klägers vorliegend erforderlich - anzunehmen. Diese Annahme ist verfehlt. Soweit die Zulassungsbegründung dies daraus ableiten will, dass es in Ziffer 1a) heißt, ein atypischer Fall, der ein Absehen von der gesetzlichen Regel gestatten würde, sei vom Kläger nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich, weitere Ausführungen enthalte das Urteil hierzu nicht, übersieht sie, dass das Urteil unter Ziffer 1b) umfangreich darlegt, warum aus seiner Sicht ein atypischer Fall hier nicht zu bejahen ist. Angesichts dessen ist die Formulierung in Ziffer 1a), insoweit sei vom Kläger nichts „vorgetragen“, ersichtlich dahingehend zu verstehen, diesbezüglich sei im Ergebnis nichts „mit Erfolg“ oder „begründet“ vorgetragen“.
Wenn der Kläger im Anschluss hieran darauf hinweist, er habe hinsichtlich des Vorliegens eines atypischen Falles mit Schriftsatz vom 1. März 2012 auf den (in Kopie beigefügten) Vortrag im vorläufigen Rechtsschutzverfahren VG 19 L 59.11 verwiesen und diesen zum Gegenstand der Klagebegründung gemacht sowie zuvor schon die beginnende Teilnahme am Programm der Ambulanten Drogentherapie des Drogentherapiezentrums Berlin e.V. nachgewiesen, all dies sei, obwohl es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angekommen sei, nicht berücksichtigt und bei der Prüfung des Vorliegens eines atypischen Falles nicht abgewogen worden, trifft das ebenfalls nicht zu. Insoweit wird neben den bereits erwähnten Ausführungen unter Ziffer 1b) der Entscheidungsgründe insbesondere auf die Darlegungen auf Seite 8 Absatz 1 des Urteilsabdrucks verwiesen, die auch erkennen lassen, dass das Verwaltungsgericht auf die maßgeblichen Umstände „zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung“ abgestellt hat. Dass es gerade auch die persönlichen Belange des Klägers, d.h. seine private und strafrechtliche Vorgeschichte im Bundesgebiet, nicht verkannt hat, machen die Ausführungen eingangs des Tatbestands des Urteils hierzu deutlich.
Ferner beanstandet der Kläger mit der Zulassungsbegründung, das Verwaltungsgericht habe „die Strafakte nicht beigezogen und zum Gegenstand des Verfahrens gemacht“. Unter Berücksichtigung seines Vortrags und der im Klage- und vorläufigen Rechtsschutzverfahren vorgelegten Nachweise über seine Entwicklung im Strafvollzug, die gemachten Ausbildungen, die zeitlichen Abstände zwischen den letzten einschlägigen Straftaten, seiner Haftentlassung im Februar 2011 und seiner Arbeitsaufnahme, die Ausdruck seiner Reintegration sei, wäre das Gericht zu einer anderen, ihm günstigeren Prüfung gekommen. Auch hätten das landgerichtliche Urteil und die Strafakten belegt, dass er infolge intensiver Bearbeitung durch V-Leute zur Straftat veranlasst worden sei.
Auch dieses Vorbringen rechtfertigt keine Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit des angegriffenen Urteils. Dass das Verwaltungsgericht die „Anschiebung“ des Klägers durch eine Vertrauensperson der Polizei zur Straftat, die zu seiner letzten rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung durch das Landgericht Berlin mit Urteil vom 22. Mai 2008 wegen Besitzes und Handels mit Heroin in nicht geringer Menge (ca. zwei Kilogramm) geführt hatte, zur Kenntnis genommen hat, belegt schon die entsprechende Darlegung der Klagebegründung im Tatbestand des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Auch das genannte landgerichtliche Urteil war dem Verwaltungsgericht aus den Ausländerakten des Klägers (dort Bl. 132 ff.) bekannt, die ihm ausweislich der Bezugnahme hierauf am Schluss des Urteilstatbestandes ebenso vorlagen wie die dort in Bezug genommene Gerichtsakte des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens VG 19 L 59.11. In diesem Verfahren hatte sich der Senat im Rahmen seines - die Beschwerde gegen die ablehnende verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung zurückweisenden - Beschlusses vom 27. Januar 2012 (OVG 11 S 2.12) insbesondere auch mit dem Vorbringen des Klägers zur „Initiierung des Heroingeschäfts durch einen polizeilichen Vertrauensmann“ und seinem Vorbringen zur Entwicklung nach seiner Haftentlassung auseinandergesetzt und dies als nicht ausreichend gewürdigt, um eine von ihm weiterhin ausgehende Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung von gewichtigen Straftaten zu verneinen. Wenn das Verwaltungsgericht vor diesem Hintergrund nicht einmal zwei Monate später im Rahmen der Würdigung seiner Persönlichkeit „zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung“ und unter Auseinandersetzung mit seinem „langjährigen Drogenmissbrauch“ sowie seiner generellen Bereitschaft zur Missachtung von Rechtsvorschriften eine fortbestehende latente Rückfallgefahr annimmt (vgl. insbesondere UA S. 8 Absatz 1), rechtfertigt die hier letztlich vorliegende bloße Wiederholung des bisherigen Vorbringens nicht die Annahme ernstlicher Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Für die unsubstantiierte Mutmaßung des Klägers, dass die Beiziehung der landgerichtlichen Strafakte durch das Verwaltungsgericht zu einer für ihn „günstigeren Prüfung“ geführt hätte, gibt es keine Anhaltspunkte.
Soweit der Kläger mit der Zulassungsbegründung in diesem Zusammenhang weiterhin rügt, im Rahmen der Ziffer 1b) der Entscheidungsgründe, d.h. hinsichtlich der Gründe für die Annahme eines atypischen Falles, werde zugrunde gelegt, dass er seit der Einreise in regelmäßigen Abständen immer wieder und mit steigender Intensität straffällig werde und eine Reihe von außerhalb des Bereichs der Beschaffungs- und Betäubungsmittelkriminalität liegenden Straftaten begangen habe, ohne das „Anschieben“ des letzten Btm-Delikts durch einen polizeilichen Vertrauensmann und insbesondere den seither vergangenen Zeitraum sowie den Zeitablauf zwischen den Straftaten und sein Verhalten nach der Haftentlassung zu berücksichtigen, trifft das nach den obigen Ausführungen nicht zu bzw. rechtfertigt jedenfalls im Ergebnis keine andere Entscheidung (vgl. auch die diesbezüglichen Ausführungen im Beschluss des Senats vom 27. Januar 2012 im Verfahren OVG 11 S 2.12, BA S. 5 letzter Absatz bis S. 8 erster Absatz).
Nichts anderes gilt für das Vorbringen des Klägers, das verwaltungsgerichtliche Urteil beruhe auf Rechtsfehlern, weil es die „falschen Sachverhaltselemente“ im Ausweisungsbescheid für unerheblich gehalten habe. Auch insoweit ist auf die Ausführungen im Beschluss des Senats vom 27. Januar 2012 (BA S. 10 letzter Absatz und S. 11 erster Absatz) zu verweisen.
Verfehlt ist auch die Rüge des Klägers, das Urteil des Verwaltungsgerichts habe unter Verstoß gegen die Rechtsprechung u.a. des EGMR den Schutzbereich des Art. 8 EMRK verkannt, wenn es seine Verwurzelung im Bundesgebiet letztlich auf die Dauer seines hiesigen Aufenthalts reduziere, ohne seine zeitweilige Erwerbstätigkeit, seine frühere eheliche Lebensgemeinschaft und seinen sozialen Kontext während seines insgesamt 22 Jahre dauernden hiesigen Aufenthalts und seine „entsprechende Entwurzelung zum Herkunftsland“ (Türkei) zu berücksichtigen. Denn das Urteil befasst sich unter Ziffer 1c) der Entscheidungsgründe unter Heranziehung der Rechtsprechung des EGMR insbesondere mit der Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in seine Rechte aus Art. 8 EMRK durch die Ausweisung und stuft seine hiesigen Bindungen ungeachtet seines langjährigen Aufenthalts in familiärer, wirtschaftlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht als nicht besonders schützenswert ein. Für eine abweichende Auffassung ist nach dem klägerischen Vorbringen nichts ersichtlich. Dass das Verwaltungsgericht bei der Abwägung „Erörterungen“ dazu unterlassen habe, weshalb von ihm im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt „konkret weitere, schwerwiegende Straftaten ... zu erwarten sind“, trifft angesichts der bereits zitierten diesbezüglichen Ausführungen (BA S. 5/6 und 8 Absatz 1) nicht zu.
Soweit der Kläger ferner rügt, das Verwaltungsgericht habe hinsichtlich des Ausweisungsschutzes aus Art. 3 ENA lediglich auf eine angebliche von ihm ausgehende erhebliche Wiederholungsgefahr verwiesen und das weder „an dieser Stelle“ noch „an anderen Stellen des Urteils begründet und dargelegt“, erweist sich das hiernach jedenfalls bezüglich der letztgenannten Behauptung als unrichtig.
Schließlich beanstandet der Kläger, rechtsfehlerhaft sei es auch, dass das Verwaltungsgericht für den Fall der Annahme eines atypischen Falles im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Ausweisung als unter Ermessensgesichtspunkten nicht zu beanstanden angesehen habe. Denn angesichts der Zugrundelegung eines unzutreffenden Sachverhalts durch den Beklagten im Ausweisungsbescheid basiere auch eine hierauf beruhende Ermessensausübung auf diesem Fehler, so dass eine Ermessensentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung „konkret im Falle des Klägers gar nicht erfolgt“ sei. Damit sei dieser Fall dem gleichzustellen, dass es keinerlei Ermessensabwägung gegeben habe, so dass die erstmalige Ermessensausübung in der mündlichen Verhandlung kein zulässiges Nachschieben von Ermessenserwägungen gemäß § 114 VwGO darstelle.
Dieser rechtlichen Auffassung braucht hier nicht nachgegangen zu werden. Denn die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Frage der Rechtmäßigkeit einer Ermessensausweisung des Beklagten beziehen sich nur auf den Fall, dass man entgegen seiner zuvor geäußerten Auffassung einen atypischen Fall annähme und damit zur Ermessensentscheidung komme. Damit handelt es sich erkennbar um eine bloße alternative Hilfsbegründung, die für die (Ergebnis-)Richtigkeit des Urteils ohne Bedeutung ist, wenn die selbstständig tragende Hauptbegründung - wie vorliegend - nicht erfolgreich angegriffen ist.
Auch das Vorbringen des Klägers, das Verwaltungsgericht habe seinen Hilfsantrag zu Unrecht als unzulässig abgelehnt, da er „selbstverständlich einen Anspruch auf Neubescheidung“ durch den Beklagten auf einer zutreffenden Sachverhaltsgrundlage habe, vermag ernstliche Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit des Urteils nicht zu begründen. Das ergibt sich schon daraus, dass der Kläger entgegen § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht dargelegt hat, woraus sich ein solcher - ersichtlich nicht auf Neubescheidung gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO - gerichteter Anspruch auf erneute „verfahrensfehlerfreie“ Entscheidung, wie er mit dem Hilfsantrag begehrt wird, entgegen der Auffassung im angegriffenen Urteil ergeben soll. Im Übrigen verweist das Verwaltungsgericht in der Sache zu Recht darauf, dass dem Kläger ein solcher Aufhebungsanspruch nach seinen obigen Ausführungen - UA S. 6 Absatz 2 - auch materiell nicht zusteht (vgl. auch dazu den Beschluss des Senats im Verfahren OVG 11 S 2.12, S. 11 Absatz 1).
Soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 3. Januar 2013 erstmals die fehlende Befristung der Wirkungen der Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beanstandet, ist das mangels rechtzeitiger Darlegung binnen zwei Monaten nach Zustellung des Urteils unerheblich (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).