Gericht | SG Neuruppin 26. Kammer | Entscheidungsdatum | 25.10.2017 | |
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Aktenzeichen | S 26 AS 583/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 103 SGG, § 40 Abs 1 S 1 SGB 2, § 45 Abs 1 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10, § 45 Abs 4 S 2 SGB 10, § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB 2, § 7 Abs 3 Nr 3c SGB 2, § 9 Abs 1 SGB 2, § 9 Abs 2 S 1 SGB 2, § 11 Abs 1 S 1 SGB 2, § 60 Abs 4 S 1 Nr 1 SGB 2, § 20 Abs 1 SGB 10, § 41 Abs 1 Nr 2 SGB 10, § 41 Abs 2 SGB 10, § 131 Abs 5 SGG, § 192 Abs 4 SGG, Art 20 Abs 2 S 2 GG |
1. Ein Gericht ist aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes nicht verpflichtet, bei einer reinen Anfechtungsklage Ermittlungen nachzuholen, die die beklagte Behörde unterlassen hat, um die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts selbst festzustellen (Anschluss an Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 - B 14 AS 30/14 R, RdNr 17 ff).
2. Für den Beginn der Jahresfrist des 45 Abs 4 S 2 SGB X darf das grundsätzliche Abstellen auf den Zeitpunkt der Einleitung des Anhörungsverfahrens nicht dazu führen, dass die Behörde durch verzögernde Anhörung den Beginn der Jahresfrist hinausschieben kann.
Die mit den Bescheiden des Beklagten vom 04. November 2010 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 01. März 2011 für die Zeiträume vom 25. März 2008 bis zum 30. November 2008, vom 01. Dezember 2008 bis zum 30. September 2009 und vom 01. Oktober 2009 bis zum 31. Juli 2010 verlautbarten Aufhebungsverfügungen werden aufgehoben.
Die mit dem Bescheid des Beklagten vom 04. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. März 2011 verlautbarten Erstattungsverfügungen werden aufgehoben.
Die mit dem Bescheid des Beklagten vom 04. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2011 verlautbarten Erstattungsverfügungen werden aufgehoben.
Der Beklagte hat der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Die Beteiligten streiten im Wesentlichen um die Rechtmäßigkeit von an die Klägerin gerichteter Aufhebungs- und Erstattungsverfügungen des Beklagten, nachdem der Beklagte der Klägerin Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach den Bestimmungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) gewährt hatte.
Die im April 1964 geborene Klägerin bewohnte vom 01. Oktober 2007 bis jedenfalls zum 08. März 2008 zusammen mit dem Zeugen M., mit dem sie jedenfalls auch bis zu diesem Zeitpunkt eine Partnerschaft führte, eine Wohnung in der O.Straße 53 in X., weshalb der Beklagte die der Klägerin mit Bewilligungsbescheid vom 09. Juli 2007 bewilligten Leistungen wegen des auch zu berücksichtigenden Einkommens des Zeugen M. mit Bescheid vom 19. Februar 2008 aufgehoben hatte.
Ausweislich einer in den Verwaltungsvorgängen des Beklagten befindlichen Anmeldebestätigung vom 10. März 2008 zog der Zeuge M. mit Wirkung zum 08. März 2008 in eine Wohnung in der I-Straße 4 in X. ein. Auf der Anmeldebestätigung, die am 01. April 2008 bei dem Beklagten eingegangen war, ist im oberen Bereich handschriftlich „Auszug d. Partners“ vermerkt, im unteren Bereich ist ein gelber Klebezettel aufgebracht, auf dem es ua heißt: „Hr. M. hat sich bei seinen Verwandten angemeldet … hält sich aber kontinuierlich bei Frau N. auf u. wohnt dort“. Weder der Zeitpunkt des Aufbringens des Klebezettels noch die Urheberschaft selbst lassen sich dem Klebezettel entnehmen.
Auf einen entsprechenden Fortzahlungsantrag der Klägerin, in dem sie ua angab, der Zeuge M. sei zum 08. März 2008 aus ihrer Wohnung ausgezogen, gewährte der Beklagte ihr mit Bewilligungsbescheid vom 11. April 2008 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 25. April 2008, 30. April 2008 und 12. Juni 2008 für den Zeitraum vom 01. März 2008 bis zum 30. November 2008, mit Bewilligungsbescheid vom 19. November 2008 für den Zeitraum vom 01. Dezember 2008 bis zum 30. September 2009 sowie mit Bewilligungsbescheid vom 28. August 2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 18. November 2009 und vom 27. Januar 2010 für den Zeitraum vom 01. Oktober 2009 bis zum 31. Juli 2010 Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach den Bestimmungen des SGB II ohne Berücksichtigung des Einkommens und Vermögens des Zeugen M..
Nachdem der Beklagte am 20. Juli 2010 einen Hausbesuch bei der Klägerin unternommen und die Klägerin mit Schreiben vom 20. Juli 2010 sowie später persönlich angehört hatte (vgl dazu auch das Anhörungsprotokoll vom 29. Juli 2010), übersandte sie dem Beklagten mit Schreiben vom 03. August 2010 verschiedene Unterlagen hinsichtlich des Einkommens des Zeugen M.; hierbei handelte es sich um Mitteilungen der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft vom 16. Juni 2008 und 26. Juni 2009, mit dem ein Zahlbeginn von zwei Renten ab Juli 2008 und Juli 2009 mitgeteilt wurde, einen Rentenbescheid der Deutschen Rentenversicherung Westfalen vom 08. Juni 2009 über die Aufhebung und Neuberechnung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung – betreffend den Zeitraum ab dem 01. Juli 2009 – und schließlich eine Anpassungsmitteilung der Deutschen Rentenversicherung Westfalen mit Wirkung ab dem 01. Juli 2010. Mit Schreiben vom 16. August 2010 und 25. August 2010 wies die Klägerin ua auf akute Schübe ihrer (psychiatrischen) Erkrankung hin. Unter dem 24. August 2010 suchte die Klägerin den Beklagten zusammen mit einer Bekannten erneut auf und verwies ua auf psychische Probleme.
Mit mehreren auf den 04. November 2010 datierten Bescheiden über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts hob der Beklagte die oben näher bezeichneten Bewilligungsverfügungen auf, wobei – mit Ausnahme der Benennung der jeweiligen Bewilligungszeiträume – nicht dargestellt wird, welche einzelnen Monate und in welchem Umfang die Bewilligungsverfügungen von einer Aufhebung erfasst sein sollten; Berechnungsbögen waren den Entscheidungen nicht beigefügt. Zur Begründung seiner Entscheidungen führte er – unter Berufung ua auf § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 und Nr 3 SGB X – aus, die zurückgenommenen Bescheide seien von Anfang an rechtswidrig gewesen, weil die Klägerin ihre Wohnung nicht allein, sondern zusammen mit dem Zeugen M. bewohnt habe, weshalb von einer eheähnlichen Gemeinschaft auszugehen sei und sich aus diesem Grund zu Gunsten der Klägerin kein Leistungsanspruch für die genannten Zeiträume ergebe.
Mit weiterem Bescheid vom gleichen Tage forderte der Beklagte von der Klägerin einen Gesamtbetrag in Höhe von 15.673,11 Euro zurück. Zur Begründung seiner Entscheidung führte er – unter Berufung ua auf § 50 Abs 1 SGB X – aus, aufgrund der Aufhebung der Bewilligungsverfügungen seien die zu Unrecht gewährten Leistungen vollständig zu erstatten und stellte für die einzelnen Monate des Gesamtzeitraumes vom 25. März 2008 bis zum 31. Juli 2010 den ursprünglichen Anspruch und die entstandene „Überzahlung“ einander gegenüber.
Schließlich forderte der Beklagte mit weiterem Bescheid vom gleichen Tage die Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 3.653,92 Euro zurück. Zur Begründung seiner Entscheidung führte er – unter Berufung ua auf § 335 Abs 1 und Abs 5 SGB III – aus, aufgrund der genannten gesetzlichen Grundlage seien auch die Beiträge für die gesetzliche Kranken- und die soziale Pflegeversicherung zu erstatten, die der Beklagte aufgrund des Leistungsbezuges der Klägerin abgeführt habe. Die einzelnen Beträge stellte der Beklagte tabellarisch für den Zeitraum vom 25. März 2008 bis zum 31. Juli 2008 unter Benennung der einzelnen Monate dar.
Hiergegen erhob die Klägerin am 25. November 2010 jeweils Widersprüche, mit denen sie neben ihrer Begründung vom 17. Januar 2011 auch eine eidesstattliche Versicherung des Zeugen M. vom 13. Januar 2011 vorlegte, mit der dieser darlegte, seit dem 08. März 2008 nicht mehr bei der Klägerin zu wohnen. Darüber hinaus wies er auf eine psychiatrische Behandlung der Klägerin hin.
Die Widersprüche der Klägerin wies der Beklagte mit vier Widerspruchsbescheiden vom 01. März 2011 und mit einem Widerspruchsbescheid vom 02. März 2011 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, nach den vorliegenden Indizien und den bekannten Umständen sei von dem Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft mit dem Zeugen M. auszugehen, die Klägerin habe zumindest grob fahrlässig unwahre bzw falsche Angaben gemacht und habe daher auch die Rechtswidrigkeit der erlassenen Verwaltungsakte gekannt bzw sich dieser Kenntnis grob fahrlässig entzogen; Vertrauensschutz sei nicht zu gewähren. Die Differenz zwischen den ursprünglich bewilligten und an die Klägerin erbrachten Leistungen und den tatsächlichen Ansprüchen auf diese Leistungen betrage insgesamt 15.673,11 Euro; dieser Betrag sei dementsprechend zu erstatten. Schließlich sei auch die Erstattungsforderung hinsichtlich der abgeführten Beiträge für die gesetzliche Kranken- und die soziale Pflegeversicherung nicht zu beanstanden und sei zu Recht mit einem Gesamtbetrag in Höhe von 3.653,92 Euro festgesetzt worden.
Hiergegen hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 14. März 2011 Klagen erhoben, mit denen sie ihr Begehren weiter verfolgt. Die Annahme, es habe sich im streitgegenständlichen Zeitraum zwischen der Klägerin und dem Zeugen M. um eine Partnerschaft handele, sei unzutreffend. Die Klägerin und der Zeuge M. hätten sich zu diesem Zeitpunkt getrennt und der Zeuge M. sei ausgezogen; die Klägerin und der Zeuge M. seien lediglich weiterhin freundschaftlich verbunden gewesen. Ein wechselseitiger Wille, füreinander einzustehen, habe nicht bestanden.
Die Klägerin beantragt,
die Bescheide des Beklagten vom 04. November 2010 in der Form der Widerspruchsbescheide vom 01. März 2011 und des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2011 – betreffend den Zeitraum vom 25. März 2008 bis zum 31. Juli 2010 – aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klagen abzuweisen.
Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf die Begründungen in seinen Widerspruchsbescheiden. Auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichts vertritt er darüber hinaus die Auffassung, die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X sei eingehalten, weil diese Frist erst mit dem eingeleiteten Anhörungsverfahren begonnen habe. Auch habe der Beklagte keine Ermittlungen unterlassen, vielmehr sei das Einkommen des Zeugen M. bereits bekannt gewesen.
Das Gericht hat die (ehemalige) Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Verfügung vom 05. Dezember 2011, die die vormalige Kammervorsitzende mit vollem Namen unterzeichnet hatte, und die der (ehemaligen) Prozessbevollmächtigten mittels Empfangsbekenntnis am 07. Dezember 2011 zugestellt worden war, aufgefordert das Verfahren durch Stellungnahme zu dem Klageerwiderungsschriftsatz des Beklagten vom 16. August 2011 zu betreiben. Mit Schriftsatz vom 07. März 2012 beantragte eine weitere in der Sozietät tätige Rechtsanwältin Fristverlängerung wegen eines ungeplanten Krankenhausaufenthaltes der bearbeitenden Prozessbevollmächtigten für zwei Wochen. Mit Schriftsatz vom 09. März 2012 – mithin zwei Tage nach dem Fristverlängerungsantrag vom 07. März 2012 – nahm die weitere in der Sozietät tätige Rechtsanwältin zu dem Klageerwiderungsschriftsatz des Beklagten vom 16. August 2011 Stellung.
Das Gericht hat medizinisches Befundmaterial bei der Fachärztin für Psychiatrie DM K., dem Allgemeinmediziner M., dem Facharzt für Psychiatrie Dr. med. K. sowie bei der Psychiatrischen Abteilung der Asklepios-Kliniken Brandenburg und der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Krankenhauses Hennigsdorf sowie ein psychiatrisches Sachverständigengutachten bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. X. eingeholt, das dieser an 26. September 2016 erstattet und durch gutachterliche Stellungnahmen vom 01. April 2017 und 02. Oktober 2017 ergänzt hat.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhaltes auf den Inhalt der Prozessakte sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung, der geheimen Beratung und der Entscheidungsfindung waren.
Die Klagen haben Erfolg.
1. Die Klagen gelten nicht im Sinne des § 102 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als zurückgenommen. Die Regelung des § 102 Abs 2 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26. März 2008 (BGBl I 444), die mit Wirkung zum 01. April 2008 in Kraft getreten ist, lautet: „Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.“ Die wirksame Fiktion der Klagerücknahme erledigt nach § 102 Abs 1 S 2 SGG den Rechtsstreit in der Hauptsache.
Bei der fiktiven Klagerücknahme handelt es sich um eine gesetzliche Regelung für Fälle, in denen das Rechtsschutzinteresse an einem Verfahren entfallen ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 04. April 2017 - B 4 AS 2/16 R, RdNr 19f ua unter Hinweis auf BT-Drucks 16/7716, S 19 zu Nummer 17). Der Gesetzgeber verfolgt mit dem SGGArbGGÄndG den Zweck, eine Vereinfachung und Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens herbeizuführen, um dadurch die Sozialgerichtsbarkeit nachhaltig zu entlasten (vgl BT-Drucks 16/7716 S 1 f, 12 ff). Zum Entwurf des § 102 Abs 2 SGG wird weiter ausgeführt: „Die Fiktion einer Klagerücknahme wird für die Fälle eingeführt, in denen der Kläger oder die Klägerin ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht fristgemäß die vom Gericht als geboten angesehene Mitwirkungshandlung erbringt oder hinreichend substantiiert darlegt, warum er oder sie die geforderte Handlung nicht vornehmen kann. Die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 SGG tritt nach Sinn und Zweck der Vorschrift sowie ihren verfassungsrechtlichen Grenzen nur ein, wenn neben den formellen Voraussetzungen bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, „sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses“ vorliegen (Bundessozialgericht, Urteil vom 04. April 2017 – B 4 AS 2/16 R, RdNr 27f ua unter Hinweis auf BVerfG <Kammer> Beschluss vom 19. Mai 1993 – 2 BvR 1972/92 und unter Hinweis auf BT-Drucks 16/7716, S 19).
Mit dem Bundessozialgericht geht auch die Kammer hinsichtlich der an die „sachlichen Anhaltspunkte“ für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses zu stellenden Anforderungen davon aus, dass ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses erst nach einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls angenommen werden darf. Bei der Gesamtwürdigung sind sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das Verhalten des Klägers zu berücksichtigen. Jedenfalls aufgrund des (fristgemäßen) Fristverlängerungsantrages der anwaltlich vertretenen Klägerin, mit der sie substantiiert dargelegt hat, warum sie die geforderte Handlung nicht fristgemäß vornehmen kann, fehlen Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin kein Interesse mehr an der Fortsetzung des Rechtsstreits hatte, was aber materielle Voraussetzung für die Wirksamkeit der sog Klagerücknahmefiktion wäre.
2. Das Begehren der Klägerin ist darauf gerichtet, die mit den Bescheiden des Beklagten vom 04. November 2010 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 01. März 2011 verlautbarten Rücknahmeverfügungen für die Zeiträume vom 25. März 2008 bis zum 30. November 2008, vom 01. Dezember 2008 bis zum 30. September 2009 sowie vom 01. Oktober 2009 bis zum 31. Juli 2010 aufzuheben. Es ist ferner darauf gerichtet, die mit dem Bescheid des Beklagten vom 04. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. März 2011 und die mit dem Bescheid des Beklagten vom 04. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2011 verlautbarten Erstattungsverfügungen aufzuheben. Gegenstand des Klageverfahrens sind insoweit die mit den genannten Bescheiden verlautbarten Verwaltungsakte des Beklagten. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren insoweit zutreffend mit den hierfür nach Maßgabe des § 54 Abs 1 S 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaften isolierten Anfechtungsklagen, die darauf gerichtet sind, die verlautbarten Rücknahme- und Erstattungsverfügungen insgesamt aufzuheben. Diese Klagen sind auch im Übrigen zulässig.
3. Die danach insgesamt zulässigen Klagen sind auch begründet. Die angegriffenen Verfügungen sind rechtswidrig und beschweren die Klägerin in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten (§ 54 Abs 2 S 1 SGG).
4. Die angegriffenen Verfügungen des Beklagten vom 04. November 2010 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 01. März 2011 und 02. März 2011 sind formell rechtmäßig. Insbesondere wurde die Klägerin vor Erlass der Verfügungen und im Laufe des Widerspruchsverfahrens gemäß § 24 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) angehört. Ebenso wenig fehlt es dem Bescheid iSv § 35 SGB X deshalb an einer Begründung, weil der Beklagte beinahe ausschließlich Ausführungen zum Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft gemacht hat und im Übrigen davon ausgegangen ist, die Bedarfsgemeinschaft sei in der Lage, den notwendigen Unterhalt aus vorhandenem Einkommen zu bestreiten. Selbst wenn diese Begründung unzureichend oder fehlerhaft ist, würde sich dies als bloßer Begründungsmangel oder Begründungsfehler bei einem gebundenen Verwaltungsakt nicht auf dessen formelle Rechtmäßigkeit selbst auswirken (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 13 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 29. Juni 2000 – B 11 AL 85/99 R mwN).
5. Die angegriffenen Rücknahmeentscheidungen des Beklagten vom 04. November 2010 sind materiell rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten, weil die Feststellungen des Beklagten die zugrunde zu legenden Rücknahmevoraussetzungen nicht tragen. Die Voraussetzungen von § 40 Abs 1 S 2 Nr 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) in der in der strittigen Zeit geltenden Fassung sowie von § 330 Abs 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und von § 45 Abs 1 und Abs 2 S 3 Nr 2 und Nr 3 SGB X als der in dem Widerspruchsbescheid genannten Rechtsgrundlagen liegen nicht vor.
a) Nach § 45 Abs 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X kann sich der Begünstigte dabei nicht auf sein Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts berufen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts nach den genannten Vorschriften setzt nach deren systematischen Stellung im Gefüge der §§ 44 ff SGB X voraus, dass eine ursprüngliche Rechtswidrigkeit vorlag, der Verwaltungsakt also bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 15 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 01. Juni 2006 – B 7a AL 76/05 R, RdNr 13 und Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, § 45, RdNr 31 mwN).
Diese Voraussetzungen für eine Rücknahme der Leistungsverfügungen sind den Bescheiden vom 04. November 2010 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 01. März 2011 allenfalls rudimentär zu entnehmen. Der Beklagte hat zur Begründung der Rücknahmen im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II gehabt habe, weil sie mit dem Zeugen M. eine Bedarfsgemeinschaft iSd § 7 Abs 3 SGB II gebildet habe. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauen berufen, da ihr die näheren Umstände ihres Zusammenlebens bekannt gewesen seien.
Diese – insoweit für den Beklagten offenbar – maßgebliche Begründung trägt indes nicht die Rücknahme der Leistungsbewilligung, weil es an einer entscheidenden Voraussetzung für eine solche Rücknahme fehlt. Notwendig für die Verneinung der Hilfebedürftigkeit ist in derartigen Konstellationen nicht nur das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft, sondern ebenfalls, dass innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ein ausreichendes zu berücksichtigendes Einkommen erzielt wird (§ 9 Abs 2 SGB II). Zur Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens hat der Beklagte aber keine Feststellungen in den angefochtenen Bescheiden getroffen und insbesondere nicht ein Auskunftsverlangen nach § 60 Abs 4 S 1 SGB II gegen den Zeugen M. eingeleitet, sondern nur ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass die Bedarfsgemeinschaft in der Lage sei, den notwendigen Lebensunterhalt aus dem vorhandenen Einkommen zu bestreiten. Jedenfalls hat der Beklagte zur Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens in den angegriffenen Verfügungen keine Feststellungen getroffen, keine Berechnungen vorgenommen und insbesondere keinerlei Ermittlungen vorgenommen. Dies war keine Feststellung aufgrund von Ermittlungen, sondern eine bloße Vermutung, auf die jedoch die Rücknahmeverfügungen nicht gestützt werden können (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 17).
b) Dass es Aufgabe des beklagten Jobcenters ist, alle Tatsachen zu ermitteln, die zum Erlass eines Verwaltungsakts notwendig sind, folgt aus dem in § 20 SGB X festgeschriebenen Untersuchungsgrundsatz, dessen Reichweite sich nach dem jeweiligen Gegenstand des Verwaltungsverfahrens richtet vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 18 unter Hinweis auf Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 20 RdNr 5). Es müssen somit alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Verwaltungsentscheidung wesentlich im Sinne von entscheidungserheblich sind. Ein Absehen von Ermittlungen ist nur zulässig, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, sie offenkundig ist oder als wahr unterstellt werden kann oder das Beweismittel unerreichbar ist vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 18 unter Hinweis auf Siefert, aaO, § 20 RdNr 15 sowie Luthe in jurisPK-SGB X, 2013, § 20, RdNr 13).
Dementsprechend durfte es der Beklagte bei seiner Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine Rücknahme der Leistungsverfügungen vorlagen, nicht dahingestellt sein lassen, ob und ggf in welcher Höhe Einkommen vorhanden war, das für die Deckung der Bedarfe der Bedarfsgemeinschaft ganz oder teilweise ausgereicht hätte. Es kam dann bei der folgenden Prüfung aber nicht darauf an, ob die Klägerin ihre Hilfebedürftigkeit darlegen konnte, sondern in der Rücknahmesituation war der Beklagte gehalten, die erforderlichen Ermittlungen zum zu berücksichtigenden Einkommen und der sich daraus ergebenden Folgen für die Hilfebedürftigkeit der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft anzustellen, wozu er zunächst das angesprochene Verfahren nach § 60 Abs 4 S 1 SGB II gegenüber dem Zeugen M. hätte einleiten müssen. Dies war auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Klägerin selbst Einkommensunterlagen des Zeugen M. vorgelegt hatte. Denn diese waren für den hier maßgeblichen Zeitraum – was der Beklagte übersieht – nicht vollständig und damit für die Ermittlung eines Leistungsanspruches nicht in ausreichendem Maße ergiebig.
c) Nach den allgemeinen Regeln für die Darlegungs- und Beweislast gilt, dass derjenige die objektiven Tatsachen darlegen muss, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Dies betrifft sowohl das Vorhandensein von positiven, als auch das Fehlen von negativen Tatbestandsvoraussetzungen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 20 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Oktober 1957 – 10 RV 945/55). Damit trägt der Beklagte nicht nur die objektive Beweislast für die belastende Rücknahmeentscheidung (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 20 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 13. September 2006 – B 11a AL 13/06 R, RdNr 18; Bundessozialgericht, Urteil vom 20. Oktober 2005 – B 7a/7 AL 102/04 R, RdNr 13 ff sowie Bundessozialgericht, Urteil vom 02. April 2009 – B 2 U 25/07 R), sondern er ist bereits im vorherigen Verfahrensstadium verpflichtet, die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Norm, auf die er seine Verwaltungsentscheidung stützt, zu ermitteln und entsprechend festzustellen, damit sich der Leistungsberechtigte im Verfahren mit seiner Argumentation auf die die Entscheidung tragenden Gründe einrichten kann.
Das ist auch deshalb nicht ausnahmsweise unbeachtlich, weil von Ermittlungen abgesehen werden konnte, da die ungeklärte Tatsache nicht oder nur unter unzumutbar erschwerten Bedingungen zu erreichen war. Vielmehr stand dem Beklagten gerade für Sachverhalte wie dem vorliegenden, die Möglichkeit zur Verfügung, sich zur Ermittlung des Vorliegens der tatsächlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs unmittelbar an den Dritten zu wenden. Der Beklagte kann auf der Grundlage des § 60 Abs 4 S 1 Nr 1 SGB II einen Verwaltungsakt erlassen und bei unterbliebener oder pflichtwidriger Erfüllung der Auskunftspflicht durch den Dritten die Rechte und Befugnisse nach den §§ 62 und 63 SGB II (Schadenersatz, Ordnungswidrigkeitenrecht) in Anspruch nehmen, zudem wäre ein vollstreckungsrechtlicher Zwangsgeldverwaltungsakt gemäß § 40 Abs 6 SGB II nach Erlass des Auskunftsverwaltungsakts gemäß § 60 Abs 4 SGB II zu erwägen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 21 unter Hinweis auf vgl Blüggel in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 60, RdNr 56 ff mwN).
d) Die Kammer war aufgrund ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG auch nicht verpflichtet, die vom Beklagten unterlassene Ermittlung des zu berücksichtigenden Einkommens als Voraussetzung für seine Rücknahmeverfügungen hinsichtlich der bewilligenden Verfügungen nachzuholen.
aa) Die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Verwaltungsakt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen (vgl § 54 Abs 2 S 1, § 103 SGG); die beklagte Behörde kann deshalb im Laufe des Gerichtsverfahrens neue Tatsachen und Rechtsgründe „nachschieben“ (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 ua unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 87/09 R sowie Bundessozialgericht, Urteil vom 21. September 2000 – B 11 AL 7/00 R, BSGE 87, 132, 139 = SozR 3-4100 § 128 Nr 10 S 87 f: nicht nur „Kassation“, sondern auch „Reformation“). Hinsichtlich eines solchen Nachschiebens von Gründen gibt es jedoch bei belastenden Verwaltungsakten, die im Wege der reinen Anfechtungsklage angefochten werden, Einschränkungen, wenn die Verwaltungsakte dadurch in ihrem Wesen verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 ua unter Hinweis auf BSGE 3, 209, 216; BSGE 9, 277, 279 f; BSGE 29, 129, 132; BSGE 38, 157, 159; BSGE 87, 8, 12; Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 189 ff).
Da die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts mit einer völlig neuen tatsächlichen Begründung dem Erlass eines neuen Verwaltungsakts gleichkommt, würde das Gericht anderenfalls entgegen dem Grundsatz der Gewaltentrennung (Art 20 Abs 2 S 2 des Grundgesetzes) selbst aktiv in das Verwaltungsgeschehen eingreifen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 9, 277, 280). Eine solche Änderung des „Wesens“ eines Verwaltungsakts, das in Anlehnung an den Streitgegenstand eines Gerichtsverfahrens bestimmt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 9, 277, 280 sowie Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl 2015, § 113 RdNr 69), ist ua angenommen worden, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird, zB bei einem Streit um die Höhe einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Laufe des Gerichtsverfahrens ein weiteres Element der Rentenberechnung vom Rentenversicherungsträger in Abrede gestellt wird (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 38, 157, 159; BSG SozR 1500 § 77 Nr 56), oder wenn auf eine andere Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden soll, die einem anderen Zweck dient (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 87/09 R, RdNr 16).
bb) Neben dieser Entwicklung der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber einerseits in § 41 Abs 2 SGB X die Heilungsmöglichkeiten für Verfahrens- und Formfehler der Behörde bei Erlass eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines gerichtlichen Verfahrens erleichtert (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Dolderer, DÖV 1999, 104 ff) und andererseits die Möglichkeit der Zurückverweisung vom Gericht an die Behörde eingeführt, wenn diese Ermittlungen unterlässt (§ 131 Abs 5 SGG), sowie dem Gericht das Recht eingeräumt, der Behörde die Kosten einer von ihr unterlassenen und vom Gericht nachgeholten Ermittlung aufzuerlegen (§ 192 Abs 4 SGG). Hierdurch sind die Heilungs- und Nachbesserungsmöglichkeiten der Behörde in formeller Hinsicht erweitert worden, während sie auf der anderen Seite ihre Ermittlungsarbeit nicht auf die Gerichte verlagern soll, weil diese für die materielle Entscheidung von zentraler Bedeutung ist und deren Kern und damit das Wesen des erlassenden Verwaltungsakts bestimmt. Ausgehend von diesen Konkretisierungen des Gesetzgebers und der zuvor dargestellten Rechtsprechung ist in reinen Anfechtungssachen das Nachschieben eines Grundes durch die Behörde regelmäßig unzulässig (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. Juni 2015 – 1 C 2/15, RdNr 14 f zur gesetzlich ausdrücklich angeordneten Pflicht der Gerichte zur Nachermittlung neuer Sachverhalte im Asylrecht), wenn dieser umfassende Ermittlungen seitens des Gerichts erfordert, die Behörde ihrerseits insofern keine Ermittlungen angestellt hat und der Verwaltungsakt hierdurch einen anderen Wesenskern erhält, weil dann der angefochtene Verwaltungsakt – bei einem entsprechenden Ergebnis der Ermittlungen – mit einer wesentlich anderen Begründung bestand hätte (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 190 f).
cc) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte erst das Gericht durch die Ermittlung des Einkommens des Zeugen M. die Grundlagen für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts legen können und hätte damit das Wesen der angegriffenen Rücknahmeverwaltungsakte verändert. Trotz des Zusammenhangs zwischen dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft und der Erzielung von Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs 2 SGB II handelt es sich nämlich um grundlegend verschiedene Prüfungspunkte, bei denen eigenständige Ermittlungen erforderlich sind, wie zB die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten nach § 60 SGB II zeigen. Es handelt sich also nicht nur um eine Ergänzung des Sachverhalts, auf den der Beklagte seine Entscheidung gestützt hat, sondern um die umfassende Prüfung einer weiteren Voraussetzung für die angefochtenen Rücknahmeverfügungen, die der Beklagte bisher nicht beachtet hatte und deren Prüfung und Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie von ihm durchzuführen war. Außerdem wären hierdurch die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerin erheblich erschwert worden, weil die gesonderte Prüfung der Rechtmäßigkeit des Auskunftsverlangens seitens des Beklagten gegenüber dem Zeugen M. hinsichtlich des auf der Grundlage von § 60 Abs 4 S 1 SGB II zu führenden Verfahrens entfallen wäre. Im Rahmen einer Anfechtungsklage der vorliegenden Art ist es Aufgabe des Gerichts, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde zu überprüfen, nicht aber die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts erst zu schaffen.
e) Wenn der Beklagte es danach zu Unrecht unterlassen hat, die objektiven Voraussetzungen der angefochtenen Rücknahmeverfügungen zu ermitteln und festzustellen, gilt Gleiches auch für die subjektiven Voraussetzungen. Obgleich dem Beklagten durch verschiedene Hinweise der Klägerin deren psychisch schwierige Situation bekannt gewesen war, hat er es unterlassen, den Sachverhalt auch in medizinischer Hinsicht weiter aufzuklären, was sich ihm mit Blick auf den von ihm gemachten Verschuldensvorwurf iSd § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 und Nr 3 SGB X hätte aufdrängen müssen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Kammer selbst den Sachverhalt medizinisch aufgeklärt hat. Denn die Klägerin hat gegen die Schlussfolgerungen im psychiatrischen Sachverständigengutachten substantiierte Einwendungen vorgebracht und der Kammer damit Anlass gegeben hat, weitere Ermittlungen anzustellen, die in Verfahren der vorliegenden Art – wie aufgezeigt – dem Beklagten oblegen hätten.
f) aa) Als selbständig tragende Erwägung kommt hinzu, dass der Beklagte die sich aus § 45 Abs 4 S 2 SGB X folgende Jahresfrist versäumt hat. Zwar beginnt die Jahresfrist – darauf hat der Beklagte im Ausgangspunkt zu Recht hingewiesen – nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts regelmäßig erst nach Durchführung der Anhörung nach § 24 Abs 1 SGB X (vgl Bundessozialgericht, Urteile vom 22. August 2012 – B 14 AS 103/11 R, RdNr 24; vom 06. März 1997 – 7 RAr 40/96 RdNr 26 und vom 08. Februar 1996 – 13 RJ 35/94, RdNr 33). Der Beginn der Jahresfrist setzt nämlich eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen voraus. Eine Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit setzt gemäß § 45 Abs 4 S 1 SGB X iVm mit § 45 Abs 2 S 3 SGB X regelmäßig und auch hier die „Bösgläubigkeit“ des Bescheidadressaten voraus. Daher liegt die sichere Kenntnis aller für die Rücknahme erforderlichen Umstände regelmäßig erst nach Vornahme der Anhörung vor, da diese es ermöglicht, die subjektiven Voraussetzungen der „Bösgläubigkeit“ zu überprüfen und Gesichtspunkte, die für die Ermessensentscheidung von Belang sein können, zu ermitteln. Regelmäßig beginnt die Jahresfrist bei einer Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit daher erst nach Durchführung des Anhörungsverfahrens nach § 24 SGB X.
bb) Dieser Grundsatz gilt aber – entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht ausnahmslos (in diese Richtung schon: Bundessozialgericht, Urteil vom 06. März 1997 – 7 RAr 40/96, RdNr 30). Hier löste nicht erst der Abschluss des Anhörungsverfahrens im Jahre 2010, also der Eingang der verschiedenen mündlichen und schriftlichen Äußerungen der Klägerin, den Beginn der Frist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X aus, sondern die Erkenntnis, dass der Zeuge M. trotz des angegebenen Auszuges im März 2008 auch weiterhin bei der Klägerin wohnt. Das grundsätzliche Abstellen auf das Anhörungsverfahren darf nicht dazu führen, dass die Behörde durch verzögernde Anhörung den Beginn der Jahresfrist hinausschieben kann. Entsprechendes gilt für die Ermittlung der für die Rücknahmeentscheidung erforderlichen Tatsachen (vgl Merten in Hauck/Noftz, SGB X, § 45, RdNr 153). Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X bezweckt die hinreichende Gewährleistung von Rechtssicherheit auch bezogen auf rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakte trotz genereller Möglichkeit zur Abänderung dieser Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit. Dies kann jedoch nur erreicht werden, wenn die Behörde gehalten ist, die (weiteren) Voraussetzungen für eine Rücknahmeentscheidung zeitnah zu ermitteln, soweit sie Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Ausgangsentscheidung hat. Die Behörde ist daher gehalten, sobald sie die Tatsachen kennt, die objektiv die Rechtswidrigkeit des Ursprungsverwaltungsaktes begründen, zeitnah und zügig die weiteren Voraussetzungen für eine Rücknahme des entsprechenden Verwaltungsakts zu ermitteln. Unterlässt es die Behörde länger als ein Jahr, die weiteren objektiven und subjektiven Voraussetzungen für eine Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X zu ermitteln bzw mit diesen Ermittlungen zumindest zu beginnen und eine Anhörung des Betroffenen durchzuführen, obwohl sie zumindest nicht unerhebliche Tatsachen, die die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes begründen können, kennt, so ist eine spätere Aufhebung des ursprünglichen Verwaltungsaktes durch § 45 Abs 4 S 2 SGB X gehindert (so zu Recht Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 19. November 2013 – L 7 R 3/11, RdNr 33ff unter Hinweis auf Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 11. Juni 1998 – L 5 KN 2/97 und Waschull in Diering/Timme/Waschull, § 45 SGB X RdNr 118).
Danach war die Rücknahme im vorliegenden Fall durch die angefochtenen Verfügungen vom 04. November 2010 nicht mehr möglich. Bereits mit dem Inhalt des Klebezettels, der nur von einem Mitarbeiter des Beklagten stammen kann und der wegen der dort verwendete Zeitform im zeitlichen Zusammenhang mit dem Eingang der Anmeldebestätigung im Jahre 2008 gefertigt worden sein muss, waren dem Beklagten bereits im Jahre 2008 nicht nur unerhebliche objektiven Tatsachen bekannt, die Voraussetzung für eine Rücknahme waren. Maßgeblich ist insoweit allein die Kenntnis von dem weiterhin vorliegenden Zusammenwohnen der Klägerin mit dem Zeugen M.. Hieraus und aus den Einkommensverhältnisses des Zeugen M. hatte der Beklagte auch im vorhergehenden Bewilligungsabschnitt bereits den Schluss gezogen, der Klägerin stünden wegen des zu berücksichtigenden Einkommens des Zeugen M. keine Leistungsansprüche zu (vgl insoweit den Aufhebungsbescheid vom 19. Februar 2008). Diese Kenntnis lag auch bei der für die Bearbeitung des „Falles“ der Klägerin zuständigen innerbehördlichen Stelle und damit auch bei der innerbehördlich für die Rücknahme- bzw. Aufhebungsentscheidung zuständigen Stelle vor. Zwischen der Kenntniserlangung der nicht nur unerheblichen Tatsachen, die zur Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung geführt haben – im April 2008 – und der Einleitung des Anhörungsverfahrens durch das Schreiben vom 20. Juli 2010 lagen deutlich über zwei Jahre, so dass die Jahresfrist bei Einleitung des Anhörungsverfahrens bereits abgelaufen war.
6. Wenn danach sämtliche Rücknahmeverfügungen rechtswidrig sind, sind die auf die Regelung der § 50 Abs 1 SGB X gestützten Erstattungsverfügungen ebenfalls mangels (rechtmäßiger) Aufhebung der Bewilligungsverfügungen rechtswidrig und aufzuheben. Gleiches gilt für die auf § 335 Abs 1 S 1 und Abs 5 SGB III gestützten Erstattungsverfügungen, weil es an einer (rechtmäßigen) Aufhebung einer Leistungsverfügung und Rückforderung der Leistung fehlt.
7. Da die Klägerin vollumfänglich obsiegt hat, entspricht es billigem Ermessen im Sinne des § 193 Abs 1 S 1 SGG, dass der Beklagte die der Klägerin entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden (§ 183 S 1 SGG), trägt.